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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Cyberdämmerung - »Alle Toten sind unschuldig.«

Thomas Pynchon erkundet in seinem Roman
»Bleeding Edge«
die Restspielräume einer nicht korrumpierbaren Literatur im 21. Jahrhundert.

Von Peter V. Brinkemper



 

Wie begegnet ein genuiner Verschwörungs-Schriftsteller, Thomas Pynchon, dem 11. September 2001 in New York? Sieht er sich mit den Ereignissen wie von außen konfrontiert? Steckt er mittendrin? Reagiert er darauf mit einer bestimmten literarischen Form? Findet er eine Balance zwischen Literatur und Realität? Wie geht er mit den Risiken von Realitätsverlust oder Unterwerfung der Literatur unter die Macht der Verhältnisse um? Gibt es eine Bedienungsanleitung für Verschwörungen, die Literatur im Restspielraum noch möglich macht, ohne sie auf neoliberale Planspiele zu reduzieren?

Das Wuchern der Conspiracy

Der Begriff der »Conspiracy« ist seit der Etablierung des Netzes derart aufgeladen und gewuchert, dass von Mal zu Mal, immer mehr Ebenen zu differenzieren sind. »Conspiracy« stammt aus einer eher nicht-literarischen, fast analphabetischen Welt der real geglaubten Fiktion, Projektion und des technoiden Grusels zwischen Allmacht und Ohnmacht jener, die irgendwann aus angeblich bestimmten Gründen auf die Idee kamen, Interpretation und Bedeutung von Botschaften und Symbolen seien neben kruden Fakten doch dass Fleisch in der Suppe des zusammengebastelten Realen. Wer heute auf Ebene 1 eine Verschwörung vermutet, wird bereits von Ebene 2, 3, 4 ... herab belächelt. Und heute hat man das Gefühl im Rahmen von Entstaatlichung und Globalisierung immer stärker unter den mächtigen Think-Tanks von Konzernen zu stehen.

Das digitale Zeitalter mit seinen technischen Möglichkeiten und der entfesselte Neoliberalismus haben zu einer immer weiter aufgehenden Schere zwischen Gier und Kontrolle, und zur Interpenetration staatlicher, öffentlicher und privater Räume und Instanzen geführt. Jeder kann jeden ausspionieren, überwachen, verraten, ausgrenzen, bloßstellen, anprangern, wichtige Informationen leaken und durch minimale Manipulationen bereits massiven Schaden anrichten. Bürokratisches, militärisches und technologisches Denken fördern die Annahme von Verschwörungen, empfindliche Schwächen in der Selbstgestaltung des eigenen Lebens, auch mangels ethischem, politischem und ästhetischem Denken. Es geht um individuellen und kollektiven Wahnsinn, oft hauchdünn voneinander getrennt. Mit Edward Snowden haben NSA, FBI und CIA eine flexible Gegenfigur bekommen, die den demokratischen Whistleblower der Watergate-Ära auf internationalem Niveau fortsetzt und den gleichgültigen oder wehrlosen Bürgern einen halbgeliebten, halbgehassten Ersatzhelden liefert. Der eindeutige Glaube an bestimmte Bezugsgruppen, politische Lager, an staatliche und gesellschaftliche Ordnungssysteme als Garanten einer einheitlichen Corporate Identity oder gar Weltdeutung ist dahin.

Verschwörung ist heute nicht mehr an die Übermacht oder Heimtücke einer staatlichen Geheimoperation oder einer bestimmten politischen Gegenverabredung zum Zwecke der Verwirrung und des Umsturzes gebunden. Verschwörung ist nicht lokalisierbar durch die einfache Ausgrenzung von anderen als Randgruppen und Sündenböcken aus der angeblichen Mitte eines ausbalancierenden, ach so guten Verfassungsschutz- und Homeland-Security-Apparates. Eben dieser arbeitet im Ernstfall auch jenseits der legalen Kontrolle in unübersichtlichen Befehlsketten und Teams, die sich vor lauter Eifer in den Gegner und in den kriminellen oder terrorverdächtigen Sumpf verkeilen und die Verfassung der Verfassung unterminieren.

Verschwörung als journalistische, politologische und literarische Kategorie von Wahrnehmung und Wahrnehmungsverstörung der Welt hat auch außerhalb von Shakespeares Historiendramen, Kafka-Romanen und Science Fiction seit Philip K. Dick derart an popkultureller Selbstverständlichkeit zugenommen, dass der Eindruck der überspannten, zurückzuweisenden Unterstellung und Phantasie immer stärker verblasst. Die unglaublichen Umstände der Inthronisierung und Ermordung von John und Robert Kennedy, die Widersprüche des 11. September 2001, insbesondere die Bevorzugung der Familie Bin Ladens durch die Bush-Regierung im Kontext der zunächst  fatalistisch hingenommenen Flugzeugeinschläge – all dies zeigt an, dass die Mechanismen von Schutz, Abwehr, Kontrolle, Desinformation, Verwirrung, aber auch Schock, gezielter Durchdringung, vereitelter Ermittlung und missglückter Verfolgung sogar in einer proklamierten Demokratie immer wieder gegeneinander ins Spiel kommen und ein unaufklärbares Informations-Chaos erzeugen, dass durch keine reguläre Interpretation von einer bestimmten Seite her befriedigend darstellbar ist. Nicht die Geheimniskrämerei, sondern die Flut der Möglichkeiten lässt verzweifeln und auch wieder seltsam glauben. Die scheinbare Offenheit wird zur Anstalt, zur neuen Kirche und zum Gulag. Die transnationalen und globalen Bezüge erzeugen weniger konkrete Dramen, spontane Katastrophen und unvorhersehbare Kriege, sondern langfristig absehbare Konfliktzonen und präventive Brennpunkte, die einen Mahlstrom von rasch  verbrauchten Denk-, Sprach- und Interpretationsmustern nach sich ziehen.

Mit dem Grad der anwachsenden technologischen Freiheit und Reichweite werden Bezüge und Behauptungen immer ortsfremder, ortloser, illusionärer, wahnwitziger und auch immer rapider vermutbar, Überlegungen, die früher als Aktenberge in den Safes und Schreddermaschinen der Behörden verschwanden. Der Bürger wird zum verlängerten Arm der Behörde, zum Anti-Spitzel, zum Apostel und zum Hochstapler in eigener Sache. Die Fiktionalisierung realer Ereignisse vor Ort und die potenzierte Selbst-Ausspähung, gleichgültig ob effektiv oder völlig sinnlos, werden durch den öffentlich induzierten Selfie-Ismus immer stärker spürbar, selbst durch den Schleier des verunsicherten und verwackelten Alltags hindurch. Wenn man so will, wird das oft stupide Katastrophenkino Hollywoods vor und nach dem 11. September 2001 in einer induktiven Schleife auf sich selbst appliziert.  Das Individuum wird zu seinem eigenen Gif und Fake.

Strategien der Literatur

Die Literatur kann ihre Seriosität, ohne langweilig und bieder sein zu wollen, in dieser Lage weder auf einfachen Realismus, noch sturen Konstruktivismus setzen. Jede Erzählgeste, die im Ansatz auktorial, märchenhaft oder symbolisch-interpretativ klingt, muss gedämpft und zurückgenommen werden. Is it real? Am I real? Die Autoren halten um des eigenen Schreibens willen von den Botschaften und Mechanismen der verschwörungstheoretischen Durchdringung der Lebenswelt einen gewissen Abstand und sondieren den Grad der potentiellen Penetration des Everday-Life. Zitieren sie den pseudoauthentischen Street-Jargon, das sogenannte Simple Life, so üben sie dabei auch lebensweltliche Sprachkritik. Zitieren sie die großen Erzählungen der Geheimdienste und die Logik der alten Plots, werden die alten Thriller nachempfunden. Beten sie das Internet-Bekenntnis des Silicon Valley nach, sind sie schnell der Lächerlichkeit der Web-2.0-Propaganda preisgegeben.

Der Titel »Bleeding Edge« ist also mehr als nur der Grenzbegriff einer Technology-Readiness-Level-Diskussion. Es geht nicht nur um Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit von Information, Technologien, Internet, Waffen, Flugzeugen, Politik. Es geht um das Gelingen und Scheitern von Literatur, Kultur und Gesellschaft; um die Belastbarkeit und Stabilität von Bedingungen, unter denen noch kritische literarische Formulierungen, Zusammenhänge und Perspektiven im heutigen ideologischen Dschungel möglich sind. Pynchons Roman erkundet die Restspielräume einer nichtkorrumpierbaren Literatur im 21. Jahrhundert. Und die Verwundbarkeit letzter unangepasster Figuren ist ebenfalls eines der zentralen Merkmale des Werks.

Literarische Dialoge sind Benutzeroberflächen mit vielen metaphorischen Einstiegsluken. Würde Literatur einen solchen Reflexionskreis und Schutzmechanismus vernachlässigen, fiele die Kunst mit dem ideologischen Pamphlet und Manifest der herrschenden, zwischen Euphorie und Panik gesteuerten Tagesmeinung von Regierungen und Unternehmen im Normal- und Katastrophenfall zusammen.

Aktuelles

Die derzeitige Kriegs-Katastrophen-Berichterstattung März 2015 über pazifische Flugzeug-Entführungen, grenzüberschreitende Abschüsse über der Ukraine und Burnout-Co-Piloten im verschlossenen Cockpit über Mitteleuropa macht deutlich: Die Abwehr von wichtigen Ereignissen und Horizonten, die Prägung von Normalität, Ausnahme und Bedrohung geschieht durch den exzessiven Gebrauch von entmischten Sprach- und Darstellungs-Funktionen, die vormals durch den häufigen Wechsel von Rollen und Sendeformaten als Facetten eines breiter angelegten Diskurses wirkten: Nun gilt: entweder – oder: nur Satire, oder nur Betroffenheits-Talk, oder nur einseitige Berichterstattung im Dienste bestimmter politischer und ökonomischer Interessen, oder nur Sportreportage als ausgleichender Kult des Unmittelbaren, des kapitalisierten Heimatlichen und völlig Unwichtigen. Die Fusion des Öffentlich-Rechtlichen in Show-Events, Privat-Schnulzen und Industrie-Sparten wird auf allen Kanälen weitergetrieben, hypnotisches Streamen erfolgt bis zur Bewusstlosigkeit. Das Medien-Dauer-Berieselungs-Bad wirkt als reine Monotonie wie die tief ätzende Säure eines endlosen Sprach-und-Bilder-Floskelbandes. Information und Bildung als Komponenten struktureller Aufklärung werden durch das permanente Schnell-Schnitt-Involvement von Unterhaltung auf allen Kanälen, längst auch im News- und Diskussions-Sektor, liquidiert. Dabei befinden sich die Medien längst an dem Ort, an dem ihr serieller Charakter immer Höhepunkt und Abbruch zugleich lokalisiert: dem Cliffhanger. Und eben da krallen sich die entmischten Medien mit aller monomanischen Ohnmacht fest, um den Absturz zu vermeiden und ihn doch zugleich in der Endlosschleife zu betreiben. 

Pynchons Antwort

In »Bleeding Edge« (englisch 2013, deutsch 2014) wird unter Aufbietung einer differenzierten Sprachgestaltung gezeigt, wie eine subkulturelle Medien- und Event-Landschaft in New York, noch geprägt vom Ende der 1990er Jahre, bei Frühlingsbeginn 2001 mehr schlecht als recht funktioniert. Die Gegenkultur einer wie auch immer freien Netzpolitik ist ermüdet, sie ist noch nicht im beginnenden 21. Jahrhundert aufgewacht, vielleicht wird sie gar nicht mehr aufwachen, sie ist von den enttäuschten Hoffnungen der New Economy und der abflauenden Euphorie des frühen Internets gelähmt und schleppt sich zwischen Alltag und Gelegenheitsaufträgen dahin. Im Hintergrund ballen sich globale Großtransaktionen zusammen, in denen es um Betrug, Korruption, Verrat, vor allem aber um schrankenlose Desinformation und Kontrolle durch die ganz Mächtigen im Staat und in den Konzernen geht.

Über eine der letzten Dotcom-Parties, mit dem Retro-Thema »1999«, einen Tag vor den Anschlägen, also am 10. September 2001, heißt es: Die »Dotcomblase«, »einst ein spektakulärer Ellipsoid«, hängt jetzt, nach der Krise 2000, als schlaffer Ballon »am zitternden Kinn der Ära«, eines Vor-Facebook-Zeitalters mit allen noch vorhandenen Provisorien des Internets. Man verkriecht sich in der Gegenwart, setzt auf »Instant-Nostalgie«, repetiert die »Neunziger-Jahre-Ironie«, die »ihr Verfallsdatum längst überschritten« hat, verwickelt sich im Subtext in »Verdrängung« als perversem Party-Vibe. Man produziert nicht mehr wegweisende, riskante Hochstimmung, sondern verbreitet längst eingetretene Enttäuschung. Der Übergang ins nächste Jahrtausend, das Ritual des »Y2K«, der posthistorische Millenium-Bug ist 2001 kein riskantes Neuland mehr, sondern ein Repertoirestück für Verlierer, das nochmals nachlässig mit allen dissonanten Nebentönen, vor allem der ökonomischen Flaute, aufgeführt wird. Es geht nicht mehr um die vermutete reine digitale Rampe und dem Schauder der Abenteuer und Abstürze von Programmen, Rechnern und Netzen. Aus der abgenutzten Zukunftsfeier wird eine Art weltweites »Aschenputtel«-Ball-Ende, das einst alle realen und virtuellen Ereignisse erfassen sollte, in Wahrheit aber selbst ein Kehraus, ein Abgesang in eigener Sache ist, die postdigitale Aufhebung apokalyptischer Vorhersage-und-Erwartungsmacht. Es ist die bittere Ironie am Ende, dass die Crash-Erfahrungen-und-Phantasien in der Folge von den realen Ereignissen überboten und niedergewalzt werden. (S. 382 f.)

Gezielt unspektakuläre Figuren und Dialoge wie bei William Gaddis

Die Einschläge der beiden Flugzeuge in die WTC-Türme erfolgen wenig später, gegen Ende des Romans, sie werden unspektakulär und unsentimental geschildert, aus dem Dialogfluss der Figuren heraus. Die Literatur beugt sich nicht pflichtgemäß dem Einschnitt sofort hochgepuschter Ereignisse. Sie konstruiert die Bedeutung aus der Sicht der ihrerseits alltäglich gekennzeichneten Personen und Individuen. Allerdings reagieren die Vertreter der subkulturellen Szene New Yorks sofort politisch und verschwörungstheoretisch mit unpatriotischen Aggressionen gegen die drastischen Parolen und Maßnahmen der George-W.-Bush-Regierung. Sie bieten einen Kommentar, der seinerseits aber nicht kanonisch daherkommt, sondern residual wirkt und sich nicht von der allgemeinen Mobilmachung anstecken lässt.

Die Distanz zwischen der Hinnahme der übermächtigen Ereignisse und ihrer heftigen Interpretation durch die roman-immanenten Figuren mit ihrem an William Gaddis erinnerndem, stellenweise hilflos-satirischem Endzeit-Gerede – das ist die entscheidende Leistung des Romans. Für die Roman-»Heldin« Maxine Tarnow teilt sich das Leben in die alleinstehende Mutter mit zwei schulpflichtigen Söhnen und ihre Tätigkeit als Privatdetektivin, die auf Finanzbetrug spezialisiert ist. Sie gerät in Kontakt mit zwielichtigen Nerds, Geeks, Studio-54-Veteranen, Borderlinern, Kriminellen, halbstaatlichen Agenten sowie Internet- und Finanzjongleuren. Und sie kommt, durch eine Kette aneinandergereihter Zufälle statt einer gründlichen Recherche, einer Verschwörung internationalen Ausmaßes auf die Spur, in der Betrug und Desinformation gleichermaßen die reale wie die virtuelle Welt durchziehen.

Deep City and Deep Web

»<<Erinnerst du dich, damals, 1996? TWA-Flug 800? Über dem Long Island Sound abgestürzt, und das amtliche Untersuchungsergebnis war so wischiwaschi, dass alle dachten, die Regierung steckt dahinter. Die Leute in Montauk sagen, es war eine von den Strahlenwaffen, die in einem geheimen Labor unter Montauk Point entwickelt werden. Manche Verschwörungen sind warm und tröstlich – wir wissen, wer die Bösen sind, und wollen sehen, wie sie dafür bezahlen müssen. Aber bei anderen ist man gar nicht so sicher, ob man wirklich will, dass es stimmt, weil die Wahrheit so böse, so weitreichend und umfassend ist.>>«  (S. 155)

TWA 800 war eine Boeing 747, die möglicherweise durch Treibstoffexplosion (mangels Isolation gegenüber heißlaufender Klimaanalage und einer daraus folgenden Leuchtspur beim Aufstieg am Himmel), oder weniger wahrscheinlich Raketenbeschuss oder Bombe zum Absturz gebracht wurde. Pynchon war in den 1960er Jahren technischer Redakteur bei Boeing. Damit kommen wir einer wenig beachteten Textsorte näher, aus der sich viele Dialoge und Situationen bei Dick und Pynchon speisen, der Bedienungsanleitung realer Objekte und imaginärer McGuffins, die zwischen Produzent und User vermittelt. Die Bedienungsanleitung impliziert, zwischen Semipoesie und instrumenteller Vernunft, alle Voraussetzungen für ein technoides Labyrinth und eine numerische Interpretation von Welt, Mensch und Prozessen und stellt ein Display dar mit trügerischer Übersichtlichkeit und einem unendlichen Spektrum von Möglichkeiten zwischen Gelingen und Fehlschlag, Eingeständnis und Dissimulation. Das ist die eine Ebene, die sachliche Unglücksmeldung mit allen erdenklichen Varianten und Kausalitäten. Dazu die Kombination mit dem gealterten Verschwörungs- und Ablenkungs-Diskurs über Aliens, Zeitreisen und MKULTRA, der den realen Flugzeugcrash als Opferung an den Fortschritt umdeutet und patriotischen Bodengewinn bringt. Bedienungsanleitungen, Faktenfragmente und Kultspuren wachsen zu einem byzantinischen Mosaik zusammen. Eine weitere Ebene ist die radikale Desillusionierung und Unterminierung New Yorks, vor allem als Handlungs- und Kultraum, der an den Rändern der bekannten Postkartenformate immer weiter nach außen und in die Tiefe wuchert, eine City mit ihren von Viertel zu Viertel merkwürdiger abgemessenen Blocks und Straßenzügen, Korridoren und Feuertreppen, und den historisch sedimentierten Müllhalden weitab von der Südspitze Manhattans, in den Nebengewässern des Kill van Kull der Nachbarorte Bayonne und Jersey City. Dieser Wucherungs- und Fäulnis-Vorgang ist auch in den innerstädtischen Krypten und Sanktuarien zu beobachten, so dem Tank einer grünlich angefärbten Glaskuppel eines alternden Hochhaus-Sportstudio-Pools, zugleich Treffpunkt, Tatort oder Leichen-Peep-Show-Kabine.

»Trotz diverser Versuche, irgendjemandes Vorstellung von Verschönerung umzusetzen, ist die Park Avenue für alle außer den chronisch Ahnungslosen die langweiligste Straße der ganzen Stadt. Sie wurde ursprünglich als eine Art vornehmer Deckel für die Eisenbahngleise zur Grand Central Station angelegt, also was soll sie schon sein, – die Champs-Élysées?« (S. 160).

Auch im Internet 2000/1 geht es darum, unter die matte Oberfläche zu tauchen und die in der Tiefe, im Deep Web, abgelagerten Schätze und Residuen benutzerfreundlich zu heben oder, wie Gabriel Ice, der CEO von Hashsligrz, Daten in Geheimdeponien zu versenken:

»<<HTML-Seiten alter Schule, was in diesem Fall hieß: <Heißer Tipp: Mit Lithium>, alles verschlüsselt, nichts, was irgendeiner von uns hätte lesen können. Ice wollte überall Robot-Meta-Tags – NOINDEX, NOFOLLOW, NONOTHING. Das dient eigentlich dazu, Seiten vor den Webcrawlern zu verstecken, so tief unten, dass sie sicher sind. Aber das hätte er intern machen können, in seinem Laden hingen mehr Nerd-Delinquenten herum als um einen Quake-Server.>> « (S. 203)

»Das Deep Web besteht angeblich hauptsächlich aus verwaisten Seiten und toten Links – eine endlose Mülldeponie. Wie in die Die Mumie (1999) werden eines Tages Abenteurer kommen und die Überreste uralter exotischer Dynastien ausgraben.« (S. 289)

Aber auch diese Vorstellung einer unberührten und doch zugänglichen und reich ausgestatteten Tiefsee erweist sich als zu offenes und zu romantisches Konzept vom digitalen Untergrund: »<<Dahinter ist ein unsichtbares Labyrinth aus eingebauten Beschränkungen, die dir zu manchen Seiten Zugang gewähren und zu anderen nicht. Es gibt verborgene Regeln, die du lernen und beachten musst. Es ist eine Mülldeponie, aber mit Struktur.>>« (S. 289) Pynchon bereitet Gibsons Cyberspace noch einmal auf, allerdings beraubt um die utopischen Hoffnungen der 1980er Jahre. Der Tiefenbrowser Deep Archer (Departure) ist bereits eine Art Disney-Version der visuell-interaktiven Jenseits-Führung durch den älteren informatischen Underground. »Ursprünglich ... hatten die Jungs vor, einen virtuellen Ort zu erschaffen, an dem man vor den zahlreichen Misslichkeiten der wirklichen Welt Zuflucht finden kann. Ein riesiges Motel für die Geplagten, ein Asyl, das mit dem virtuellen Nachtexpress von überall, wo es eine Tastatur gibt, erreicht werden kann.« (S. 99)

Deep Archer bleibt ein krisenanfälliges Instrument, die Zeit des paradiesischen Internet ist vorbei: »Dann hat die Sicherheitslücke, über die Lucas und Justin, offenbar aus gutem Grund, so besorgt waren, es nicht nur unwillkommenen Gästen erlaubt, sich einzuschleichen, sondern auch jemandem – Gabriel Ice, dem FBI, Sympathisanten des FBI, anderen, noch unbekannten Mächten, die ein begehrliches Auge auf die Site geworfen haben – Gelegenheit gegeben, eine Hintertür zu installieren. Und schon geht die Gegend den Bach runter – so einfach ist das.« (S. 449)

Politische Schnüffelei

Man glaubt es kaum: Die New York Daily News weiß über JFK’s Düfte zu berichten: >But not everyone remembers JFK smelling like the horse track. Just ask Mimi Alford, a 19-year-old White House intern who later claimed to have lost her virginity to the President. «Back in my room, after a shower to wash off the smell of his 4711 cologne, I thought: ‘So that’s sex?’” she wrote decades later in her memoir «Once Upon a Secret.”< (http://www.nydailynews.com/life-style/jfk-favorite-cologne-article-1.1523745)

Die politische »Tiefen«-oder-Oberflächen-Erklärung finden wir bei Pynchon:

»<<Genau, und vielleicht hat sich der junge Jack mal das Eau de Cologne seines Vaters ausgeborgt – in der Literatur findet man häufig solche Übertragungen vom Vater auf den Sohn -, und von Kennedy senior wissen wir ja, dass er Hitler verehrt hat, da ist es doch ganz plausibel, dass er auch wie Hitler riechen wollte... Und wenn man dann noch bedenkt, dass in allen U-Booten von Admiral Dönitz’ Flotte andauernd 4711 versprüht wurde – bei jeder Feindfahrt wurden mehrere Fässer verbraucht – und dass Dönitz von Hitler persönlich zu seinem Nachfolger bestimmte wurde –>>« (S. 298)

Im Hintergrund dieser peinlich hautnahen olfaktorischen Kolportage steht zumindest die recht seriöse Information über brutale politische Austauschbarkeiten, wonach der aus zwielichtigen Mafia-Industrie-und-Bank-Geschäften in die Politik eingewanderte Joseph Kennedy auf dem begehrten Londoner Botschafter Posten landete und derart mit den britischen und deutschen Nazis fraternisierte, so dass Roosevelt und Churchill misstrauisch wurden und ihn bespitzeln ließen. So bekommt Süskinds »Das Parfum« in Superschnüffler Conkling Speedwell sein ironisch-politisches Gegenspiel.

Der Korridor der Bedrohung

Die Geschichten New Yorks, des Internets, der Medien und der USA verzweigen sich weiter, sie fransen aus an den Rändern ins unkalkulierbare, laufen ins Leere einer Fast-Jetzt-Zeit. The Fast and the Furious, Teil 1. Der Wahabitische Transreligiöse Freundschaftsfonds (WTF), CIA, Scholems Jüdische Mystik, der Mossad, Biggie Smalls, the Notorious B.I.G., und Tupac Shakur, die beiden toten Ikonen der East versus West Coast Hip Hop Fehde, auf Matrix anspielende Ray-Bans, die den Geist von Johnny Mnemonic ablösen. Bilder und Eindrücke ersetzen Argumente und Zusammenhänge. Maxine erreicht im Laufe ihrer Nachforschungen über Machenschaften der Computer-Sicherheits-Firma »Hashslingrz«, die mit den staatlichen Sicherheitsbehörden und ihrer windigen Außengeheimpolitik in dubioser Verbindung steht, eine postalisch angelieferte DVD aus dem »Innern der USA« mit dokumentarischen Aufnahmen von einem Hausdach NY West Side, unter einem typischen Wassertank »zwei Männer mit einer schultergestützten Boden-Luft-Rakete, vielleicht einer Stinger«, rückerworben auf dem afghanischen Waffenmarkt zwischen Mujaheddin und CIA, »und ein dritter, der die meiste Zeit in ein Handy mit langer Peitschenantenne brüllt« (S. 337). Die Kamera schwenkt immer wieder zwischen der Gruppe am Boden und den darüber am Himmel ziehenden Flugzeugen hin und her. Es werden Maschinen erfasst, aber es erfolgt kein Schuss. Auf einem benachbarten Gebäude montiert ein weiter Mann ein Sturmgewehr, um die angeführte Gruppe ins Visier zu nehmen. Staatliche Geheimagenten, Private Sicherheitsleute, Filmcrews, Terroristen, Aufwiegler und Rebellen?  Auf was wird hier gezielt? Mit wem wird hier kommuniziert? Geht es um unschuldige Passagiere und unschuldige Piloten oder eingeschmuggelte Piloten-Terroristen, denen man unerbittlich den Weg der Mission vorzeichnet und jede Kursabweichung per codiertem Sprechfunk untersagen und im angedrohten Kugelhagel und Raketenbeschuss blockieren wird? Findet hier ein Italo-Western der anderen Art statt, bei dem jeder jedem die Kanone an die Schläfe hält und doch den anderen für schuldig und verantwortlich erklärt? Und was passiert, wenn man dieses Machwerk in die Untiefen des Internet versenkt, es verbreitet oder umgekehrt nach seinen Ursprüngen und Verbindungen sucht?

Finale – das Ende der Conspiracy und die globale Ethik

»Downtown ist irgendwas Schlimmes passiert. <<Gerade ist ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht>>, sagt der Inder hinter der Theke.
<<Was, ein Sportflugzeug?>>
<<Eine Passagiermaschine.>>
O-oh. Maxine geht nach Hause und schaltet CNN ein, Und da sieht sie es. Aus schlimm wird schlimmer. Den ganzen Tag lang.« (S. 401)

Es folgt die Diskurspalette: der korrekte Patriotismus der Lehrer in der Otto-Kugelblitz-Schule; der Aufmarsch an Polizisten, Freiwilligen, Feuerwehrmännern und dubiosen Freiwilligen und Sicherheitskräften, oft verbunden mit entwürdigenden Festnahmen und Schikanen von fremd aussehenden Bürgern. Die offizielle Doktrin der Bush-Regierung in den Medien. Die wilden Spekulationen der Szene zwischen der Verwerfung einer viel zu naheliegenden islamistischen Attacke und der Unterstellung, die »verdammten Nazis in Washington«, setzten nun auf einen Staatsstreich nach dem Modell »Reichstagsbrand« (S. 402), und die kapitalistische Ersatzreligion der Invisible Hand werde als Verdrängungsapparatur aller anderen sozialen und religiösen Orientierungen forciert.

»Man müsste hoffnungslos paranoid sein, eine irrwitzig antiamerikanische Verrückte, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, es könnte vielleicht sein, dass die Ereignisse dieses schrecklichen Tages ganz bewusst gesteuert waren, um einen Vorwand für einen endlosen Orwell’schen <Krieg> und die Notverordnungen zu liefern, unter denen wir bald leben werden.« (so March Kelleher in ihrem »Altlinkentiradenmodus«-Blog,. S. 407 f.).

Und der Buddhist Shawn erklärt zum Moment der kollabierenden Türme und der Schuttwolke, die die Bürgerinnen und Bürger vor sich her treibt: »<<... das war der Augenblick, Maxi. Nicht der, der <alles verändert> hat. Sondern der, in dem alles enthüllt wurde. Keine große Zen-Erleuchtung, sondern eine Welle von Schwärze und Tod. Dieser Augenblick hat uns genau gezeigt, was wir geworden sind, was wir die ganze Zeit waren.>>

<<Wir leben von gestundeter Zeit. Wir wollen billig davonkommen. Wir denken nie darüber nach, wer dafür bezahlt, wer irgendwo anders auf engstem Raum mit anderen hausen und hungern muss, damit wir billige Lebensmittel haben, ein Haus mit Garten in einem Vorort ... Und alles, was die Medien uns anbieten, ist: Scha-luchz, all die unschuldigen Toten. Aber scheiß drauf. Weißt du, was? Alle Toten sind unschuldig. So was wie ununschuldige Tote gibt’s gar nicht.>>  (S. 429)

Zurück bleibt das aufgerissene New York, dessen veralteter digitaler Optimismus endgültig in der Staubwolke und dem Schutthaufen des WTC-»Immobilienvakuums« (S. 565) zerstoben ist. Oder doch nicht? Und im Subway-Tunnel erscheinen Maxine die Fahrgäste eines überholenden Zuges wie Puppen in »beleuchteten Schaukästen, einer nach dem anderen, wie eine Reihe von Wahrsagekarten, die vor ihr ausgelegt werden. Der Gelehrte, Der Unbehauste, Der Kriegerische Dieb, Die Heimgesuchte ...« lauter »Boten des Tages, ausgesandt von dort, wo die Dritte Welt des Jenseits ist und die Tage Stück für Stück und unter nicht gewerkschaftlich überwachten Arbeitsbedingungen hergestellt werden.« (S. 557)

Artikel online seit 31.03.15
 

Thomas Pynchon
Bleeding Edge
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt
26.09.2014
608 Seiten
ISBN 978-3-498-05315-4

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