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Das alltägliche Grauen

Wie bleibt man Mensch, wenn die Barbarei die Macht ergreift? Orlando Figes beschreibt in seiner ergreifenden, faktenreichen Studie
»Die Flüsterer« das alltägliche »Leben in Stalins Russland«

Von Thomas Hummitzsch

Der britische Historiker Orlando Figes holt in seiner neuesten Arbeit mit Hilfe zahlreicher Familiengeschichten den stalinistischen Terror aus dem Abstrakten ins Konkrete und macht es auch für den letzten Zweifler deutlich, welch zerstörerische Macht »Väterchen Stalin« auf die russische Gesellschaft als solcher, aber auch auf die einzelnen Menschen ausübte. Die individuelle Zerstörung des Menschen macht das Beispiel von Jelisaweta Delibsch anschaulich, die 1928 im sibirischen Verbannungsort Minussinsk geboren wurde. Während sie schon als kleines Kind mit ihrer Mutter von einem Arbeitslager ins nächste verschickt wurde, ereilte sie die Trennung von ihren Eltern im Alter von acht Jahren. Im Mai 1937 wurde ihr Vater hingerichtet, im November desselben Jahres ihre Mutter erschossen. Währenddessen wurde sie von einem väterlichen Verwandten zum nächsten gereicht, die ebenso nacheinander verhaftet wurden; zuerst ihr Onkel Grigori (April 1937), dann ihre Tanten Margo (Juli 1937) und Raja (August 1937). Über Tiflis kam Jelisaweta dann zu ihren mütterlichen Verwandten, die sie zu ihren Großeltern brachten. Jelisaweta kam mit dem Leben durch Stalins Russland, es blieb aber das Gefühl, verlassen und nicht gewünscht zu sein. Jelisawetas Schicksal ist nur ein Exemplarisches für Millionen russischer Geschichten.

Die Erzählungen und Urkunden von Familien wie den Simonows und Laskins, denen weite Teile des Buches gewidmet sind, den Golowins und Slawins, den Konstantinows und Delibaschs bilden die Grundlage für Figes Werk. Anhand der Erinnerungen der Überlebenden des stalinistischen Terrors, den Kenntnissen und Erinnerungen derer Kinder sowie den auffindbaren Familiendokumenten und -fotografien ist es gelungen, diese Familien wieder ins Leben zurückzurufen. In akribischer Arbeit hat sich Figes durch die Gesellschaftsgeschichte des Landes von 1917 bis weit in die sechziger Jahre gewühlt und dabei die ergreifenden Berichte zutage gefördert, die das schreckliche Leiden der Menschen einerseits, aber auch ihren unbändigen Willen zum Überleben andererseits aufzeigen. »Die Flüsterer« ist somit deutlich mehr als die sorgfältig recherchierte Historie eines Volkes. Das Buch ist überdies eine psycho-soziologische Forschungsarbeit, die nicht in den historischen Fakten verharrt, sondern nach dem Innenleben der Menschen, den Motiven und Antrieben ihrer Handlungen fragt. Dem Autor ist es gelungen, die unzähligen Stunden in Archiven und Bibliotheken, an den Küchentischen seiner Interviewpartner und an seinem Schreibtisch in einem kompakten Werk zu bündeln. Obwohl Figes aus unzähligen Dokumenten und Briefen zitiert, verfällt er nicht in das typische Bibliothekssprech des Historikers. Ungeschönt, prägnant, wenn auch zuweilen etwas zu detailverliebt präsentiert er die Ergebnisse seiner jahrelangen Recherche, deren Resultat zur richtigen Zeit erscheint, da – ähnlich wie die letzte Generation der Holocaustüberlebenden – auch die letzten Zeitzeugen der Stalin-Herrschaft sterben. Allein bis zur Veröffentlichung seines Buches waren mehr als 25 seiner Interviewpartner verstorben.

»Die Flüsterer« ist die Geschichte des individuellen Rückzugs hinter die Diktion, zunächst einer Partei, schließlich einer Person, wider die Vernunft. Ganz egal, wie verheerend die Linie der Kommunisten nach 1917 für Russland und die russische Bevölkerung war, sie wurde nicht laut, und schon gar nicht öffentlich, infrage gestellt. Die Vernichtung der russischen Bauernschaft im Krieg gegen die Kulaken war gleichbedeutend mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes, da die erfahrungsreichsten und fleißigsten Bauern diesem Feldzug zum Opfer fielen. Die »Entkulakisierungskampagnen« dienten einzig und allein dem Durchsetzen der dörflichen Kollektivierungsstrategie der Partei. Nicht dass dies niemand wusste, allein es zu sagen, und damit die Partei in Frage zu stellen, wagte niemand. Direkte Folge dieses kollektiven Schweigens war die Hungerkatastrophe von 1931/32.

Auf der individuellen Ebene stellte das rigide Vorgehen gegen die Bauern den Beginn der Zerschlagung der russischen Gesellschaft dar. Vor den Augen der schweigenden Freunde und Nachbarn mussten die zur Verbannung und Vertreibung verurteilten Kulaken ihr Hab und Gut verlassen und sahen es oft niemals wieder. Die Familienverbände lösten sich meist in den Weiten Russlands auf. Oft lagen tausende Kilometer zwischen den Lagern der Familienmitglieder, Frauen wurden von ihren Männern getrennt, Kinder von ihren Eltern, Geschwister voneinander. Großeltern sorgten oftmals für ihre Enkelkinder, während die eigenen Kinder in Arbeitslagern inhaftiert oder längst erschossen waren. Die Großmutter ist daher noch heute eine der Heldenfiguren in der russischen Gesellschaft, denn die wenigen Fäden einer Familie, die weiterhin existierten, liefen in den meisten Fällen bei den Großmüttern zusammen.

Den Aufbruch in eine vermeintlich bessere Gesellschaft erlebten wohl nur die Bewohner der sowjetischen Großstädte, in denen sich in den dreißiger Jahren enorm viel bewegte. So wurde bspw. in Moskau enorm viel gebaut und ungeahnte Karrieremöglichkeiten taten sich auf, wenn, ja wenn man eine saubere Weste hatte. Die parteipolitische Akkuratesse wurde durch die heraufziehende allgegenwärtige Überwachung und Verfolgung gesichert. Das so genannte kommunalka-System, d.h. das Leben in Gemeinschaftswohnungen, dehnte die staatliche Überwachung bis weit in den privaten Bereich aus. »Die Gemeinschaftswohnung war das häusliche Zentrum der sowjetischen Neidkultur, die sich angesichts ständiger Versorgungsengpässe wie von allein entwickelte«, erläutert Figes. Misstrauen, Hass und Niedertracht, so der Historiker weiter, führten dazu, dass schon nebensächliche Streitigkeiten und Eifersüchteleien in Anzeigen mündeten. Die Angst, selbst Opfer der Parteilinie zu werden und die Möglichkeit des persönlichen Nutzens führte also dazu, dass der Einzelne unter diesen Bedingungen bereitwillig zum Teil des Systems wurde.

Ein »echter Sowjet« konnte allerdings nur werden, wer sich dem Regime absolut anpasste und unterwarf. Dies erforderte nicht selten den vollkommenen Bruch mit der eigenen Biografie, um jeden Anschein eines Stigmas auszulöschen. Für die Generation der nach 1917 geborenen Russen war dieses Ideal des echten Sowjetbürgers in durchaus greifbarer Nähe; es erforderte allerdings oftmals die Distanzierung von den durch die Eltern vermittelten Werten und Maßstäben. Figes zitiert hier aus zahlreichen aufwühlenden und bewegenden Briefen verbannter Eltern an ihre Kinder, in denen sie ihnen in einer verzweifelten Geste die Abkehr von den elterlichen Werten und Normen nahe legen. »Vergiss uns nicht komplett, aber vergiss uns so viel wie zum Leben notwendig ist« spricht aus vielen der aufgeführten Briefe. Ein solch kollektiver Prozess der Loslösung von den einstigen Werten vollzieht sich geradezu im Alleingang, wenn ein Volk sich neu zu erfinden glaubt, wie dies das russische der zwanziger und dreißiger Jahre für sich beanspruchte. Da der Kommunismus und Stalinismus einen religiösen Status erhielt, bestand die einzige Sorge der jungen Generation gerade darin, von diesem gottgleichen Vertrauen aus persönlicher Schwäche abfallen zu können: »Die größte Angst hatten wir davor, den Kopf zu verlieren, von Zweifeln oder Ketzerei übermannt zu werden und unseren grenzenlosen Glauben einzubüßen.«

Ab Mitte der dreißiger Jahre vollzog sich in Stalins Russland ein Prozess, der die bewusste Verfolgung und Vernichtung »antisowjetischer« Bevölkerungsteile nur mehr ins Extreme steigerte. Im Zentrum dieser Politik standen nicht mehr offensichtliche »Verfehlungen« im Sinne der Partei, sondern tatsächliche und/oder empfundene oppositionelle Positionen zu Stalins Politik und Führungsstil. Dies zeigte sich an den mutwilligen Massenverhaftungen, den Schauprozessen und unzähligen Exekutionen in den Jahren 1937 und 1938. Figes führt die Zahl von 681.692 wegen angeblicher Staatsverbrechen Erschossener an, vermutlich sind es noch wesentlich mehr. Die Ziffern der im Gulag Inhaftierten schwollen auf fast zwei Millionen an. Was sich hinter dem unter dem Synonym des »Großen Terrors« bekannt gewordenen Gewaltausbruch verbirgt, ist nichts Anderes, als die verheerenden Auswirkungen der persönlichen Wahnvorstellungen des Despoten Josef Stalin, in jedem kritischen Unterton und jedem Stirnenrunzeln eine Gefahr für sich zu erkennen.

Das System des nun einsetzenden Terrors war simpel. Jeder Inhaftierte musste Bekannte und Verwandte denunzieren, tat er es nicht, wurden er oder nahe Verwandte solange gefoltert, bis Namen fielen. Dies war gleichbedeutend mit dem Todesurteil für den gefangenen Denunzianten und der Auftakt für weitere Verhaftungen, Verhöre und Exekutionen. Eine Welle des Terrors schwappte durch das Land, die ausgehend von der Parteiführung auf deren Basis, die staatlichen Behörden und die Gesellschaft übergriff. Stalin nahm tausende Opfer in Kauf, wenn damit auch nur ein »Spion« vernichtet werden konnte. Ein auf die kollektive Vernichtung ausgerichtetes System, wie die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen. Es wurde oft kopiert und bewies immer wieder seine schreckliche Effizienz, egal ob in Kambodscha, Ruanda oder auf dem Balkan.

Der generelle Spionageverdacht gegen ein ganzes Volk führte dazu, dass man in den Familien Sprachregelungen und Kodes entwickelte. Über Politik wurde meist gar nicht mehr, über Sorgen, Nöte und Probleme nur noch mit gedämpfter Stimme und hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Selbst Privatangelegenheiten wurden meist nur noch unter einer schützenden Decke ausgetauscht. Es entstand eine »Gesellschaft der Flüsterer«.

Als wäre dies nicht schon absonderlich genug, um eine Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern, wurden deren Mitglieder durch die Maßnahmen der Verfolgung, Verbannung und Vernichtung immer stärker auseinander gerissen. Fast eine ganze Kindergeneration wuchs getrennt von den eigenen Eltern in sowjetischen Kinderheimen und Kinderarbeitskolonien auf. Die Indoktrination des sowjetischen Wertekanons in diesen Heimen hatte zur Folge, dass die »Pflicht gegenüber dem Staat« zur obersten Maxime dieser Generation wurde und sich derlei Einrichtungen zu einmaligen Rekrutierungsstätten für die militärischen und geheimdienstlichen Organe des Staates entwickelten. Die Chance, sich derart wieder in den Staat einzugliedern – vom »Kind eines Volksfeindes« zu einem nützlichen Element im sowjetischen System »aufzusteigen« – nutzten viele, um sich ein neues (zweifelhaftes) Leben aufzubauen.

Auch der Zweite Weltkrieg eröffnete ungeahnte Aufstiegschancen. Einer, der diese unzweifelhaft genutzt hat, war der Journalist und Schriftsteller Konstantin Simonow. Er hatte es seiner verherrlichenden Kriegsberichterstattung zu verdanken, dass er zu »Stalins Liebling« unter den Schreiberlingen aufstieg. Vom Kriegsreporter zum zweifellosen Stalinisten und Nationalautoren bis hin zum Verleger kritischer Literatur nach Stalins Tod – eine seltsame Karriere, die Figes aus den Seiten seiner einzigartigen Arbeit aufsteigen lässt. Die Karriere Simonows und ihr symbiotisches Verhältnis zu Stalins Herrschaft, aber auch der andauernde Einfluss Simonows auf die russische Literaturwelt nach Stalins Tod macht Figes im Rahmen einer familienbiografischen Darstellung deutlich, der es auf beeindruckende Weise gelingt, die familiären Opfer dieser Karriere in den Vordergrund zu stellen.

Im letzten Drittel des Buches zeigt Figes, wie schwierig, ja geradezu unmöglich es war, die durch das Regime zerrütteten Familien wieder zusammenzuführen. Eltern legten nach ihren Entlassungen aus den Arbeitslagern oft mehrere tausend Kilometer zu Fuß zurück, um ihre Kinder nach jahrelanger Trennung aus den Heimen zu holen oder bei Verwandten aufzusuchen. Nicht selten erkannten weder die Kinder die eigenen Eltern noch die Eltern die Kinder. Längst tot geglaubte tauchten auf einmal wieder auf. Manch Partner musste erfahren, dass der geliebte Mensch, den er vor Jahren zurückgelassen hatte, inzwischen neu geheiratet hatte. Die romantischen Bilder, die sich die Zurückgebliebenen von den Wiederkehrern machten, wurden in den seltensten Fällen erfüllt, fielen oft erbarmungslos zusammen. Meist rückte früher oder später eine herbe Enttäuschung zwischen die Überlebenden der Lager und die Überlebenden des stalinistischen Alltags. »Eigentlich hatte ich ihm nichts zu sagen. Ich verspürte nicht mehr den Drang, ihm mein Herz zu öffnen … Ich hatte den Vater meiner Träume verloren«, gestand Galina Stein dem Autoren in einem Interview über ihr Verhältnis zu ihrem Vater nach dessen Entlassung aus dem Gulag. Darüber hinaus standen nun oftmals die Denunzianten denjenigen gegenüber, die sie vor Jahren verraten und diskreditiert hatten. »Nun werden die Inhaftierten zurückkehren, und zwei Russlands werden einander in die Augen sehen: das eine, das diese Menschen in ein Lager geschickt hat, und das andere, das zurückgekommen ist.«, schrieb die Schriftstellerin Anna Achmatowa und beschrieb damit treffend die unheimliche Atmosphäre der Rückkehr, die die allgegenwärtige Begleitmusik der Massenentlassungen nach dem Krieg spielte.

Zugleich fiel das Land nach Kriegsende in die alte Starre zurück. Die Angst vor der Verfolgung hatte die Menschen wieder im Griff. Der Schriftsteller Alexander Borschtschagowski führte dies auf die Haupteigenschaft der Unterwürfigkeit der Anhänger des Stalinismus zurück, die »sich nicht einmal den halboffiziellen Anweisungen der Bürokraten auf der untersten Ebene zu widersetzen vermochten.« Der alles erfassende Staatsterror ließ erst nach Stalins Tod am 5. März 1953 nach. Tatsächlich spürbar war die sich verbreitende »Tauwetter«-Atmosphäre jedoch erst nach der auf dem XX. Parteitag der KPdSU verkündeten Entstalinisierung durch dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow.

Der Personenkult um Stalin fand ein Ende, die innere Repression, das Gefühl, beschädigt und belastet zu sein, dauert bei den Überlebenden der Stalinzeit und deren Nachkommen bis heute an. Erinnerung oder gar Wiedergutmachung, Entschuldigung oder Restitution – zu große, fast zu hohle Worte für all das, was der britische Historiker Orlando Figes auf mehr als eintausend Seiten versammelt hat. Das Schicksal des Einzelnen, das gesammelte Leid und die erfahrene Ungerechtigkeit kann Nichts ungeschehen machen. Die Angst davor, noch einmal Leidtragender des längst vergangenen Regimes zu werden, hämmert weiter tief in den Herzen der Opfer. Das schlichte Maß der körperlichen und seelischen Erschöpfung, welches das Leben der Überlebenden des Stalinismus bis heute bestimmt, kann nicht mehr getilgt werden. »Die Machthaber wechseln, der Archipel bleibt«, wie Solschenizyn treffend schrieb. Dies gilt auch für die physischen und psychischen Schmerzen von Millionen Russen, die unverrückbar existent sind, jedoch bis heute in den meisten Fällen ignoriert und ins Dunkle verbannt werden. Diese Leiden können, nein, sie müssen aber gehört, anerkannt und respektiert werden. Dies macht Orlando Figes in »Die Flüsterer«. Er gibt den Millionen anonymen Opfern Stimme und Name zurück und lässt sie ihre »kleinen« Geschichten erzählen, die die große Geschichte erst greifbar machen.

Doch will man diese Geschichte des Grauens überhaupt greifen können? Dies ist wohl die falsche Frage. Die richtige Frage wäre, ob man dem Einzelnen ebenso gleichgültig begegnen möchte, wie dies die Maschinerie des Stalinismus getan hat! Ob man die Systematik des Umdeutens der Nachbarn und Freunde in Objekte von Folter und Massenmord und damit die finstere Seite der menschlichen Natur tatsächlich ignorieren möchte? Ob man dem Warum tatsächlich aus dem Weg gehen möchte? Nun, dies soll jeder selbst entscheiden, aber ohne die Antwort auf diese Frage, so die amerikanische Historikerin Anne Applebaum, »werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass wir nicht wissen, wer wir sind.«
 

Orlando Figes
Die Flüsterer
Leben in Stalins Russland
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Mit 133 S/W-Abbildungen und  Karten
Berlin-Verlag. 2008
1040 Seiten
34,00 €.
ISBN: 3827007453

 

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