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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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»Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus«

In seiner Schrift »Über Tyrannei« erteilt uns Timothy Snyder
»Zwanzig Lektionen für den Widerstand«

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Wer sich anderen blind unterordne, so Theodor W. Adorno bereits 1969, degradiere sich selbst und mache sich zum bloßen Material, denn er lösche sich als ein selbstbestimmendes Wesen aus. Eine nicht nur funktionsfähige, sondern ebenso lebendige Demokratie hingegen verlange den mündigen Bürger: „Die Konkretisierung der Mündigkeit“ bestehe darin, meint Adorno, dass ein „paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie“ auf eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand hinarbeiteten.

Man darf Timothy Snyders Buch über die Tyrannei durchaus als Aktualisierung einer solchen Erziehung interpretieren. In 20, mit zahlreichen historischen Beispielen gespickten, Lektionen führt er uns vor Augen, wie Widerstand heute – nicht zuletzt angesichts der Bedrohung der Demokratie durch Autokraten und Despoten – aussehen kann. Wir könnten aus der Geschichte lernen, versichert Snyder, und betont, wie wichtig es ist, zu verstehen, warum zum Beispiel gewöhnliche Menschen plötzlich mit Waffen an Todesgruben stünden, um andere zu erschießen.

Eine besondere Gefahr sieht er heute darin, dass wir die Wahrheit preisgeben: „Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus“, behauptet Snyder und attestiert der Gegenwart ein „intellektuelles Koma“. Die Rede ist hier vom so genannten postfaktischen Zeitalter, das aktuell durch die Medien geistert und zum Buzzword, wenn nicht gar zum Stilmittel der Polarisation, also zur Brandstiftervokabel taugt. Kennzeichen soll ein politisches Denken und Handeln sein, das auf Fakten nichts mehr gibt. Nicht die Wahrheit einer Aussage ist entscheidend, sondern ihr Effekt auf eine bestimmte Klientel. Das postfaktische Zeitalter lebt von Eilmeldungen und Breaking News, von Lügen, Ablenkungen und Verwässerungen, die dem Publikum gleichgültig sind. Entscheidend ist allein, ob die Gefühlswelt des Publikums befriedigt wird.

Wahrheit aber war noch nie klar dechiffrierbar. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schrieb hierzu kürzlich in der ZEIT: „Die Rede vom postfaktischen Zeitalter ist ein Symptom der diskursiven Selbstaufgabe von Wissenschaft, die eigentlich für die Erzeugung gesicherter, prinzipiell jedoch unvermeidlich vorläufiger Erkenntnis zuständig ist. Was bedeutet es, wenn selbst Wissenschaftler die Welt glauben lassen, man lebe in postfaktischen Zeiten? Es bedeutet, dass sie das Ringen um elementare Standards und das Rationalitäts- und Realitätsprinzip des Diskurses aufgegeben haben und dem vielleicht schärfsten Angriff auf ihr Selbstverständnis im Modus der resignativ-apokalyptischen Zeitdiagnostik Beifall klatschen. Der Begriff des Postfaktischen ist, so betrachtet, eigentlich ein ehrenrühriger Beschreibungsfatalismus, die verbalradikale Feier der eigenen Ohnmacht. Man formuliert ein Problem, eben den schwindenden öffentlichen und politischen Geltungsanspruch von empirisch gesicherter Erkenntnis, bereits als feststehendes Resultat für die Menschheitsgeschichte – und blendet aus, was sich tun ließe.“

Das Resultat? – Vorauseilender Gehorsam, Konformismus, Mitläufertum, Gleichgültigkeit, Phrasendrescherei, Lust am Spektakel, Ausschaltung der Vernunft, blindes Vertrauen in Autoritäten, Politikverdrossenheit, Hass und schließlich Rückzug aus der Öffentlichkeit.

Snyder betont dahingegen, wir benötigten wieder Vertrauen in Institutionen, müssten wählen gehen, an unser Berufsethos denken, auch einmal Nein sagen, Bücher lesen, Recherchieren, Kommunizieren und Verantwortung übernehmen. Geht hinaus auf die Straße und protestiert, ruft er (nicht allein) seinen Landsleuten angesichts der desaströsen Politik Donald Trumps zu.

Alles andere wäre eine politische Tragödie. Wie wahr!

Artikel online seit 18.04.17

 

Timothy Snyder
Über Tyrannei
Zwanzig Lektionen für den Widerstand
Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck Verlag
127 Seiten, Klappenbroschur
10,00 €
978-3-406-71146-6


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