Man
kann diesen Film auf ganz verschiedene Weise ansehen. Einmal als eine
Familiengeschichte, die Geschichte eines Vaters und seiner sechs Kinder, die mit
dem Selbstmord der Mutter fertig werden müssen und deren große Prüfung darin
besteht, gegen den Widerstand des »bürgerlichen« Teils der Familie ihren letzten
Willen zu erfüllen, nicht auf einem christlichen Friedhof, sondern nach
buddhistischem Ritual verabschiedet zu werden.
Diese
Geschichte ist mit einer Reise verbunden, die aus den Wäldern des Nordwestens,
einem Ursprungsort Amerikas, zurück führt in die Zivilisation, und unterwegs
gibt es ebenso dramatische wie komische Episoden (etwa wenn die Familie einer
Polizeikontrolle durch das schrille Absingen christlicher Kitschlieder entgeht).
Und diese Geschichte nimmt in aller ihrer Dramatik und Komik zu, je mehr man
sich dem Ziel, dem familiären Kern der Zivilisation, der man zu entkommen
trachtete, nähert. Es zeigt sich, dass Bens Kinder zwar außergewöhnlich befähigt
und gebildet, bei sozialen Ritualen und Kulturtechniken des Alltags aber auch
recht hilflos sind. Die Welt von Videospielen, Bigotterie und Pop-Mythen, von
Dating und Dach-über-dem-Kopf hat ihre Tücken und ihre Verführungskraft.
Womit wir bei der dritten Art sind, »Captain Fantastic« zu sehen, nämlich als
Versuch über die Möglichkeit eines alternativen Lebens. Denn Ben, bewundernswert
ambivalent dargestellt von Viggo Mortensen, begegnet uns als perfekte Mischung
aus Wildtöter und Bernie Sanders, aus Sehnsucht nach Rückkehr zur Natur und zu
den Wurzeln des amerikanischen Traums, und Lebensentwürfen marxistischer
Hippies. Komisch und tragisch zugleich wird das, weil es Ben und den älteren
seiner Kinder mit alledem wirklich ernst ist. Da ist es noch vergleichsweise
unproblematisch, wenn die Familie statt Weihnachten den Noam-Chomsky-Tag feiert,
weil es doch sinnreicher ist, einen lebenden Intellektuellen als eine tote
Legende zu ehren, und auch, dass man Tiere, die man essen will, selber töten
können muss, mag sich im Walden-haften Paradies der Familie durchaus verstehen.
Aber schon, dass der Reiseproviant durch einen familiären Supermarkt-Raub
aufgestockt wird, wird sich später als gefährliche Grenzüberschreitung erweisen.
Der Autor und Regisseur von »Captain Fantastic«, Matt Ross, ist selber in einer
Kommune aufgewachsen, was den so liebevollen, aber ganz und gar nicht
verklärenden Blick erzeugt. Nicht nur das macht den Film zu einem interessanten
Widerpart von Thomas Vinterbergs »Die Kommune«: Hier wie dort wird das Bild der
alternativen Lebensweise durch eine kindliche Perspektive vom allzu
Diskurshaften befreit. Dieser zärtliche Blick, die grandiose Landschaft und
nicht zuletzt die wunderbaren Schauspieler, auch und gerade in den Kinderrollen,
macht, dass man mitten drin im Geschehen ist. Und dass man deshalb alle diese
Widersprüche, die Widersprüche zwischen dem eher »rechten« Survival- und
Kampf-Ideal, den eher »linken« Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit, und den
eher »hippiesken« Verhaltensweisen von Offenheit und Ehrlichkeit (auch in
sexuellen Dingen, was dem Film in den USA prompt ein R-Rating einbrachte), aber
auch die Widersprüche zwischen der Selbstgerechtigkeit der Aussteiger und dem
Konformismus der Mainstream-Gesellschaft, weniger »vorgeführt« bekommt, als sie
gleichsam von innen heraus zu erleben.
Man erlebt, um es anders zu sagen, eine doppelte Vertreibung aus einem Paradies.
Durch den Tod der Mutter, die vielleicht ihrer psychischen Krankheit erlag,
vielleicht aber auch an den Anforderungen dieser privaten Utopie scheitern
musste. Der Vorwurf, dass Ben zumindest eine Mitschuld an ihrem Selbstmord
trägt, wird mehr als einmal erhoben. Und durch die Konfrontation mit einer
Gesellschaft, die zuerst einmal für Bens Familie genau so verrückt erscheinen
muss, wie die Aussteiger-Hippies den »normalen« Familienmitgliedern. Frank
Langella, in der Rolle des Schwiegervaters, der Ben abgrundtief hassen muss und
versucht, ihm die Kinder zu entziehen, bringt dasselbe Kunststück fertig wie
Viggo Mortensen: Er zeigt keine Rollenstereotype (als klassisch mieser
Kapitalistenchristenspießer etwa), sondern offenbart Widersprüche und
Verletzungen. Dass es nicht darum geht, die Guten gegen die Bösen auszuspielen,
das ist, wenn er schon eine bräuchte, die Botschaft dieses Films. Aber
eigentlich geht es darum, dass jede Vertreibung aus dem Paradies eine tief
traurige und herzlich komische Angelegenheit ist, und dass man, wenn man Mensch
sein oder werden will, gar nicht darum herumkommt. Bis in die letzte, ungeheuer
kunstvoll eingerichtete Einstellung bleibt die Schwebe erhalten. Zwischen der
Trauer um das verlorene Paradies und der Einsicht in die Notwendigkeiten der
Gesellschaft, zum Beispiel. Dieser Ben Cash, der hatte ja beides in sich, die
Weisheit eines leicht entrückten Philosophen und die Gefährlichkeit eines
fundamentalistischen Sektierers, einen Noam Chomsky und einen Unabomber. Dass
sich Ben schließlich so entscheidet, wie er es tut, ist eine Art Happy End. Auch
wenn vom Paradies nicht mehr bleiben kann als ein trauernder Blick aus dem
Fenster – oder die Frühstückslektüre eines Buches. Oder eben ein Film.
Artikel
online seit 20.08.16
Wir danken dem
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main
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Captain Fantastic
Einmal Wildniss und zurück
von Matt Ross, USA 2016, 118 Min.
mit Viggo Mortensen, Steve Zahn, Frank Langella, Missy Pyle, Kathryn
Hahn
Drama
Start: 18.08.2016
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