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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Wider den »Übermut der Ämter«

Ken Loachs Verteidigung der menschlichen Würde: »Ich, Daniel Blake«

Von Wolfram Schütte

 

Wenn man sich einmal in die Lage der diesjährigen Cannes-Jury versetzt, nachdem man drei der herausragenden Filme des Wettbewerbs 2016 nun in unseren Kino sehen kann – (»Toni Erdmann«, »Patterson« & »Ich, Daniel Blake«) - wird einem die Schwierigkeit deutlich, einem davon die »Goldene Palme« zu geben. Qualitativ sind sie ästhetisch & geistig gleichwertig; obwohl der »Sieger«, Ken Loachs «Ich, Daniel Blake«, der »Konventionellste« zu sein scheint. Es ist der jüngste »Bericht aus dem Landesinnern« Großbritanniens, den der 1936 geborene Engländer über die prekäre Lage der Arbeiterklasse in dem erklärten Drei-Klassenstaat Großbritannien vorgelegt hat.

Neben dem Finnen Aki Kaurismäki & den belgischen Dardenne-Brüdern ist der Engländer Loach mit seinem gesamten Oeuvre doch der entschiedenste Adept des ursprünglich im Nachkriegsitalien u.a. von Rossellini, Visconti & De Sica entwickelten Neorealismus. Von Roland Barthes stammt die Definition des primär »moralischen Begriffs« des Neorealismus, der »genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft zu verbergen sich bemüht«. Also den Skandal von Ausbeutung, Armut & Demütigung am unteren Rand der kapitalistischen Gesellschaft.

Eben dies hat der achtzigjährige Ken Loach in dem jüngsten seiner meist nur mit kleinem Budget gedrehten Filme auch wieder im Blick. Stetiger als er  hat keiner der Italiener am ethisch-ästhetischen Konzept des »neorealismo« über das halbe Jahrhundert festgehalten, in dem Loach, immer erneut, seiner Heimatgesellschaft den Spiegel vorhält.

Eine vergleichbar intensive Auseinandersetzung mit der sub-bürgerlichen Sozialwelt & eine ähnliche (wenn auch melodramatischer akzentuierte) emotionale Anteilnahme am Leben & Sterben »der kleinen Leute« gab es zuletzt im Oeuvre Rainer Werner Fassbinders. Seit seinem Tod 1982 kennt der west- & seit der Wiedervereinigung der gesamtdeutsche Film die Lebenswelt unter- & außerhalb der bürgerlichen so gut wie gar nicht mehr. Wie ideologisch eng & schmal die Stoff-Basis unseres Films ist – auch das bemerkt man erst so richtig, wenn man auf das große, umfangreiche Oeuvre Ken Loachs blickt.

Die Abstrafung der Bedürftigen

»Ich, Daniel Blake« sprüht der knapp sechzigjährige herzkranke Arbeitslose an die öffentliche Wand der Sozialhilfe-Behörde in Newcastle. Wie der sprichwörtliche Hase war der verwitwete Schreiner zwischen den Igeln der britischen Bürokratien zuvor hin-& hergeschickt & gehetzt worden. Es sind gewissermaßen die lutherischen Thesen des Protestanten Blake wider »den Übermut der Ämter« (Shakespeare). 

Während die empörten Bürokraten die Polizei rufen, die den Sprayer festnimmt & wegschleppt, hetzen die Passanten kaum aufblickend vorbei & von der gegenüberliegenden Straßenseite applaudiert eine Gruppe von Playboy-Bunnies frenetisch dem Event des Verzweifelten; nur ein obdachloser Säufer solidarisiert sich mit Daniel Blake, der öffentlich anprangert, dass er nur als ein sperrig-störrischer Gegenstand & nicht als ein menschliches Ich von der Gesellschaft behandelt wird.

Ken Loachs fulminante Polemik gegen die von der konservativen Regierung verfügte »Behandlung« der »Sozialfälle« stellt einen energischen, selbstbewussten Mann in den Mittelpunkt einer ebenso diskreten wie lakonischen, immer aber sympathetischen Erzählung aus diesen Tagen, in denen nicht nur in Großbritannien einer schnell »unter die Räder« kommen kann, wenn ihn in vorgerücktem Alter eine schwere Erkrankung (wie einen Herzinfarkt) ereilt & aus dem jahrzehntelangen Arbeitsverhältnis wirft.

Daniel Blake (der Name lässt sowohl biblische als auch literatur-/geistesgeschichtliche Assoziationen zu) ist ein Handwerker, der weiß, was er ist, bzw. war. Er hat seine geistig verwirrte Frau bis zu ihrem Tode aufopfernd zuhause gepflegt & seine Arbeitskollegen bieten dem geschätzten Kollegen nun ihre Hilfe im Alltag an, da er arbeitslos & allein ist. Obwohl ihm seine Ärztin strikt verboten hat, wieder zu arbeiten (was er  doch so gerne möchte), wird er nach einer gespenstisch-autoritären telefonischen Abfrage von der anonymen »Gesundheitsdienstleisterin« für »arbeitstauglich« erklärt. Vermutlich hatte er deren Zorn erregt, weil er sich über ihre »blödsinnigen« Fragen negativ geäußert hatte.

Das britische Gesundheits-& Sozialhilfesystem, in dessen Labyrinthe & Mühlen Daniel gerät, erscheint ihm wie ein arroganter Goliath, der es darauf abgesehen  hat, ihn fortlaufend zu demütigen. Der Betroffene kann & darf nur elektronisch mit der Behörde kommunizieren. Wenn er anruft & über lange Zeit in der Warteschleife landet, muss er sein virtuelles Anstehen auch noch selbst bezahlen: Die öffentlichen Behörden »verdienen Geld mit obdachlosen Menschen in der Warteschleife!« empört sich Daniel.

Als er juristischen Widerspruch gegen den Bescheid einlegen will, wird er auf  das ihm bislang unvertraute Internet verwiesen: Orwell & Kafka geben sich da auf der Insel die Hand, in deren Schraubstock die Behörden den »einfachen Mann« haben & quälen. Und wenn der Bedürftige nicht widerspruchslos funktioniert & den Spießrutenlauf als Bittsteller nicht brav absolviert, wird er »sanktioniert«, was heißt: mit Leistungsentzug bis zur totalen finanziellen Austrocknung durch die allmächtige Behörde bestraft.

Bewahrter Stolz, stille Scham & insgeheim galoppierendes Elend

Ein lückenloses System paternalistischer Behandlung enthüllt Loach Zug um Zug, den der zunehmend wütender & aufsässiger werdende Daniel Blake im Kampf gegen den Moloch des Arbeits- & Sozialamtes führt. In ihm geraten selbst Angestellte, die nicht genug »sanktionieren« (statt zu helfen), auch  in Gefahr, von ihren Vorgesetzten überwacht & »sanktioniert« zu werden. Von oben getreten, treten die meisten gnadenlos nach unten. Aber auch unter ihnen gibt es einzelne, die Mitempfinden zeigen & Hilfe bieten.

Aber Daniel Blake, der sein ganzes Arbeitsleben in die Sozialkasse einbezahlt hat, ist nicht willens, sich vom »Übermut der Ämter« (Hamlet) kleinmachen zu lassen. Als er beim Arbeitsamt mitbekommt, wie der allein erziehenden Katie mit ihren zwei Kindern von den sturen Behördenangestellten mitgespielt wird, solidarisiert er sich mit ihr spontan & lautstark.

Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft des Kinderlosen mit der vaterlosen Kleinfamilie aus London, die man mit der Aussicht auf eine Wohnung in die Fremde, das mittelenglische Newcastle, verpflanzt hat. Ob sie mit ihrem Cockney-Dialekt überhaupt hier verstanden werden wird? Durch seine liebevolle Beschäftigung mit Katies kleinem Sohn überwindet er den Autismus des verhaltensgestörten Kindes.

Während aber Daniel monatelang auf einen Termin für seine Widerspruchsverhandlung wartet, wird er von der rigiden Behörde in Grund & Boden »sanktioniert« - bis er zuletzt gar keine Unterstützung mehr erhält, so dass er sich gezwungen sieht, seine Wohnungseinrichtung zu verkaufen, um überhaupt noch etwas zum Beißen zu haben. Aus Scham verheimlicht er seine galoppierende Armut vor Kollegen, die ihm helfen wollen & auch vor Katie, die er ja beim demütigenden Besuch einer Tafel erlebt, wo sie aus wahnsinnigem Hunger noch im Stehen eine Büchse aufreißt & mit ihren bloßen Händen deren Inhalt verschlingt.

Es sind solche ebenso drastischen wie eindrücklichen szenischen Momente, deren emotionale Intensität sich daraus ergibt, dass man als Zuschauer die rätselhaften Fakten, die Ken Loach mit dem Understatement eines lakonischen Erzählers in »Ich, Daniel Blake« montiert hat, erst nach & nach begreift. Der sinnliche Erkenntnisvorgang führt einen als Zuschauer ganz nahe an die intimen, be- & verschwiegenen Tragödien Daniels & Katies heran. Und die bitteren Erfahrungen des gewissermaßen aufrecht um seine Menschenwürde mit der gnadenlosen, grotesken Borniertheit der inhumanen Sozialbürokratie kämpfenden kranken Arbeitslosen wie der Zwang der schließlich in die Armutsprostitution getriebenen Katie, lassen einen ideell & virtuell an die Seite der beiden treten.

Das hat mit seinem illusionslosen Realismus der achtzigjährige Empörer Ken Loach getan. Man kann es auch fortdauernde, althergebrachte sozialistische Solidarität nennen.  

Artikel online seit 23.11.16
 

»Ich, Daniel Blake«
Starttermin
: 24. November 2016
(1 Std. 41 Min.) 
Regie: Ken Loach
Mit: Dave Johns, Hayley Squires, Dylan McKiernan

 


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