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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Am 2. November 1975 wurde Pasolini in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen ermordet

Die Passionen des PPP

Erinnerung an den italienischen »Freibeuter«

Von Wolfram Schütte

 

C'era una volta – man ist versucht, zu dieser Eingangsformel zu greifen, wenn man von heute  auf die Zeit & das Italien Pier Paolo Pasolinis (1922/75) zurückblickt & es unternimmt, sich seine geistige Physiognomie vor dem Hintergrund der Medien & der Gesellschaft seines Heimatlandes & seine postume Präsenz in der Bundesrepublik Deutschland erneut vorzustellen. So märchenhaft fern erscheinen einem die Sechziger/Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, dass man meint, sich auf einer archäologischen Recherche tief durch die Erdschichten der europäischen Geschichte bohren zu müssen, um zu PPP zu gelangen.

Mir wurde unsere geistige & existentielle Entfernung von Pasolini schlagartig bewusst, als mir eine eigene Beschäftigung mit ihm aus dem Jahre 1984 jetzt wieder unter die Augen kam. Nichts mehr an dem damals, also vor nur 40 Jahren, entworfenen gesellschaftlichen & medialen Ambiente »stimmte« heute noch. Die Totaldestruktion des imaginierten literarischen Bildes Pasolinis in ihrer Zeit hat die »Furie des Verschwindens« bewirkt, die Silvio Berlusconi hieß. Viermal haben ihn die Italiener zwischen 1994 & 2011 zu ihrem Ministerpräsidenten gewählt.

Aber obwohl Silvio Berlusconi insgesamt kürzer als Benito Mussolini an der Macht war, hat er irreparabler & nachhaltiger Land & Leute, Kultur & Gesellschaft Italiens verändert als der faschistische Diktator. Namentlich konnte PPP den zwielichtigen Mailänder Unternehmer mit Mafia-Verbindungen, den Erfinder & Führer der Pseudopartei »Forza Italia« nicht kennen; aber seinen Typus & dessen politische Karriere samt den gesellschaftlichen Kollateralschäden, die daraus entstanden sind, ahnte (nur) PPP voraus. Nicht aber, dass es ein Italien vor & eines nach Berlusconi geben würde, die nichts mehr miteinander zu tun haben würden & noch viel weniger mit dem bäuerlich-archaischen Italien, dem Pasolinis Liebe galt, vor dem »Verschwinden der Glühwürmchen«.

So lautete einer von PPPs späten Essays, in dem er das Verschwinden der Glühwürmchen (durch die Industrialisierung & die Pestizide) auf die Fünfziger Jahre datiert hatte. Obwohl die Glühwürmchen realiter zurückgekehrt sind & der italienische Filmregisseur Giuseppe Tornatore seinen sizilianischen Witwer (gespielt von Marcello Mastroianni) ausgerechnet auf Besuch bei seinen Kindern in Mailand sie wiederentdecken lässt, ist es in unseren Tagen das drohende Verschwinden, bzw. Massensterben der Bienen, das nachhaltigere Folgen für unsere Agrarkultur hätte.

Ob die »Glühwürmchen«- Episode in Giuseppe Tornatores 1990 entstandenem Film »Stanno tutti bene« (Allen geht´s gut)  vom italienischen Publikum noch als kleine Hommage an Pasolinis vorausweisende ökologische Aufmerksamkeit verstanden wurde, mag dahin gestellt sein. Denn fünfzehn Jahre nach Pasolinis Tod hatten »Mani pulite« & »Tangentopoli« – also der öffentlich gewordene Skandal von jahrzehntelanger Korruption & kontinuierlichem Amtsmissbrauch der großen italienischen Parteien – zu einem politischen Tabula rasa geführt. Dabei waren nicht nur die Democrazia Cristiana (DC) & die Partito Socialista Italiano (die sozialdemokratische PSI) von der Bildfläche verschwanden (später ebenso noch die PCI), sondern auch der Name des einzigen italienischen Intellektuellen, der seit den Sechziger Jahren in zahllosen Essays, Polemiken & Berichten das  politische Sumpfgelände der italienischen Politik & Gesellschaft öffentlich gemacht & angeprangert hatte: Pier Paolo Pasolini.

Der Nachruhm Pasolinis in der Bundesrepublik basiert vor allem auf der Auswahl von »Freibeuterschriften«, die postum 1978 im Wagenbach-Verlag erschienen. Deren einzelne Artikel, Glossen & Polemiken waren zu Pasolinis Lebzeiten überwiegend in großen italienischen Tageszeitungen erschienen; nicht »versteckt« in den Kulturteilen, sondern auf deren ersten Seiten, wo ihnen dann auch (wenn nicht sogar in anderen Blättern) von Schriftstellern, Philosophen oder Politikern zustimmend oder abweisend argumentativ geantwortet wurde.

Obwohl fast alle der zeitgenössischen italienischen Autoren & Intellektuellen an diesen öffentlich ausgetragenen Debatten teilnahmen (z.B. Italo Calvino oder Umberto Eco) & sich auch Politiker wie der DC-Ministerpräsident Giulio Andreotti oder der Generalsekretär der italienischen  Kommunisten, Enrico Berlinguer, daran beteiligten, war PPP zu jener Zeit der versatilste, am kontinuierlichsten breit gestreut publizierende Intellektuelle nicht nur Italiens, sondern ganz Europas. Der französische Nachkriegsexistenzialismus (Sartre, de Beauvoir, Camus) hatte sich als ein Humanismus verstanden, der von Schriftstellern & Inetellektuellen – nach den Erfahrungen von Nazismus, Faschismus & Kollaboration – »Engagement« für Demokratie & gesellschaftliche Gerechtigkeit einforderte. Politik sollte nicht den Politikern allein überlassen bleiben, Intellektuelle als deren hervorragende kritische Widerredner in öffentlichen, publizistischen Debatten fungieren. Über Frankreich hinaus fanden die Existenzialisten in anderen demokratischen Ländern Nachahmer wie (z.B. bei uns) Andersch, Böll, Enzensberger, Frisch, Grass. In Italien hatte der marxistische Denker Antonio Gramsci den »organischen Intellektuellen« propagiert.

Man erkennt PPPs solitäre Rolle in dieser Zeit  so recht jetzt erst, nachdem Pasolinis zehnbändiges schriftliches Gesamtwerk vorliegt & seine publizistische Entwicklung ebenso erkennbar wie seine Biographie überschaubar ist - & das Modell des »engagierten Intellektuellen«, der er wie kein zweiter war, von den Heutigen selbst aus dem Verkehr gezogen worden ist.

Sichtbar wird beim Betrachten seines schriftlichen Oeuvres, wie sich der jungen Lyriker über den Romancier zum Drehbuchautor & Filmregisseur entwickelte, der das riesige Fragment seines »Petrolio«-Romans hinterließ, an dem er – vergleichbar intensiv & weit gespannt wie Musil mit seinem ebenfalls Fragment gebliebenen »Mann ohne Eigenschaften« – bis zu seinem Tode schrieb. Wie Joyce für den Weltalltag seines »Ulysses« sich an Homers »Odyssee« orientierte, so Pasolini für die Höllenfahrt seines »Petrolio« an der »Divina Commedia« Dantes (auf den der Poeta doctus Pasolini sich mehrfach in seinem Oeuvre bezieht).

»Petrolio« ist ein schwarzer Monolith der literarischen italienischen Moderne. Mit ihm überschreitet, bzw. sprengt Pasolini, wie zuvor in seinen anti-realistischen Filmen, das geschlossene Universum des realistischen Erzählens. »Petrolio«: das ist der selbstreflexive, multiperspektivische, fragmentarisch-essayistische Roman der »Offenen Form« (Umberto Eco), bei der Pasolini Zitat & Montage, Vision & filmische Szenografie einbezog oder es beabsichtigte.

Die visionäre Analytik des Literaten PPP erspekulierte sich hellsichtig, opak & imaginativ aus den ihm vorliegenden gesellschaftspolitischen Elementen der Siebziger Jahre das »Tangentopoli« der politischen Klasse, das erst rund zwanzig Jahre später öffentlich entdeckt wurde. Und ist nicht auch Berlusconi mitsamt seiner »Forza Italia« vorausgeahnt (oder sogar unsere Gegenwart unterm Diktat der Banken & Investmentfonds)? Z.B., wenn Pasolini 1974 als eine mögliche politische Zukunft Italiens imaginiert: »Eine Privatgesellschaft würde sich des Staates bemächtigen (womöglich mit der grundsätzlich stillschweigenden Duldung des Staates)«? Und dergleichen würde in aller Öffentlichkeit geschehen, weil »der schleichende Faschismus« des »hedonistischen Konsumismus« (Pasolini) qua Fernsehen dafür sorgen würde. Ist die mehrfache demokratisch sanktionierte Machtübernahme Berlusconis ohne seine Konformität befördernde Medienpolitik & die Propagandamaschinerie seiner Privatsender denkbar? Und hat PPP diese televisionäre Manipulationsmacht nicht bereits in den Siebziger Jahren vorausgeahnt?

Die fortlaufende »Begleitmusik« von Pasolinis poetischer Sendung, die den jungen Lyriker von ersten friulanischen Gedichten (1942) bis zum Autor-Regisseur des postumen Films »Salò« führte, war aber, seit er 1947 KP-Mitglied geworden war, das öffentliche Gespräch, das PPP immer mit seinen wechselnden Lesepublika suchte & pflegte – bis zu den großen Anklagen, Polemiken & Verwerfungen der Siebziger Jahre.

Von diesem streitbaren, journalistischen, öffentlichen Pasolini hatten wir jenseits der Alpen keine Ahnung, als man seine Leiche am 2. November 1975 grauenhaft verstümmelt, vom eigenen Auto überfahren, am Strand von Ostia fand. Seine Ermordung durch einen Strichjungen in einem öden, versteppten Gelände provozierte bei manchen die Erinnerung an den beiläufig-schockierenden Unfalltod  »Accattones« 

Mit dem gleichnamigen Film über Leben & Sterben des kleinen Zuhälters aus den Vorstädten Roms hatte Pasolini 1961 als Filmregisseur debütiert. Er gehörte von da an zu den bedeutendsten italienischen Filmregisseuren neben Antonioni, Fellini, Rossellini & Visconti. Seit damals waren  auch alle seine großen Filme regelmäßig bei uns in den Kinos (oder auch im Fernsehen) gelaufen – etwa das »Il Vangelo« (Das Matthäus-Evangelium«1964), das »dem Andenken Papst Johannes XXIII« gewidmet war oder die Brecht nahe komische Parabel »Große Vögel, kleine Vögel« (1965), die auch eine Trauerarbeit für den KPI-Generalsekretär Palmiro Togliatti war. Später dann z.B. »Teorema« oder seine »Trilogie des Lebens«, in der er deftige & zarte Erzählungen Boccaccios, Chaucers oder aus den orientalischen »1001 Nacht« verfilmt hatte und in einem selbst als der Maler Giotto auftrat.

Sein postumes Meisterwerk »Salò oder die 120 Tage von Sodom«, die filmische Analogie des Themas von »Petrolio«, wurde sogar zeitweise in der Bundesrepublik verboten. Obwohl seine beiden Borgate-Romane, in denen der Linguist die Sprache des römischen Subproletariats  literaturfähig machte, (»Ragazzi di vita«  & »Una Vita violenta«, 1955/59) im Kielwasser der Aufmerksamkeit für seine Filme bei uns erschienen, wenn auch folgenlos, waren aber das Bild & die Vorstellung, die wir uns von Pier Paolo Pasolini zu seinen Lebzeiten machen konnten, doch höchst fragmentarisch, verzerrt & schemenhaft.

Das lag nicht zuletzt daran, dass unser Kulturbegriff literarisch dominiert wurde, beschränkt im Wesentlichen auf das Theater & die Roman- & Erzählprosa; schon Lyrik & gar kulturpolitischer Essayismus gehörten zu seinen Randbezirken, wobei innerhalb dieser Genregrenzen auch noch die deutschsprachige Literatur, unabhängig von ihrer jeweiligen Qualität, übermächtig im Zentrum stand. Von den andern Ausdrucksmedien der Kultur – der Musik, den Bildenden Künsten & dem Film – führten so gut wie keine Vermittlungen zu der oft auch provinziellen literarischen Dominanz. Für jeden dieser Sektoren gab es zweifellos ausgewiesene Fachleute, kundige Kenner & Liebhaber; jedoch ein kritischer Austausch, eine allgemein-kulturelle Osmose fand zwischen ihnen kaum statt: weder unter Künstlern noch unter der Kritik.

Obwohl Pier Paolo Pasolini uns also durch sein filmisches Oeuvre bekannt, ja fast vertraut war & einige seiner eigenwilligen Filme durchaus kontrovers bei uns debattiert wurden, blieb deren Wahrnehmung denn doch im Wesentlichen auf die deutschsprachigen Cinéasten & die Filmkritik  beschränkt. Sie hat an diesen Werken das scheinbar Exzentrische oder Befremdliche ihrer Stoffe & Themen, das Skandalöse ihrer bis zum Zerreißen gespannten komplexen Poetik von Gegensätzen erkannt, kurz gesagt: das Neuartige & Andersartige, das über Fellinis barocke Opulenz, Viscontis melodramatisch-grandiose Opernhaftigkeit oder Antonionis kühlen phänomenologischen Realismus weit hinausreichte.

Aber die geistige Virulenz, das Skandalös-Häretische von Pasolinis paradoxalem, antipodisch-hybridem Denken & Leben, in dessen Umfeld seine Filme zu lokalisieren sind, war in unseren kulturellen Debatten nicht präsent, so dass ihre politisch-philosophischen Signalements schattenhaft blieben. Allenfalls tauchte sein Name, jenseits des Feuilletons, hin & wieder in den vermischten Nachrichten auf, wenn er mit einem Film oder einer Äußerung für einen Skandal oder gar einen Prozess gesorgt hatte.

Und das geschah häufig – seit er als praktizierender Katholik eine homosexuelle Handlung einem Priester gebeichtet & dieser unter Bruch des Beichtgeheimnisses das Geständnis des kommunistischen Mittelschullehrers im friulanischen Casarsa öffentlich gemacht hatte. Der Anklage »wegen obszöner Handlungen« folgte seine Entlassung aus dem Schuldienst & noch bitterer (für den Kreissekretär): der schimpfliche Ausschluss aus der PCI. Dennoch verstand sich PPP weiterhin & bis zuletzt als »Kommunist« & »marxistischen Intellektuellen«.

Die überstürzte Flucht von Mutter & Sohn (1949) aus dem ländlichen Friaul in die städtische Anonymität  nach Rom führte die beiden in extreme Armut & Isolation. Pasolini machte aber in den Armenvierteln der Vororte Roms, den Borgate, wo das Paar unterkam – auch aufgrund seiner pädophilen Neigung – prägende existenzielle Erfahrungen mit dem Subproletariat. Der knapp dreißigjährige Lyriker, der als Lehrer an einer Privatschule arbeitete, suchte noch andere finanzielle Einnahmequellen beim Rundfunk & in der Presse. Deshalb begannt er in Rom seine Tätigkeit als Kritiker & Essayist im Rundfunk & der Printpresse, arbeitete als Drehbuchautor in der florierenden italienischen Filmbranche, bevor er als Romancier des armen, kriminellen & gewaltförmigen Lebens in den Borgate sich sowohl einen Namen als auch durch seine authentisch-dokumentarische Prosa mit »Ragazzi di vita« (1955) Skandal machte & weitere Prozesse provozierte – öffentlicher Lärm bis zu seinem Lebensende.

»Ohne Gemeinsinn, ohne konkreten Bezug gibt es keine Rationalität«

»Wenn ich Ihnen sage, dass ich die Empfindungen eines verwundeten Tieres habe, das sich hinter der Herde herschleppt, so sage ich die Wahrheit«, klagte er einem Bekannten. »Der größte Teil des Hasses, den man mir entgegenbringt, rührt daher, dass ich anders bin. Ich spüre ihn, diesen Hass; es ist >Rassenhass<. Es ist der gleiche Rassismus, der sich gegen alle Minderheiten der Welt richtet«.

Ohne von seiner persönliche Vermutung zu wissen, wurde nach seiner Ermordung dieser Gedanke auch von der linken Frauenrechtlerin Maria-Antonietta Macchiocchi geäußert, die ihm nachrief: »Der Hass, der Pasolini von einer ganzen Gesellschaft entgegenschlug, hat sich in der Inszenierung eines Verbrechens verdichtet: einer öffentlichen Hinrichtung«.

Der enge Schriftstellerfreund Alberto Moravia pointierte: »Pelosi (der Name des Strichjungen) und die anderen waren der Arm, der Pasolini tötete, aber die Auftraggeber waren Trausende, im Grunde die ganze italienische Gesellschaft.«

Das sind bestürzende Behauptungen, die jedoch einiges für sich haben. Denn PPP hat die bürgerliche italienische Gesellschaft seiner Zeit mit seinem polemischen Temperament so gepeinigt, wie der (Sprach-) Satiriker Karl Kraus mit seiner »Fackel« einst die österreichische Presse & deren »Kulturbetrieb« – oder wie jener deutsche Philosoph, der Ende des 19.Jahrhunderts in seinen skandalösen Büchern »mit dem Hammer philosophierte«, die »Götzendämmerung« des Idealismus wie des Christentums ausrief & »die Umwertung aller Werte« verkündete.

Mit der geistigen, moralischen Radikalität Nietzsches & Kraus´ teilte der rückhaltlose italienische »Freibeuter«, der seine aufreizenden »Lutherbriefe« an die Öffentlichkeit seiner Gegenwartsgesellschaft richtete & sich mit seinen vielfältigen journalistischen Interventionen noch mehr als mit seinen Gedichten, Romanen & Filmen  bei allen Mächtigen und Ängstlichen unbeliebt machte, die mutige Einsamkeit eines häretischen Einzelkämpfers, der wütend & hoffnungslos gegen seine Zeit & Gesellschaft polemisierte.

Was Pier Paolo Pasolinis geistig-politische Haltung, die »immer radikal, aber niemals konsequent« (Walter Benjamin) war, jedoch solitär machte, waren die vielen Paradoxien & »Unvereinbarkeiten« seiner Thesen & Urteile, mit denen er sich quer zu den politischen Lagern positionierte. So verteidigte er die jungen (aus dem Proletariat stammenden) Polizisten gegen die revoltierende bürgerliche Jugend 1968, erklärte sich für das Fortbestehen des Abtreibungsverbots, obwohl die Linke gerade den »Sieg über die Reaktion« feierte, nachdem die säkulare italienischen Mehrheit in einem Referendum das klerikal unterstützte Abtreibungsverbot annulliert hatte & dann träumte auch noch (vergeblich, versteht sich) von einer aller Macht & allem  Prunk entsagenden katholischen Kirche, die er als Verbündete im gesellschaftspolitischen Kampf gegen den alles entsakralisierenden Neokapitalismus sich erhoffte. »Ohne Gemeinsinn, ohne konkreten Bezug gibt es keine Rationalität«, behauptete der Aufklärer Pasolini. Denn »ohne beides ist Rationalität bloßer Fanatismus« (& keine ethisch-moralisch wünschenswerte Haltung, füge ich hinzu).

Pasolini glaubte »nicht an die Göttlichkeit Jesu«, behauptete jedoch, dass seine »Weltsicht eine verstümmelt religiöse (ist)«. Obwohl einerseits rationalistischer Aufklärer, akzeptierte der Poet andererseits das Irrationale in seinem Leben, Denken & Empfinden. Seinem »Marxismus« fehlte der positive Akzent, den der hegelianische Dialektiker Karl Marx auf die »revolutionäre Rolle der Bourgeoisie« in der Weltgeschichte gesetzt hatte: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet«.

Was für Karl Marx eine unumkehrbar »radikale Entzauberung« (Max Weber) der bestehenden menschlichen Gesellschaft durch die bürgerliche Ökonomie bedeutete – deren Entfremdung & Inhumanität erst durch die »proletarische Revolution« aufgehoben werden könnte -, war in den Augen Pasolinis, der Zeuge der Industrialisierung des agrarischen Italiens wurde, auf allen Ebenen – Sprache, Kultur, Lebensweisen – ein katastrophaler Weg in die Homogenisierung & Konformität einer »neuen Massenkultur«. Von dieser »kulturellen Gleichschaltung« seien »alle betroffen: Volk und Bourgeoisie, Arbeiter und Subproletarier«, prognostizierte der Apokalyptiker, der sich nicht scheute, sowohl von einem Genozid des »Subproletariats« als auch von einer kulturellen »Mutation« der italienischen Gesellschaft zu sprechen. 

Wenn der österreichische Satiriker, Lyriker & Polemiker Karl Kraus als seine grundlegende geistige Intention behauptete: »Ursprung ist das Ziel«, so erklärte der Lyriker Pasolini (1962): »Ich bin eine Macht aus vergangenen Zeiten. / Nur in der Tradition liegt mein Liebe. / Ich komme von den Ruinen, von den Flügelaltären, / den Kirchen, / von den verlassenen Dörfern des Apennin und den Vorgebirgen der Alpen, / wo die Brüder einst lebten. / Wie ein Narr irre ich über die Tuscolana, / die Via Appia, wie ein Hund ohne Herr. / Oder ich schaue die Dämmerungen, die Morgen / über Rom, über der Ciociaria, über der Welt, / wie die ersten Szenen der Nachgeschichte, / deren Zeuge ich bin, dank dem Datum meiner Geburt, / vom äußersten Rand einer Zeit, / die begraben ist. Ein Monster ist, wer aus dem Leib / einer toten Mutter geboren. /  Und ich, erwachsener Fötus, irre, / ein Modernerer als die modernsten, / um Brüder zu suchen, die nicht mehr sind«.

Thomas Schmid, als Chefredakteur der deutschen Zeitschrift »Der Freibeuter« (1979/99), hat die Utopie ihres Namenspatrons im treffenden Paradox summiert, wonach Pasolini für eine vergangene Zukunft gekämpft habe. In diesem Paradox drängte sich die Grundstruktur von Pasolinis kinematographischer Poesie der Polarisierung zusammen, wenn er z.B. etwa für die »Barbarin« Medea, die ihre Kinder umbringt, gegen den »vernünftigen« Jason, diesen griechischen Imperialisten und »Dritte-Welt«-Eroberer, entschieden Partei ergreift. Es ist auch der Grundtenor seiner immer alarmistischer formulierten publizistischen Einsprüche gegen das zeitgenössische Italien.

Schon Pasolinis Entscheidung, Jesus zum zornigen Aufrührer der Bauern, Fischer & Tagelöhner zu erklären &  sein »Il Vangelo « (1964) nicht in Palästina, sondern überwiegend im ärmsten Landstrich des Mezzogiorno, in Lukanien, mit den dortigen Einwohnern zu drehen, war eine frühe Hinwendung zum »Bäuerlichen Universum«, dessen »Kultur der Armut und des Brotes« (Pasolini) erst rund 15 Jahre später von den Brüdern Taviani in »Padre Padrone«, Ermanno Olmi im »Holzschuhbaum« oder Francesco Rosi mit »Eboli« nachvollzogen worden ist.

Pasolinis Gegenwartsverwerfung

1973 schreibt Pasolini über ein staatliches Krisenprogramm: » eute, wo die austerity über uns zusammenschlägt, wird viel darüber gejammert, es fehle außerhalb der >bösen<  Stadtzentren, in den >guten< Peripheriegebieten (den Schlafsilos ohne Grün, ohne Infrastruktur, ohne Autonomie, ohne letzten Rest an menschlichen Beziehungen), an organisiertem sozialen und kulturellem Leben. Rhetorisches Gejammer. Denn gäbe es das, so wäre es jedenfalls vom Zentrum her organisiert. Von genau jenem Zentrum also, das innerhalb weniger Jahre sämtlich peripheren Kulturen zerstört hat, die dort – selbst in den ärmsten Vierteln und Elendsquartieren – bis vor kurzem noch sein eigenständiges und im Allgemeinen auch unabhängiges Leben garantiert hatten«.

Die phänomenologische Stimmigkeit von Pasolinis Wahrnehmungen & die Triftigkeit seiner eng verzahnten ökonomischen, sozialen & sogar anthropologischen Einsichten in den italienischen Alltag ist von einem deutschen Italienreisenden jener Jahre bestätigt worden. Der Dichter & Erzähler Rolf Dieter Brinkmann, der sich als »Villa-Massimo«-Stipendiat zu den Zeiten von Pasolinis großen Polemiken in Rom & dessen ländlicher Umgebung aufhielt & gewiss gar nichts von Pasolinis publizistischen Interventionen mitbekommen hat – er sprach & verstand kein Italienisch -, hat in zahllosen minutiösen Beobachtungen das Alltags-Italien seiner Zeit in seinem Riesen-Montage-Monolog »Rom, Blicke« fixiert. Das Buch erschien erst 1979 posthum.

»Kein faschistischer Zentralismus« behauptet Pasolini, »hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft hat. Der Faschismus propagierte ein reaktionäres und monumentales Modell, das sich jedoch nie real durchzusetzen vermochte. Die verschiedenen Sonderkulturen (die der Bauern, der Subproletarier, der Arbeiter) richteten sich vielmehr nach ihren überlieferten Modellen. Die Repression ging nur soweit, wie es zur Sicherung des verbalen Konsenses erforderlich war. Heute dagegen ist der vom Zentrum geforderte Konsens zu den herrschenden Modellen bedingungslos und total. Die alten kulturellen Modelle  werden verleugnet. Die Menschen haben nichts mehr damit zu tun. (…) Wie war es nur möglich, dass sich eine solche Repression durchsetzen konnte? Durch zwei Revolutionen: die Revolution der Infrastrukturen und die Revolution im Informationswesen. Die Straßen, die Motorisierung haben die Peripherie heute bereits eng ans Zentrum gebunden und jede wirkliche Distanz aufgehoben. (…) Mit Hilfe des Fernsehens hat das Zentrum den gesamten Rest des Landes seinem Bilde angeglichen, eines Landes immerhin, das unerhört mannigfaltig in seinen Geschichtsabläufen und reich an originären Kulturen war. Ein Prozess der Nivellierung wurde eingeleitet, der alles Authentische und Besondere vernichtete. Das Zentrum erhob seine Modelle zur Norm; und diese Norm ist nichts anderes als die der modernen Industrialisierung, die sich nicht mehr damit zufrieden gibt, dass der Konsument konsumiert, sondern mit dem Anspruch auftritt, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsum geben. Ein neosäkularer Hedonismus, der ahnungslos sämtliche humanistischen Werte vergessen hat und ahnungslos jeder humanen Wissenschaft entfremdet ist«.  

Das sind Kernsätze von Pasolinis Gegenwartsverwerfung. Von hier aus kommt er zur Kritik »eines Fortschritts ohne Entwicklung«, einer vorauseilenden Unterwerfung der Zukunft unter das Diktat des Konsumismus, der – permissiv & hedonistisch – zuerst die bäuerliche & proletarische Kultur, dann die kulturelle, regionale & sprachliche Vielfalt & Lebendigkeit des Alltagslebens vernichte, so dass z.B. die subproletarischen Straßenjungen der römischen Vorstädte, deren Dialekte der Linguist in seinen Romanen aufgezeichnet hatte, bereits zehn Jahre später ihn nicht mehr verstünden. Aber dieser unaufhaltsame Prozess der Uniformierung im lückenlosen Konsum, prognostizierte & prophezeite PPP, werde sowohl die Kommunisten als auch die Kirche in seinen Strudel reißen. Schon seien die politisch kontroversesten Menschen äußerlich  - in ihrer Kleidung, Körperhaltung, Frisur, Gestik & Sprechweise – nicht mehr voneinander zu unterscheiden & neben der »Verknöcherung des Sprachverhaltens« sei die Traurigkeit eines der Hauptmerkmale dieser Gleichförmigkeit in den Lebensäußerungen der Jungen: »was sich fröhlich gibt, ist stets übertrieben, zur Schau getragen, aggressiv, verletzend«.

Pathos des »anderen«

Pasolinis permanente Revolte – auch deren bewusste öffentliche Inszenierung – beginnt für ihn schon im ödipalen Konflikt, in dem der Sohn sich gegen den bürgerlichen Vater, einen Militär, auf die Seite der Mutter stellt. In seinem »analogischen Denken« bedeuten symbolisch der Vater:  Rationalität, Gewalt, »Vaterland«; während die Mutter, die aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, die Irrationalität, die Tradition & Poesie von Armut & Unschuld verkörperte: das agrarisch-religiöse »Mutterland«.

(Ich gebrauche diese Begriffe, um der Polarität symbolischen Ausdruck zu geben, PPP hat meines Wissens diese unterschiedlichen Konnotierungen nicht benutzt.) Aus der Spannung dieser beiden Pole entwickelte sich Leben & Werk des Poeten & Pädagogen.

Die eigene homosexuelle Veranlagung konnte er nur auf seinen nächtlichen »Jagden«, auf dem Strich (wie er es dem Freund Moravia gestand) am Römischen Tiber-Ufer, in Ostia oder auf seinen Reisen nach Afrika & Asien ausleben: im Geheimen. Diese stetige Erfahrung des Klandestinen, Peripheren verdichtet sich ihm zum Pathos des »anderen«, der einer prekären, bedrohten Minorität angehört – nachdem er sich in Rom entschlossen hatte, »dass ich weder jetzt noch in Zukunft Schamgefühle haben werde, wenn ich von mir spreche. Ich werde mich sogar öffentlich an den Pranger stellen müssen, weil ich einfach niemand mehr belügen will. (…) Schluss mit den Halbwahrheiten, man muss sich dem Skandal stellen!«

Das hat er getan.

Sein »mea res agitur« war mehr als Sartresches »Engagement« oder schneidende intellektuelle Enzensbergerische Ironie oder Kritik. Es war für Pier Paolo Pasolini immer zugleich auch »Körperpolitik« in dem Sinne, dass sich da ein Intellektueller nicht nur mit seiner Intelligenz & seinem Wissen, sondern mit seinem (sexuellen) Körper, buchstäblich mit Haut & Haar, in die Arena des öffentlichen Kampfs begab & als konkreter Mensch exponierte - wie jener  »brutal widersprüchliche« Jesus im aufrührerischen »Il Vangelo«-Film, von dem Pasolini bekannte, dass »die Christusfigur ganz von mir kommt«.

Der »durch Palästina streifende Christus ist ein revolutionärer Wirbelwind, manchmal ist er nicht nur rätselhaft, sondern macht einen fast verlegen« (Pasolini),  – ganz so wie  der durch den italienischen Blätterwald mit aufwirbelndem Furor streifende PPP es ihm auf seine Art als »Freibeuter« nachgemacht hat.

Was Pier Paolo Pasolini in den sechziger & siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus vielen Chiffren des alltäglichen Lebens oder aus politischen Optionen (wie dem von ihm heftig kritisierten Votum der Linken für die Entkriminalisierung der Abtreibung) als gesellschaftliche Tendenzkunde entzifferte; das Ungewöhnliche, ja Skandalöse seiner Fragen & Fragestellungen & das scheinbar Wider-Sinnige seiner Antworten oder Schlussfolgerungen; schließlich das Monströse seiner apokalyptischen Vision eines totalen, unwiderruflichen Scheiterns, das er am Bestürzendsten in seinem letzten Film »Salò oder die 100 Tage von Sodom« ästhetisch formuliert hat: das alles, samt seinen inhärenten Widersprüchen, seinen Grell- & auch Schiefheiten ist uns heute nahe auf den Leib gerückt.

Der so Vieles in statu nascendi erkannte & als gesamtgesellschaftliche Entwicklung vorausahnte, hat jedoch sich nicht albträumen lassen, dass die technologische Entwicklung zu einem Medium führen könnte, das alltäglich & allgewaltig das Versprechen kommunikativer Individualität mit der Möglichkeit subtilster kollektiver Kontrolle, bzw. Manipulation verbinden würde – & alle zu seinen Konsumenten machen würde.

Auch lag der folgenreiche Untergang des »Kommunismus«  (als »real existierender Sozialismus« wie als utopisches Modell) & der triumphale allumfassende  Aufstieg des »Konsumismus« als neoliberale »Religion« & als alltägliches »Regime« jenseits seines politischen Horizonts. Ebenso eine »Festung Europa«, die sich sowohl gegen eine  risikobereite Völkerwanderung aus Afrika & Asien wie auch gegen eine fundamentalislamische Ideologie  abzusichern versucht & dabei die letzten Reste ihres humanistischen Erbes aufzehrt.

Zu diesem Erbe gehörte auch einmal der Begriff & die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft. Pier Paolo Pasolini hat ihn uns noch einmal mit der Würde des Poeten & der Bürde des ganz auf eigene Gefahr & Verantwortung öffentlich handelnden Intellektuellen vor Augen gestellt. Es mag sein, dass er die Hallwirkung seines individuellen Widerspruchs überschätzte & er dabei manchmal eine lächerliche Figur machte – als Narr in Christo und Marx, als »seltsames Tier im Zoo«, wie er selbst sich einmal sah. Und es war wohl so, dass  das »Volk«, respektive das »Subproletariat«, für dessen Würde der Existenz er lange gesprochen hatte, doch den bürgerlichen Hedonismus suchte & dem Konformismus zustrebte, um der Armut & dem Elend endlich zu entkommen – wohin auch immer.

Man mag Pasolinis existenziellen, intellektuellen Programm sogar einen gewissen Narzissmus oder eine pathetisch-theatralische Märtyrerhaltung, ja eine egozentrische Manie unterstellen; auch besitzt das Vabanquespiel mit der eigenen Person gewiss sowohl selbstgenießerische wie masochistische Züge eines erwählten Entzückens an der Qual, sich der öffentlichen Schutzlosigkeit oder Geißelung auszusetzen; aber diese körperpolitische Passion drückt sowohl sinnlich als auch symbolisch jene offene, radikal gegenwartsbezogene & subjektive intellektuelle Haltung aus, die Pier Paolo Pasolini so einzigartig macht. Und im Zweifelsfall hat er sich eher für die leidenschaftliche, individuelle, momentane publizistische Einmischung entschieden, als für die künstlerische Sublimation in abgeschlossenen, »für die Ewigkeit« gedachten Werken. 

Pier Paolo Pasolinis ethisch-intellektuelles »Vermächtnis« könnten jene Worte am Ende einer Rede sein, die er wenige Stunden vor seinem gewaltsamen Tod geschrieben & nicht mehr gehalten hat: »Vergesst unverzüglich die großen Siege und fahrt fort, unerschütterlich, hartnäckig, ewig in Opposition, zu fordern: fahrt fort, Euch mit dem Andersartigen zu identifizieren, Skandal zu machen, zu lästern!«

Artikel online seit 02.11.15
 
 


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