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»Freundliche Waffen«

Peter Handkes »Zeichnungen« by Schirmer/Mosel

Von Lothar Struck
 

Schon in Peter Handkes Notizbücher der 1970er Jahre finden sich vereinzelt Zeichnungen des Schriftstellers, wie man auf der Seite Handkeonline beispielhaft sehen kann. Fast legendär seine Skizze(n) des gerade verstorbenen Freundes Nicolas Born. Nur selten findet man Handkes Zeichnungen in seinen Büchern, wie in "Abschied des Träumers vom Neunten Land" oder dem heiteren Märchen "Lucie im Wald mit den Dingsda". Im 2016 erschienenen Journalband "Vor der Baumschattenwand nachts", der den Extrakt der Notizbücher zwischen 2007 bis 2015 bildet, waren rund 80 Zeichnungen eingestreut. Vor zwei Jahren wurden für wenige Wochen in der Berliner Galerie von Klaus Gerrit Friese erstmals mehr als 100 Zeichnungen von Peter Handke ausgestellt. Die zum Teil winzigen Exponate (das kleinste maß 20 x 65 mm) wurden auf Trägerpapier im einheitlichen Format von 209 x 296 mm montiert. Sie stammten aus Notizbüchern zwischen 2009 und 2017 (einige waren schon im Journalband in komprimierter Form zu sehen). Mit einer kleinen Verzögerung liegt nun bei Schirmer/Mosel ein Prachtband vor, der 103 Exponate der Ausstellung zeigt. Zusätzlich sind im Vorwort von Giorgio Agamben wie auch auf den Vorsatzpapieren weitere Zeichnungen aus Peter Handkes Exemplar des Novum Testamentum Graece abgedruckt.

Die Ausstellungsstücke von 2017 sind inzwischen in Familienbesitz. Umso verdienstvoller, dass Klaus Gerrit Friese durch das Photographieren die Voraussetzungen für die ausgezeichnete Reproduktionsqualität geschaffen hatte. Die Objekte wurden aus den jeweiligen Notizbüchern – zum Schrecken der Germanisten - herausgetrennt. Aus dem DIN-A-4-Format des Trägerpapiers wird im Buch ca. 155 x 219 mm. Entsprechend verkleinert zeigen sich die Objekte. Durch die sehr gute Auflösung lohnt sich die Betrachtung mit einer Lupe. Da den meisten Zeichnungen zum Teil sehr genaue Datierungen zugewiesen sind, kann man feststellen, dass die Reihenfolge im Buch nicht chronologisch erfolgt ist. Dennoch scheint es dabei einen Sinn zu geben, was sich auch daran zeigt, dass es zuweilen leere Seiten als Abschnittsmarkierungen gibt.

In Handkes Notizbüchern finden sich konzeptuelle Überlegungen neben Wahrnehmungen, Aphorismen, Lektüreeindrücken und -reflexionen, Traumaufzeichnungen, Erinnerungen und Assoziationen. Sie sind zwar chronologisch, aber keine Tagebücher im klassischen Sinn; vom Alltag des Dichters erfährt man beispielsweise sehr wenig. Der Stellenwert der Notizbücher für Handkes Werk kann kaum überschätzt werden, wie unlängst  Katharina Pektor in ihrem sehr instruktiven Essay herausstellte (Leuchtende Fragmente). Handke selber bezeichnete im Gespräch mit Ulrich von Bülow seine Notizbücher als "freundliche Waffen", die er "ziehe", um die "Gebilde", die sich ihm "ob von innen oder außen oder von beidem, Innenwelt und Außenwelt" zeigen, festzuhalten. Einmal konnte ich beobachten, wie schnell Handke diese "Waffe" zückte. Wir saßen in einem Restaurant in Chaville und unterhielten uns über den Dorfidioten, den er seit längerer Zeit wieder gesehen hatte. Plötzlich betrat dieser das Lokal. Im Nu begann er in seinem Notizbuch diesen Mann, das Eintreffen, zeichnerisch festzuhalten. Und genauso schnell klappte er das Buch wieder zu, als die Person das Lokal verlassen hatte.

Während die Notizen immer mehr von der Handke-Forschung untersucht werden, ist dies bei den im Laufe der Jahrzehnte häufiger zu findenden Zeichnungen bisher kaum der Fall. Handke legt Wert darauf, dass das Wort Zeichnungen in Bezug auf seine Miniaturen in Anführungszeichen gesetzt wird. Das ist nur vordergründig Understatement oder falsche Bescheidenheit. Handke trennt die Zeichnung nicht vom Geschriebenen; auf einen separaten Zeichenblock oder ein Zeichenheft verzichtet er. Sie gehören, so das Signal des Dichters, zu den "Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen" (Handke) dazu. Ohne die Notizbücher gäbe es keine "Zeichnungen". Sie sind spontan, versuchen, Augenblicke zu erfassen, die "ewige Empfindung" (Agamben Hölderlin paraphrasierend) zu bannen, für die Ewigkeit, nein: für die Dauer. Beschwörungen  des Augenblicks oder der Augenblicke.

Die gezeichneten Wahrnehmungen stehen neben schriftlichen Wahrnehmungen – zum Teil vollkommen ohne Bezug aufeinander. Da sieht man beispielsweise einen Reiher mit drei Köpfen, dessen Kopfbewegungen wie in einem kleinen Film nachgezeichnet sind. Und daneben die Bemerkung "Wenn man ein Kind hat, geht man ans Telefon". Oder über der Zeichnung von "Regenschlieren auf der Oise" die lakonische Bemerkung: "Luxus: Man läßt mich in Ruhe (seit ~14h kein Mensch in Sicht und Hörweite, nur Vögel und Baumbrausen)". Und manchmal überlagern sich Schrift und Zeichnung sogar, die Zeichnung dominiert dann, das Geschriebene wird schwer entzifferbar oder gar unleserlich.

Wie lassen die gezeichneten Motive kategorisieren? Am seltensten sind Portraits, die am meisten skizzenhaft sind. Da ist das fast naive Bild seines Bruders Hans. Oder ein (männlicher) Barnachbar im Profil. Immer wieder schlafende Menschen in Lokalen, Zügen oder Flugzeugen (meist Unbekannte, aber auch zweimal seine Tochter). Selten Hände, meist "Brotbrechhände". Zahlreicher schon kleine Reiseimpressionen. Schulkinder aus Ansbach (aus dem Hotelfenster heraus geschaut), Boote auf dem Chiemsee, ein fast bedrohlicher Polizist aus Lothringen, eine Weiche in Spanien, der Taubenturm in Nordfrankreich am "Vater- und Kindheitshaus von Georges Bernanos" (einen Schriftsteller, den Handke verehrt), der Olymp "gesehen von Thessaloniki", Impressionen aus Serbien, Massachusetts (USA), Ausflüge nach Stara Vas und – nicht zum ersten Mal zeichnerisch erfasst - der Triglav, "einst höchster Berg Jugoslawiens" (das muss sein).

Die meisten Zeichnungen stammen aus der Picardie oder der "Niemandsbucht", Handkes beiden Arbeits- und Lebensorten. Es sind neben Alltagsgegenstände aus der unmittelbaren Umgebung wie eine Zwirnrolle oder ein Hemd, über einen Stuhl gehängt, die zu Dingen verwandelt werden, auch auf den ersten Blick profane Objekte wie Hausfassaden, sieben Steinblöcke am "Bahnplatz" oder Teerstreifen auf Landstraßen, die seltsame Muster erzeugen. Dann die nicht-menschlichen "Gebilde" wie Bienenstöcke, Spatzenkuhlen, Schwalbennester, Ameisenhaufen oder Mauselöcher. Natürlich auch Tiere, ein Seehund, die Katze "Hibou", Kaulquappen, ein Igel, Reiher, ein toter Maulwurf. Man sieht Nüsse, Früchte, Bucheckern, "Wilde Erdbeeren" (man denkt sofort an Ingmar Bergman), eine "Apfeltraube" aber auch Eschenwipfel, Brombeeren (die er auf einer Zeichnung einer Karte einfach aufmalt) und natürlich Pilze bzw. "Pilzabdrücke".

Beeindruckend die Versuche, Wetterelemente zu erfassen, den Regen, Schneeflocken, sogar den Wind und Eiskristalle. Die Jahreszeiten zeigen sich anhand von Blättern und Blüten. Am stärksten wirken die Zeichnungen in der Dämmerung, die schillernde Baumschattenwand (immer wiederkehrendes Motiv) in der "Stunde zwischen Schwalbe und Fledermaus" und die Nachthimmel-Impressionen.

Bei aller Augenblickhaftigkeit sind es fast nie Skizzen oder "Gekritzel". Bis auf einige wenige, den Portraits zuzurechnenden Zeichnungen, handelt es sich um impressionistische, detailreich ausdifferenzierte Miniaturen, die am eindrucksvollsten sind, wenn sie sich durch verblüffende Farbsetzungen (Handkes Farbenfehlsichtigkeit!) ins Abstrakte bis zum Rätselhaften hin verschieben. Es schaut aus "als sei in ihm doch ein Bedürfnis nach Schnörkeln, Wirbeln, Kringeln, Scheckigen, Gestreiftem, rundum Sphärischen geblieben" (Handkes im "Versuch über den Pilznarren"). Dies alles gelingt ihm mit Kugelschreiber oder Filzstiften.

Agamben nennt die Zeichnungen "Zwischenrufe in einer anderen Sprache". Und für Žarko Radaković, Handkes Übersetzer ins Serbische, sind sie "besondere Manuskripte. Ja, es sind "Manuskripte", bisweilen von epischen Ereignissen (Agamben) erzählend. Eigenständig und ergänzend zum umfangreichen Œuvre Handkes. So manches Bild aus diesem umfangreichen Erzähl- und Theaterkosmos wird dem Leser plötzlich zugängig; im wörtlichen Sinn sichtbar.

Schön, dass all dies "nur" gezeigt und nicht endlos interpretiert wird. Somit bleibt Luft zum Schauen, zum Entdecken, zum Wundern. Wer Handkes Werk schätzt, wird dieses Buch mögen. Und sich wünschen, auch die "Zeichnungen" (oder doch Zeichnungen?) in den anderen Notizbüchern sehen zu können.     

Artikel online seit 29.07.19
 

Peter Handke
Zeichnungen
Mit einem Essay von Giorgio Agamben.
Schirmer/Mosel
144 Seiten, 104 Farbtafeln. Format: 21 x 28 cm, gebunden
39,80

 

 



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