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Literatur und Zeitkritik


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Der Aufbruch aus den Wäldern

»Captain Fantastic« von Matt Ross


Von Georg Seeßlen

 

Man kann diesen Film auf ganz verschiedene Weise ansehen. Einmal als eine Familiengeschichte, die Geschichte eines Vaters und seiner sechs Kinder, die mit dem Selbstmord der Mutter fertig werden müssen und deren große Prüfung darin besteht, gegen den Widerstand des »bürgerlichen« Teils der Familie ihren letzten Willen zu erfüllen, nicht auf einem christlichen Friedhof, sondern nach buddhistischem Ritual verabschiedet zu werden.

Diese Geschichte ist mit einer Reise verbunden, die aus den Wäldern des Nordwestens, einem Ursprungsort Amerikas, zurück führt in die Zivilisation, und unterwegs gibt es ebenso dramatische wie komische Episoden (etwa wenn die Familie einer Polizeikontrolle durch das schrille Absingen christlicher Kitschlieder entgeht). Und diese Geschichte nimmt in aller ihrer Dramatik und Komik zu, je mehr man sich dem Ziel, dem familiären Kern der Zivilisation, der man zu entkommen trachtete, nähert. Es zeigt sich, dass Bens Kinder zwar außergewöhnlich befähigt und gebildet, bei sozialen Ritualen und Kulturtechniken des Alltags aber auch recht hilflos sind. Die Welt von Videospielen, Bigotterie und Pop-Mythen, von Dating und Dach-über-dem-Kopf hat ihre Tücken und ihre Verführungskraft.

Womit wir bei der dritten Art sind, »Captain Fantastic« zu sehen, nämlich als Versuch über die Möglichkeit eines alternativen Lebens. Denn Ben, bewundernswert ambivalent dargestellt von Viggo Mortensen, begegnet uns als perfekte Mischung aus Wildtöter und Bernie Sanders, aus Sehnsucht nach Rückkehr zur Natur und zu den Wurzeln des amerikanischen Traums, und Lebensentwürfen marxistischer Hippies. Komisch und tragisch zugleich wird das, weil es Ben und den älteren seiner Kinder mit alledem wirklich ernst ist. Da ist es noch vergleichsweise unproblematisch, wenn die Familie statt Weihnachten den Noam-Chomsky-Tag feiert, weil es doch sinnreicher ist, einen lebenden Intellektuellen als eine tote Legende zu ehren, und auch, dass man Tiere, die man essen will, selber töten können muss, mag sich im Walden-haften Paradies der Familie durchaus verstehen. Aber schon, dass der Reiseproviant durch einen familiären Supermarkt-Raub aufgestockt wird, wird sich später als gefährliche Grenzüberschreitung erweisen.

Der Autor und Regisseur von »Captain Fantastic«, Matt Ross, ist selber in einer Kommune aufgewachsen, was den so liebevollen, aber ganz und gar nicht verklärenden Blick erzeugt. Nicht nur das macht den Film zu einem interessanten Widerpart von Thomas Vinterbergs »Die Kommune«: Hier wie dort wird das Bild der alternativen Lebensweise durch eine kindliche Perspektive vom allzu Diskurshaften befreit. Dieser zärtliche Blick, die grandiose Landschaft und nicht zuletzt die wunderbaren Schauspieler, auch und gerade in den Kinderrollen, macht, dass man mitten drin im Geschehen ist. Und dass man deshalb alle diese Widersprüche, die Widersprüche zwischen dem eher »rechten« Survival- und Kampf-Ideal, den eher »linken« Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit, und den eher »hippiesken« Verhaltensweisen von Offenheit und Ehrlichkeit (auch in sexuellen Dingen, was dem Film in den USA prompt ein R-Rating einbrachte), aber auch die Widersprüche zwischen der Selbstgerechtigkeit der Aussteiger und dem Konformismus der Mainstream-Gesellschaft, weniger »vorgeführt« bekommt, als sie gleichsam von innen heraus zu erleben.

Man erlebt, um es anders zu sagen, eine doppelte Vertreibung aus einem Paradies. Durch den Tod der Mutter, die vielleicht ihrer psychischen Krankheit erlag, vielleicht aber auch an den Anforderungen dieser privaten Utopie scheitern musste. Der Vorwurf, dass Ben zumindest eine Mitschuld an ihrem Selbstmord trägt, wird mehr als einmal erhoben. Und durch die Konfrontation mit einer Gesellschaft, die zuerst einmal für Bens Familie genau so verrückt erscheinen muss, wie die Aussteiger-Hippies den »normalen« Familienmitgliedern. Frank Langella, in der Rolle des Schwiegervaters, der Ben abgrundtief hassen muss und versucht, ihm die Kinder zu entziehen, bringt dasselbe Kunststück fertig wie Viggo Mortensen: Er zeigt keine Rollenstereotype (als klassisch mieser Kapitalistenchristenspießer etwa), sondern offenbart Widersprüche und Verletzungen. Dass es nicht darum geht, die Guten gegen die Bösen auszuspielen, das ist, wenn er schon eine bräuchte, die Botschaft dieses Films. Aber eigentlich geht es darum, dass jede Vertreibung aus dem Paradies eine tief traurige und herzlich komische Angelegenheit ist, und dass man, wenn man Mensch sein oder werden will, gar nicht darum herumkommt. Bis in die letzte, ungeheuer kunstvoll eingerichtete Einstellung bleibt die Schwebe erhalten. Zwischen der Trauer um das verlorene Paradies und der Einsicht in die Notwendigkeiten der Gesellschaft, zum Beispiel. Dieser Ben Cash, der hatte ja beides in sich, die Weisheit eines leicht entrückten Philosophen und die Gefährlichkeit eines fundamentalistischen Sektierers, einen Noam Chomsky und einen Unabomber. Dass sich Ben schließlich so entscheidet, wie er es tut, ist eine Art Happy End. Auch wenn vom Paradies nicht mehr bleiben kann als ein trauernder Blick aus dem Fenster – oder die Frühstückslektüre eines Buches. Oder eben ein Film.


Artikel online seit 20.08.16

Wir danken dem Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main
 

Captain Fantastic
Einmal Wildniss und zurück

von Matt Ross, USA 2016, 118 Min.
mit Viggo Mortensen, Steve Zahn, Frank Langella, Missy Pyle, Kathryn Hahn
Drama
Start: 18.08.2016

 


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