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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Verfluchtes Mexico

Antonio Ortunos wütender Roman »Die Verbrannten«

Von Wolfram Schütte

 

Bevor Flüchtlinge & ihre Schleuser die öffentliche Diskussion in Europa & speziell in Deutschland beherrschten, gab es sie schon andernorts auf der Welt. Gelegentlich haben wir davon immer wieder auf den Auslandsseiten der Printpresse gelesen; aber mit dem düstersten Kapitel des erst postum erschienenen monumentalen Romans »2666« des Chilenen Roberto Bolano, der 2009 auf Deutsch erschien, wurde der jahrelange Massenmord an mexikanischen Frauen in der Grenzstadt Ciudad Juarez »literaturfähig«. In Bolanos umfangreichem Epitaph für die bestialisch umgebrachten Frauen, von denen viele mittelamerikanische Migrantinnen waren, die wie ihre mexikanischen Mitopfer hofften, illegal in die USA gelangen zu können, hieß  die reale Stadt am Rio Grande Santa Teresa.

Santa Rita nennt der 1976 geborene mexikanische Schriftsteller Antonio Ortuno in seinem vierten Roman, der nun als erster & bislang einziger ins Deutsche übersetzt wurde, die fiktive Kleinstadt, in der das schmale Buch spielt. Santa Rita liegt im Süden Mexikos, wo Migranten aus Guatemala oder Salvador eingeschleust & ggf. im Kampf lokaler Banden gnadenlos massakriert werden. So wie die 40 Männer, Frauen & Kinder, die in einer Notunterkunft vorübergehend kaserniert sind. Sie werden von einer Bande, die unter den Augen der örtlichen Polizei mit Molotowcocktails und Maschinengewehren im Morgengrauen anrückt & die Eingesperrten hasserfüllt & sadistisch den kollektiven Tod bereitet. Ein »Jagdvergnügen«

Es sind diese »Verbrannten«, die dem ganz offenbar Bolanos Skandalisierung nachfolgenden Roman den Titel geben. Es mindert die Lektüre des Buches nicht, wenn man als Rezensent erwähnt, dass es nicht die einzigen auf diese Art Ermordeten sein werden. Denn die zwanzigjährige Yein, die dem Feuertod lebend & den Nachstellungen der Mörder entkommen war, hatte sich für alle ihre Demütigungen an den einträchtig saufenden Killern & Polizisten gerächt & sie auf die gleiche grauenhafte Weise verbrannt.

Es gibt noch eine Reihe anderer literarischer Motive, mit denen der junge Mexikaner offen auf das Buch seines chilenischen Vorbildes verweist. Ortuno kann solche Allusionen auf Bolano gefahrlos offenbaren, weil er weiß, dass er selbst originell genug ist, um dem gleichen, bzw. verwandten Sujet seinen eigenen literarischen Prägestempel aufzudrücken. Die 205 von Nora Haller übersetzten Seiten von »Die Verbrannten« offenbaren einen sehr bewussten Künstler. Obwohl dem Roman vermutlich bis in Details reale Vorkommnisse zugrunde liegen dürften, die mexikanische Leser wahrscheinlich sofort assoziieren (auch durch die Widmung), hat Ortuno sein Buch bewusst vielstimmig »komponiert«.

Die Alltäglichkeit der Massaker

Im »Auftakt« genannten ersten Kapitel, das einige Jahre vor der zentralen Haupthandlung spielt, wird die Sozialarbeiterin Gloria erschossen; und im letzten Kapitel verlassen wir die mit ihrer kleinen Tochter in die USA geflüchtete Sozialarbeiterin Negra, der die gleichfalls dorthin geflüchtete Mittelamerikanerin über den Weg läuft, die von Negras Mann während ihrer Abwesenheit als häusliche Sexsklavin wie seine Hündin gefangen gehalten hatte.

Zwischen dieser Ouvertüre & dem Ausklang erstreckt sich das weitgehend in Santa Rosa lokalisierte zentrale Erzählgelände. Der Autor durchmisst & evoziert es auf unterschiedliche Art & Weise – meist aber in Form der Inneren Monologe Negras & des »Kleingeists«. So wird der zynisch-sadistische Lehrer in der Metropole in dem Roman genannt, den seine Frau  Negra, mit ihrer kleinen Tochter eben verlassen hat, um als recherchierende Sozialarbeiterin für das lokale Büro der »Nationalkommission für Migration« (NkM) in dem Provinznest Santa Rosa das Massaker der 40 verbrannten Migranten aufzuklären – was ihr natürlich nicht gelingt.

Sie ist aber nicht die einzige, die das Massenverbrechen aufklären will. Dem Hauptstadtjournalisten  Luna wäre es womöglich gelungen, wenn er nicht plötzlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden, also beseitigt worden wäre. Mit Vidal, dem Leiter der lokalen NkM, die nach jedem Verbrechen die immer gleiche, kaum variierte »offizielle Version« des staatlichen  Bedauerns formuliert, beginnt Negra eine intime Beziehung. Guten Glaubens vertraut sie ihm am Ende die erschöpfte, bei ihr Schutz suchende Rächerin Yein an – ohne zu ahnen, dass Vidal der geheime Kopf der mafiotischen Gesellschaft Santa Rosas ist. Er prügelt Yein buchstäblich zu Tode, gewährt aber danach seiner bestürzt ihren fatalen Irrtum erkennenden Geliebten Negra einen Zwei-Tage-Vorsprung, um sich aus dem Staub zu machen. Sie will mit ihrer Tochter in den USA um Asyl nachsuchen & dann in den am weitesten entfernten US-Bundestaat fliehen, nachdem sie den »diversen simultanen Massakern, die wir Mexiko nannten«, glücklich entgangen war.

Die beiden »unscheinbaren« Frauen, die nichts voneinander wissen, obwohl sie beide (revoltierende) Opfer des selben »Kleingeists« sind, entkommen als einzige der sozialen, brutalen, korrupten mexikanischen Hölle, deren Ausmalung bis in das finsterste, Grauen & Ekel erregende biologische Detail sich das Buch vorgenommen hat & seinen Lesern zumutet. Z.B. diese Beschreibung der verscharrten Leichen eines der zahllosen Massaker: »Die Haut einer halb ausgegrabenen Leiche. Den aufgedunsenen Unterleib einer anderen, das von einem letzten Blutschwall rot glühende Gesicht. Eine fette, wurmstichige alte Frau, die aussah wie ein geplatzter Ballon. Das leere, ausdruckslose Gesicht eines zwölfjährigen Jungen, dem Blut aus den Augen gelaufen war. Alle beisammen, ein Berg aus Fleisch im Brachland, von einer Bande pfeifender Rotzgören ausgerottet, die wahrscheinlich noch nicht einmal Schamhaare hatten«.

Kühle Prosa, vor Empörung zitternd

Wie hier evozierende Beschreibung des nackten Grauens in kommentierende Reflexion übergeht, ist für den changierenden Stil des ganzen Buches bezeichnend. Nicht nur der wie in einem Drehbuch beschriebene nächtliche Individualmord, sondern die ganze erzählerische Kraft des mexikanischen Autors beruht auf der visuellen Suggestivität, mit der er uns das haarsträubende Geschehen vors Auge stellt – als laufe da ein furchteinflößender Horrorfilm ab, den ein sarkastischer Erzähler fortlaufend kommentiert.

Die kühle Prosa Antonio Ortunos protokolliert (wie schon Bolanos polizeidienstliche Feststellungen der verschiedenen Todesarten der ermordeten Frauen in »2666«) scheinbar mitleidslos die unermessliche Gewalt & die lächelnde Grausamkeit, den frauenfeindlichen Machismo & den gewöhnlichen Rassismus gegenüber den mittelamerikanischen Migranten im heutigen Mexico. Dabei glüht sie vor Wut - z.B. wenn der Autor, gewissermaßen vor Empörung zitternd, einmal kommentiert: »dass sie alle in diesem Land träumten, schnarchten, sich in ihren Betten drehten, ohne sich von ein paar Gräbern stören zu lassen, von ein paar niederträchtigen Massakern, ein paar Massengräbern voller Knochen, die ohnehin hauptsächlich Ausländern gehörten«.

Artikel online seit 20.11.15
 

Antonio Ortuno
Die Verbrannten
Roman
Aus dem Spanischen von Nora Haller
Verlag Antje Kunstmann
206 Seiten
19.95 €


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