Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 

 

Ilma Rakusa in Ljubljana

Von Dragan Aleksić
 

In der Abenddämmerung sitzt Ilma Rakusa auf einer Bank in der Čop Straße. Die neben ihr ausgestreckten Handflächen berühren die warmen Bretter. Eine große Ledertasche liegt rechts von ihr. Sie betrachtet die Tromostovje, Pešeren's Denkmal und die rote Fassade der Franziskanerkirche.
Die Blätter der beiden Apfelbäume rascheln bei jeder leichten Brise, welche den Geruch von Linden  aus einer der Nebenstraßen herbeiweht. Zu ihrer rechten steht eine große, runde Bar aus grünem Plastik um die sich einige junge Menschen versammelt haben. Sowohl die Mädchen als auch die Jungs trinken Bier.
Drei-vier Meter von ihr entfernt hört sie Stimmen, die sie drei Frauen zuordnen kann – zwei jünger und eine älter. Die Frauen verabschieden sich mit einem »adio«.
Einst erzählte ihr jemand in Serbien, dass er diese Art der Verabschiedung in Ljubljana eigenartig findet. Dieses »adio«. In Serbien sagt man »Auf Wiedersehen«, sowohl wenn eine längere Trennung folgt als auch wenn diese Trennung für die Ewigkeit ist.

Ilma betrachtet das ältere Mädchen und denkt sich dabei: »Einst war ich genauso: die gleichen schwarzen Haare – schwarz wie Teer – die gleiche Größe und Haltung, der Busen. Nur habe ich eine Stupsnase und ihre ist gerade.«
Damals hat sie sich ebenfalls so gekleidet: schwarze, fast flache Schuhe, schwarzer Rock, schwarze Bluse. Weißes Gesicht und weiße Waden. Ein aufgeknöpfter Knopf an der Bluse deutet die weißen Brüste an.
Vor langer Zeit sagte mal ein serbischer Schriftsteller zu ihr: »Hände sind für große Brüste gedacht. Die Lippen für kleine. Für mittelgroße, so wie es deine sind, beides. Ich könnte eine Brust streicheln und die andere küssen.«
»Du bist betrunken und redest Schwachsinn.«, sagte ich lächelnd zu ihm und richtete meinen Blick zum Boden. Er grinste. Er hob mit dem Finger ihr Kinn an und als sie ihm in die Augen sah, begann er zu singen: »Alles was ich vom Leben habe – etwas Hoffnung wenn ich betrunken bin.«
Das Handy läutet. Ilma nimmt es schnell aus ihrer Tasche: »Danilo?«
»...Nein, hier ist nicht Danilo...tut mir wirklich leid...hier ist nicht Kiš...« sagt eine männliche Stimme.
»Ach du bist es...verzeih mir...ich habe mich gerade eben nur an ihn erinnert, also...«
»Ich verstehe schon...es gibt ihn schon lange nicht mehr....sag mal, wo habe ich dich diesmal angetroffen? Bist du gerade in Zürich oder irgendwo anders in der weiten Welt?«
»Ich bin in Ljubljana. Auf einer Bank in der Čop Straße.«
»Siehst dir Pešeren, Tromostvoje und die jungen Menschen an?«
»Genau. Warst du schon einmal in Ljubljana?«
»Ich war einmal vor langer Zeit da. Für ein paar Tage. Auf dieser Bank habe ich das Lied »Den Burschen kommt der Abend« geschrieben. Ich sollte es suchen und dir in den nächsten Tagen zusenden. Ja, das werd ich machen, bevor ich geh'...«
»Wohin gehst du?«
»...ich weiß nicht wie es dort aussieht wo ich hingehe...ich habe dich angerufen um dir zu sagen, dass ich mich in naher Zukunft nicht mehr melden werde und dass du mich nicht mehr auf dieser Nummer erreichen wirst können...«
»Wieso?«
»...Ilma...«
»...Oh Gott...bist du krank?«
»..Ja...ich gehe...dort....irgendwo...«
»...Kann ich dir denn irgendwie helfen?«
»...Ja, du kannst...wenn dich jemand anruft, dann sag doch anstatt »Hallo« oder »Ja, bitte« meinen Namen...manchmal«

Ilma Rakusa sitzt alleine auf der Bank in der Čop Straße, in Ljubljana.
Langsam beginnt die Nacht ihre Haare und den Schmerz auf ihrem schönen Gesicht zu bedecken. Die Tränen, die sich über ihre Wangen ergießen.
Sie flüstert: »Den Burschen kommt der Abend...den Burschen kommt der Abend...den Burschen kommt der Abend.. den Mädchen...«

Übersetzt von Tamara Kračun

Artikel online seit 22.12.15

 








Ilma Rakusa auf dem Erlanger Poetenfest 2009
GNU Free Documentation License, Version 1.2

Die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Ilma Rakusa ist ein intellektuelles Literatur-Multitalent. Sie widerlegt die These, dass Literaturwissenschaftler und -kritiker nicht selber Literatur schreiben können. Am 2. Januar wird Ilma Rakusa 70 Jahre alt. Der Schriftsteller Dragan Aleksić hat ihr jetzt schon eine Hommage geschrieben. 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten