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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Der letzte Landstreicher

Peter Handkes trotzig-grandioser Weltalmanach »Vor der Baumschattenwand nachts«

Von Lothar Struck

 

1977 veröffentlichte Peter Handke mit »Das Gewicht der Welt« zum ersten Mal ein »Journal«, das aus (zum Teil leicht bearbeiteten) Einträgen aus seinen Notizbüchern bestand. Bis auf zwei Ausnahmen (»Phantasien der Wiederholung« 1983 und ein kurzer, transkribierter Ausschnitt aus dem Notizbuch vom 31. August 1978 bis 18. Oktober 1978, der im letzten Jahr erschien) wurden die Journale zunächst nicht in seinem Hausverlag veröffentlicht sondern im Residenz-Verlag und später dann bei Jung & Jung, was der persönlichen Freundschaft Handkes mit dem Lektor und späteren Geschäftsführer des Residenz-Verlags Jochen Jung geschuldet war, der 2000 dann seinen eigenen Verlag gründete. Erschienen die ersten drei Journale noch relativ zeitnah zu den Notaten änderte sich dies nicht zuletzt aufgrund der umfangreichen Reisen Handkes in den 1980er Jahren. »Am Felsfenster morgens« von 1998 versammelte Aufzeichnungen von 1982 bis 1987 und die Notizen zwischen 1987 und 1990 2005 in »Gestern unterwegs«. 2010 kam mit Ein Jahr aus der Nacht gesprochen eine Art Zwischenwerk heraus mit meist sehr kurzen, fast aphoristischen Sentenzen, die an Traumeindrücke erinnern sollen. Mit »Vor der Baumschattenwand nachts« liegt nun ein neues, umfangreiches Journal vor, welches Eintragungen von 2007 bis Ende 2015 aufführt. Damit ist man unter Aussparung der Notizen zwischen 1991 und 2006 (diese Notizbücher befinden sich in Marbach und damit nicht mehr im Besitz des Autors) in der Gegenwart angekommen. Erstmalig sind in einem Journalband Zeichnungen des Autors eingefügt. Das Kunststück ist, dass keine einzige der mehr als 80 farbigen Illustrationen die Phantasie des Lesers konditioniert, sondern sogar noch beflügelt.

Der Leser

Handke, der akribischste Leser, den man sich vorstellen kann, notiert aus seinen Lektüren, schlägt Brücken zu anderen literarischen Werken, kreist ein und umarmt, verwirft, grenzt ab, feuert sich an und tritt darüber zuweilen in ein ironisches Selbstgespräch. Einige Leseimpressionen bilden Rohmaterial für spätere Vor- oder Nachworte (die im kürzlich veröffentlichten Band Tage und Werke gebündelt publiziert wurden). Manches überrascht, wie beispielsweise die Affinitäten zu Stendhal und Thoreau oder auch das Urteil über John Cheever, diesem »ganz andere(n) amerikanische(n) Entertainer«, bei dem »keinerlei Kunstgriff oder Kniff zu spüren« sei, »und das ist seine Kunst (weder 'Kunstgriff' noch 'Schema')«. Handke liest den »armen Heinrich« von Hartmann von Aue und wieder einmal – zum wievielten Male? – Wolfram von Eschenbachs »Parzival« (in der Übersetzung von Dieter Kühn).

Überhaupt: Handke ist nicht nur ein Neuleser (bspw. Joaquim Maria Machado de Assis oder Giacomo Leopardi), sondern auch ein Wiederleser. »Entschlossen für Rußland sein – Tolstoi neu lesen!«, heißt es einmal. Andere Favoriten (seit jeher): Georges Bernanos, Heimito von Doderer oder Adalbert Stifter. Verblüffend diese Vielseitigkeit. Auch das Interesse an der bildenden Kunst ist ungebrochen, was die Lektüre des Kunsthistorikers Kurt Badt und dessen Cézanne-Interpretation zeigt. Am Rande erfährt man auch etwas über die musikalischen Präferenzen Handkes – von Haydn, Schubert, György Kurtág und – natürlich! – Van Morrison bis zu den gefeierten letzten Alben von Johnny Cash.

Nachdem sich Handke in der Vergangenheit mit der Mystik eines Meister Eckhart beschäftigt hatte, ist es nun Jakob Böhme. Vor allem jedoch wendet er sich den islamischen Sufis des 11. und 12. Jahrhunderts zu und entdeckt Parallelen zwischen islamischer und christlicher Mystik. Ausgiebig zitiert er Ibn al-Fārid, Ibn ʿArabī und Al-Ghazālī und auch den Koran (nebst der Exegese einer Angelika Neuwirth). Dabei liest er die Schriften im arabischen Original (mit Wörterbuch) und erfreut sich an den Schriftzeichen, die er einmal mit Schneeflocken vergleicht. Mit Kamo no Chōmei, wird ein japanischer Schriftsteller des 12. Jahrhunderts, der sich dem Buddhismus zuwandte, rezipiert. Handkes Einlassungen hierzu sind selten theologischer, eher spiritueller und vor allem literarischer Art. Über allen Lektüren steht jedoch Johann Wolfgang Goethe, der die Notizen des Jahres 2015 dominiert. Handke liest immer wieder Goethes Briefe und gerät dabei in entdeckerisches Schwärmen. Aber es gibt auch Distanzierungen, wie etwas Goethes »losschreiben« von allem Mystischen. Oder seinen »Effekt der Altklugheit«. Das naturwissenschaftlichem Wirken kommentiert Handke halb seufzend halb ehrfurchtsvoll: »Lieber, lieber Goethe – du mit deiner grenzenlosen Tätigkeit!«

Der Schreiber

Obschon Handke das Leser-Sein als eine hohe literarische Daseinsstufe auffasst ist er natürlich auch Schriftsteller. Das Journal ermöglicht hier zuweilen einen Ausflug in die Werkstatt, etwa bei der Entstehung der Theaterstücke Immer noch Sturm, Die schönen Tage von Aranjuez und Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Auch Die morawische Nacht, Der Große Fall  und die Versuche über den Stillen Ort  und den Pilznarren entstehen in dieser Zeit. Man ertappt ihn beim »hineinschwindeln» eines Wortes in einer Übersetzung. Handke arbeitet häufig an mehreren Schreibtexten gleichzeitig und so wird man unvermittelt Zaungast von Vorarbeiten zu einer bisher unpublizierten Erzählung mit unterschiedlichen Arbeitstiteln wie »Das letzte Epos« oder »Die Obstdiebin«. Zuweilen dauert es einige Jahre, bis solche Arbeiten in ein fertiges Werk münden, aber zumindest schimmert eine neue große Erzählung hervor.

Im Gegensatz zu den vorherigen Journalen finden sich nur wenige Notate zu Fernreisen (einmal Sierra Nevada und etwas später ein Bad im »Eiswasser« des Rio Bermejo). Häufiger geht es in seinen geliebten »jugoslawischen« Karst oder der serbischen Enklave Velika Hoča im Kosovo. Aber da sitzt nicht nur ein Hieronymus in seinem Niemandsbucht-Gehäus. Da sucht, entdeckt, horcht, und schaut auch noch ein (entfernter) Nachfahre von Franz von Assisi, der mit den sich verirrenden Fliegen, flatternden Faltern oder  summenden Käfern spricht, den Spatzen beim Baden in kleinen Wegpfützen zuschaut, die Amseln als »Dachrinnennomaden« hören kann, sich am wippenden Gang der Elstern begeistert oder einfach nur Blättern beim Fallen zuschaut (kein zweiter Schriftsteller kann das derart innig erzählen). Wo andere mit ihrem Smartphone fotografieren würden, schreibt Handke, dieser letzte Land- und Flurstreicher, die Phänomene auf seinen Exkursionen in Haus, Garten und den umgebenden Wäldern auf. Später kommt noch ein neues Peripherie-Domizil in der Picardie dazu und es ist aufregend, Handke beim Einleben zuzusehen.

Der Sammler

Handke ist ein Schauer, Hörer und ewig feilender Wortzusammenfüger, aber auch ein Sammler. Als ich ihn im Frühherbst 2014 besuchte, fanden sich überall Tische mit Nüssen, Äpfeln und anderen Früchten, die er im Garten und Umland »erbeutet» hatte. Und auch in diesem Buch gibt es solche Gabentische. Zum Beispiel die »Und«-Suchen, in denen zunächst scheinbar Unzusammenhängendes zu einer neuen Impression verbunden wird: »Die Begräbnisglocke schlägt, und ich lege für ihre Zeit das Buch beiseite«. Oder: »Der glückliche Tag und der Moment des Herzblutens«. Da ist die emphatisch-beschwörende Suche nach einem »11. Gebot» (»Du sollst Deinen Dämon mobilisieren!« lautet eines). Oder er fordert sich auf, »Unvergleichlichkeiten» zu sammeln. Sehr beeindruckend und sofort inspirierend für den eigenen Gebrauch die »Zeitschwellen«, die anhand von phänomenologischen Beobachtungen eine Jahres- und/oder Tageszeit definieren, wie die »Meisenzeit« oder »der Erdbeerrötungtag» im Sommer, die Zeit des »Rissigwerden[s] der Nußschalen« nebst den »am Morgen erstmals wieder sichtbaren Atemwolken» im Herbst.

Handke formuliert kleine Epitaphe »für« von ihm geschätzte Schriftsteller. Er erfindet zu Substantiven neue Verben wie zum Beispiel das »Verb für die Anmut: Sie 'existiert' (und 'läßt existieren')« oder »Verb für die Seele: 'formt', oder 'verformt'“ (je nachdem)«. Höchst ertragreich für den Leser sind die Wortfindungsideen in den »Statt – sag«-Kreationen (»Statt 'unverhofft' sag 'unversehens'«). Oder er initiiert »Gebete«, die er entweder als Imperative für (oder gegen) sich selbst formuliert oder als kleine (nicht immer ernst gemeinte) Pretiosen findet: »Entziffere Dich, Erdreich!« heißt es dann etwas pathetisch und gleich danach: »Vater, erlöse mich von deinem freudlosen Lachen!« und schließlich das drohende Pathos brechend: »Zeig mir Krankem von ferne ein Krankenhaus, und ich werde auf der Stelle gesund!«

Erstaunlich einige sehr persönliche Einträge, meist dann, wenn er sich in das »Zeit-Raum-Schiff aus der Kindheit« in sein Heimatdorf Altenmarkt in der Marktgemeinde Griffen begibt, jenen Ort, den er konsequent mit seinem slowenischen Namen Stara Vas bezeichnet. Er besucht seinen Halbbruder Hans, den er zeichnet (und der 2013 stirbt), erinnert sich an den Großvater oder die sterbende Großmutter von vor 50 Jahren und träumt von der Schönheit der Mutter. Einmal, wie aus dem Nichts, eine Kindheitsevokation: »Es war Krieg, und die Lieder, die wir sangen, waren leise, auch wegen der Verdunkelung«. Sich selber nennt Handke mit leicht bitterem Unterton einen »Vaterlosen«.

Der Sprachkritiker

Nein, er sei kein Existenzialist schreibt Handke an einer anderen Stelle, aber ein Essenzialist. Und im Nu ist er wieder bei der Literatur: Denn »zur Essenz gehört das Abweichen und Ausweichen, weitestmöglich, immerzu – das Epische«. Ansonsten gibt es eher selten Eindeutigkeiten. Es überwiegt das tastende Suchen und Finden, wobei die Formulierung des Gefundenen häufig nur vorläufig gültig ist. Umso froher ist Handke, wenn er in seinen alten Büchern wie »Die Hornissen» oder »Langsame Heimkehr« ein Kontinuum zur Gegenwart entdeckt. Und das ein oder andere Bonmot wird halb spielerisch, halb stolz mit »Habe ich das nicht schon notiert?« kommentiert (und fast immer hatte er). Daneben gibt es Skurriles, Heiteres und sogar manchmal Kalauerndes. Etwa wenn er das »scharfe ß« zu seinem persönlichen »Weltkulturerbe« erhebt. Oder er imaginiert, dass nach dem Schlusspfiff des Schiedsrichters die Fußballer einfach weiterspielen. 

Und trotzdem: Jeder Eintrag ist von Handke bewusst geformte Sprache. Das sind keine rasch hingekritzelten Aphorismen, die auf Affekte des Lesers hin komponiert sind. Und so grenzt Handke hart die dichterische Sprache von der journalistischen ab. Da ist ein Adorno-Diktum »Blödsinn« und wird umformuliert: »Es gibt keine wahren Sätze inmitten von falschen«. Und von da ist nur ein kleiner Weg zum kernigen Fluch auf die »Kurzsatzschreiber« und wenig später dann der Kritik an den »Verlautbarungssätzen« der Journalisten, die er den dichterischen Hauptsätzen entgegenstellt.

In den raren Stellungnahmen zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen zeigt sich Handke eher als Skeptiker, etwa seine Bemerkung vom »faulen Frieden« der »westlichen Welt«, in der »Luxusköche und Tennis'cracks'« Helden spielen. Oder seine Rede von den westlichen Staatsmännern »u. –frauen…heute: 'Die Unschuldigen schreiten zur Untat', und schreiten und schreiten, und obwohl sie Tragiker sind, nein, Tragisches (an)tun, sind sie sich dieses Tragischen keinmal bewußt…» Auch das »lieblose Bürgertum« – »'vertreten' z. B. durch Th. Mann« wie es einmal süffisant heißt - kommt nicht besser davon. Einmal durchbricht Handke die reine Zeitschwellen- und Jahreszeitendatierung und nennt ein konkretes Datum. Es ist der 13.November 2015, der Tag der Anschläge in Paris, der Tag an dem »Schöpfungsmordbuben« »Massaker um Massaker im Namen des Barmherzigen« verüben.

Der Weltflüchtling

»Vor der Baumschattenwand nachts« ist zugleich ernster und unernster als die beiden letzten Journale. Ernster weil es melancholische und demütige Stellen gibt, zuweilen kleine, sanfte Abschiede (die hier nicht ausgeführt werden – lest und schaut selbst!). Unernst in den Augenblicken spürbar heiterer Gelassenheit des Autors. Ein für den Leser fordernder aber auch eminent fruchtbarer und erfrischender Kontrast.

Ein einer Stelle bekennt sich Handke offen zum »Weltflüchtling», was an eine Notiz aus den 1980er Jahren erinnert, in der er sich mit dem eskapistischen Flucht-Vorwurf auseinandersetzte. »'Flucht' in die Natur, der Vorwurf trifft zu, wenn ich mich von einem Problem wegflüchte in die Natur, statt das Problem in die Natur mithineinzunehmen. Aber sich in die Natur zu begeben mit dem Problem, das wäre die ideale Folgehandlung auf das Problem – das Gegenteil von Flucht».

Tatsächlich lebt Handke in einer anderen Welt. Einer Welt, die nicht von den medialen Erregungen des Internet kontaminiert ist. Eine Welt, in der die Natur, der Rhythmus der Jahreszeiten, noch Relevant besitzt und nicht nur schnöde »Umwelt« ist. Eine Welt der Geduld, des Sein-Lassens und das bedeutet, so Handke: »Wo nichts geschah, habe ich zeitweise am meisten erlebt«. Aber auch eine Welt, in der es selten Mitmenschen zu geben scheint, was er aber immer als Menetekel vor Augen hat, wenn er zum Beispiel zur Liturgie gegen den »Menschenekel« anhebt und sich selbst vergewissert, dass Menschenverachtung eine Todsünde sei.    

Und ja: Realisten, Empiriker, Spiegelonline-Kolumnenschreiber und, um aus einem Theaterstück von Handke zu zitieren, »Unablenkbare«, »halblustige Unernste» oder »Unbesiegbare« werden verloren sein für diese Welt und damit auch für dieses Buch. Für alle anderen ist es eine Schatztruhe, die auch noch beim zweiten oder dritten Lesen funkelt.

Artikel online seit 11.03.16

 

Peter Handke
Vor der Baumschattenwand nachts
Zeichen und Anflüge von der Peripherie, 2007-2015
Jung und Jung
424 Seiten, gebunden,
€ 28,–, mit 80 farbigen Zeichnungen des Autors,
978-3-99027-083-7,
auch als e-book erhältlich

 


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