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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Von der Möglichkeit des Lebens als Abenteuer«

Karl Heinz Bohrers
pralle »Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Es geht darum, den »Text« zu begehren.
(Roland Barthes)

Bücher, deren Vortrefflichkeit man zu preisen versteht, sind in Wahrheit bloß mittelmäßig, weil sich das Urteil stets über den Stoff erhebt und ihn auf diese Weise abwertet. Zu Karl Heinz Bohrers Büchern aber kann man immer nur hinaufblicken und muss sich seines eigenen Urteils schämen, weil es doch niemals Bohrer’sche Größe erlangt. Für seine autobiografisch angelegte Geschichte »Jetzt«, ein Dokument deutscher Kulturgeschichte der Nachkriegszeit, gilt dies in ganz besonderer Weise: Jedes Komma gleicht einer geschliffenen Marmorklippe, jeder Satz ist eine rhetorische Oase in der literarischen Wüste der Gegenwart. Bohrers Berichte aus den Schützengräben des Literaturbetriebs zeigen, wie Kritik als Waffe wirkt. Ihren Einsatz hat er selbst zur Meisterschaft gebracht. Auf über 500 Seiten lässt er diese Revue passieren – ein kaum zu beschreibendes Lesevergnügen.

Da sitzt der junge Bohrer zum Beispiel mit dem kaum älteren Jürgen Habermas bis nach Mitternacht zusammen. Sie trinken zu viel Rotwein, diskutieren über die Studenten, über Walter Benjamin, Robert Musil und den Surrealismus. Er nennt ihn schlicht den »Philosophen«, so wie die Denker der Spätantike und des Mittelalters – allen voran Thomas von Aquin – immerzu vom »Philosophen« sprachen, wenn sie den Begründer der Wissenschaftstheorie – Aristoteles – meinten. Diese Umschreibung brachte ihre Bewunderung für den großen altgriechischen Denker zum Ausdruck. Für sie war das, was Aristoteles schrieb, Philosophie schlechthin.

Bohrers Verwendung des Wortes »Philosoph« als Synonym für den Freund legt Analogieschlüsse nahe: Habermas als intellektuelles Vorbild, dessen Schriften für den drei Jahre jüngeren Bohrer maßgeblich sind? Bohrer wäre nicht Bohrer, empfände er lediglich Hochachtung für Habermas und sähe in dessen Büchern nicht auch stets die geistige Herausforderung, seine eigene ästhetische, von der Lektüre Ernst Jüngers inspirierte Theorie der Plötzlichkeit mit gewohnter Eloquenz gegen Habermas´ Sprachphilosophie in Stellung zu bringen: Habermas blieben, so Bohrer, ästhetische Phänomene verschlossen. Für die Kunst sei »der Philosoph« kaum von Interesse, seine normative Theorie tauge nicht für Diskurse jenseits von Gut und Böse, für Fluxus, Lyrik, Franz Kafka oder Peter Weiss, die die Phantasie dorthin trieben, wo die Diskursethik niemals hingelange: ins Unendliche.

Überhaupt sind die beiden Freunde selten gleicher Meinung. Auch 1989/90 in Sachen Wiedervereinigung: Bohrer plädiert für den Zusammenschluss von West und Ost, Habermas dagegen. Kleine Stellvertreterkriege werden geführt, bis Habermas ankündigt, für den Merkur keine Texte mehr zu liefern. Und wenn Bohrer den Provinzialismus der Bundesrepublik anprangert, entgegnet Habermas ihm, es sei besser langweilig zu sein als faschistisch. Zu allem Überfluss liefert sich an einem Silvesterabend auch noch Habermas’ Assistent in Bohrers Heim ein Handgemenge mit einem der anwesenden Gäste. Doch all dies verkraftet ihre Freundschaft mühelos, weil man zwischen Person und Sache zu trennen weiß.

Doch nicht nur die Erinnerungen an Habermas lassen die Geistesgeschichte Deutschlands und Europas in Bohrers Beschreibungen lebendig werden: Da gibt es das Rindswurstessen mit Thomas Bernhard in einer Kantine, bei dem Bernhard ihm beichtet, dass er bald sterben werde, gefolgt von Bohrers Einschüben über die melancholische Aggressivität der österreichischen Literatur, die niemand sonst so perfektioniert hat wie Bernhard.

Oder die Schilderung der kurzen Parolen auf gelben Verkehrsschildern von Bazon Brock. Legendär sind seine (heute zu Twitterperlen verkommenen) Essenzen, etwa: »Der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.«

Ab und an führt Bohrer Partygespräche mit Ulrike Meinhof, hält als Student bei Helmuth Plessner ein Referat über Hemingway, besucht mit Walter Haubrich Stierkämpfe in Segovia, bekommt Post von Carl Schmitt mit einem Lob für sein Buch »Gefährdete Phantasie« und zieht mit dem eigenwilligen Wolf Wondratschek (»Früher begann der Tag mit einer Schußwunde«) durch die Straßen. Skurril ist die Szene, in der er während seines Berufungsvortrags an der Universität Bielefeld von einem Kollegen mit einer Bierbüchse in der Hand angepöbelt wird. Auch die Episode, in der er von seiner zehntägigen Gefängnisstrafe wegen Beleidigung der Polizei erzählt, Tristan und Isolde im Mittelhochdeutschen liest und andere Insassen ihm seine Verbrechen beichten, hat einen ganz eigenen Charme.

Bohrer träumt von der »Möglichkeit des Lebens als Abenteuer«. Er reist durch die Welt, wohnt in Paris, London, New York. Er schreibt über Algerien und Spanien, das ihm zur Fundgrube für Seltsames, Unbekanntes, Fremdes wird. Und über das Theater, das Kino und das Internet, das er nicht nutzt (und deshalb diese Zeilen nie lesen wird, es sei denn, Sie drucken sie aus und schicken sie ihm zu). Er geht auch ins Stadion (Liverpool gegen Gladbach) und sitzt mit Susan Sontag oder Jacob Taubes, mit Norbert Elias, Karl-Otto Apel, mit Richard Rorty und Alexander Kluge zusammen. Er teilt Claus Offe ein paar rhetorische Ohrfeigen aus und empfindet es als ungenügend, mit nur akademischen Geistern verkehren zu müssen. Forschungen ohne Emotionen sind für Bohrer wie ein kalt gewordenes Mahl. Er hasst »fettklebrige Sprache« und liebt Camus. Vor allem aber liebt er die Zeit mit seiner zweiten Frau Undine Gruenter, die viel zu früh stirbt.

Seine Reflexionen reichen von der eigenen Studentenzeit bis zum islamistisch geprägten Terror unserer Tage. Immer geht es hierbei um den Augenblick, das Jetzt, die ungewöhnlichen Momente, die Bohrer in Auseinandersetzung mit Hölderlin und Montaigne in neun Kapiteln sammelt. In einem Monolog am Ende des Buches heißt es: »Nein, schreibe einfach Sätze auf über das, was du siehst und denkst, ohne jede begriffliche Einordnung als Gesehenes und Gedachtes. Solch ein Satz, der darauf wartet, gefunden zu werden, nur der enthält wirklich das neue Jetzt. Würde ich solche Sätze finden? Ich musste sie finden. Jetzt.«

»Jetzt« ist eine Mixtur aus Zeitgeschichte und Autobiografie, ein Panorama des Literaturmarktes und der Politik, ein Klagelied auf Deutschland, eine blasse Erinnerung an den Sex der Adenauerzeit und eine Abrechnung mit der Verformung der deutschen Universitätslandschaft (Drittmittel sind heute das, was in den 1970er Jahren Marxens »Kapital« war: das Vaterunser des Reaktionismus im Gewand der Revolution).

Dagegen steht Bohrers Lob der Plötzlichkeit, geschrieben aus der Perspektive eines irdischen Zeus, über allen Dingen schwebend, eloquent, beinahe allwissend, hin und wieder zweifelnd. Seine Idee von Plötzlichkeit erinnert an Roland Barthes punctum und Walter Benjamins Aura. Nicht nur inhaltlich bildet die Idee der Plötzlichkeit Schnittmengen mit dem punctum und der Aura: Barthes, Benjamin, Bohrer –  die intellektuelle Herausforderung, der Sprachduktus, die abenteuerlichen Geschichten sind es, die bestechen, und deren Vortrefflichkeit nicht angemessen zu würdigen ist.

Artikel online seit 28.03.17

 

Karl Heinz Bohrer
Jetzt
Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
Suhrkamp
542 Seiten
26,00 €
978-3-518-42579-4

Leseprobe

 


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