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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 










Schreiben als Wiederentdeckung

Peter Handkes neuer Band seiner Begleitschreiben »Tage und Werke«

Von Lothar Struck
 

Mit "Tage und Werke" setzt der Suhrkamp-Verlag die Reihe der Aufsatzsammlungen Peter Handkes fort. Der letzte Band aus dem Jahr 2002 ("Mündliches und Schriftliches") versammelte Texte von 1992 bis 2001; neben Aufsätzen zu Schriftstellern (unter anderem Karl-Philipp Moritz, Hermann Lenz, Georges-Arthur Goldschmidt, Josef W. Jancker oder Ralf Rothmann) auch einige über Handkes zweiter Leidenschaft neben der Literatur, dem Kino, wie etwa Elogen zu den Regisseuren Abbas Kiarostami und Danièle Huillet/Jean-Marie Straub. Mit Helmut Färber wurde sogar ein (Film-)Kritiker essayistisch gewürdigt. Der aktuelle Band versammelt nun Aufsätze, Vor- oder Nachworte, Kurztexte und Reden Handkes von 2003 bis zur Gegenwart.

Nicht nur über Werke, auch über Tage

Der Verlag wirbt damit, dass im Band "ausschließlich" Texte "zur Literatur" versammelt seien, "also Begleitschreiben zu Autoren und ihren Büchern". Das stimmt allerdings nicht ganz. Bereits im in der Chronologie der Sammlung nicht passenden Text von 1995 geht es zwar um Gustav Januš, jenen slowenischen Dichter, den Handke seit 1983 in mittlerweile fünf Büchern aus dem Slowenischen ins Deutsche übersetzt hat. Aber hier ergründet er den Maler Gustav Januš, den er "Bilderspieler" und seine Malereien "Spielwerke" nennt – freilich nicht despektierlich, wie man anhand dieser Begriffe meinen könnte, sondern anerkennend. Auch die Texte über Handkes Heimatort Griffen, Barack Obamas Wahl 2008 ("Die Welt kann aufatmen"), seinen "andersreichen" Freund Herbert Burda und "C. P." (Claus Peymann), den "Hervorrufer" und "Westerntheatermann", sowie der große, einen Moment lang sogar zornige Aufsatz über bzw. gegen Hans Barlach und dessen Versuche, den Suhrkamp-Verlag zu ökonomisieren – sie künden nicht von einer speziellen Lektüre, auch wenn es am Ende "Von HB zu HB" (endlich der Original-Titel für den Aufsatz, wobei das erste "HB" der Bleistift ist, mit dem PH schreibt) ein Angebot Handkes gibt, die Werke des Großvaters Ernst Barlach neu herauszugeben (und viel später im Buch, an einer gut verborgenen Stelle, erfährt man wie lange Handkes Wertschätzung für Ernst Barlach schon anhält).

Schließlich geht es rund um die Heine-Preis-Kontroverse von 2006 um Peter Handke selber und die einst hysterischen Erregungen nicht nur im Feuilleton (hier kann man eine kleine Chronologie dazu nachlesen). Mit den drei Texten zu dieser Causa wird der Leser allerdings alleine gelassen, was schade ist, denn wer vermag heute noch aus der Lektüre heraus eine Einordnung vorzunehmen? Besonders merkwürdig wirkt der Brief an den damaligen Oberbürgermeister von Düsseldorf Joachim Erwin, der als Handkes Verzicht auf den Heine-Preis interpretiert werden kann. Weil die Anrede weggelassen wurde, wird erst am Schluss der Adressat "enthüllt". Kein auch noch so kleiner Hinweis im Buch (von der launigen Antwort des OBs, der sich für die Preisvergabe an Handke ausgesprochen hatte, ganz zu schweigen). Und Ähnliches acht Jahre später als sich Handke 2014 in Norwegen anlässlich der Ibsenpreis-Verleihung in einer zornigen Schelte an die Demonstranten wandte, die durch tendenziöse Berichterstattungen in den norwegischen Medien Handke als Mitschuldigen an den Verbrechen der Jugoslawienkriege diffamierten. Auch hier bleibt der Leser ohne erklärendes Wort (nicht einmal eine Fuß- oder Endnote), obwohl es genügend Augen- wie Ohrenzeugen gibt, die die bedrückende Stimmung, die während der Veranstaltungen vorherrschte, rekapitulieren oder sogar erzählen könnten.  

Der jugendliche Kritiker

Am Ende des Buches dann eine kleine Überraschung: Unter der Überschrift "Portrait des jungen Dichters als Büchereckenschreiber in Radio Steiermark" werden 13 Radiobeiträge Handkes aus dem ORF Landesstudio Graz zwischen Dezember 1964 und September 1966 abgedruckt. Wie man auf der Webseite Handkeonline feststellen kann, fehlen allerdings zwei Sendungen, und zwar die vom 9.11.1964 und 13.9.1965 (im ORF-Archiv waren sie, so Katharina Pektor anlässlich einer Recherche aus dem Jahr 2011, nicht mehr auffindbar).

Bereits zu Beginn von "Tage und Werke" wird ein Ausschnitt der Sendung vom 12.9.1966 abgedruckt, in dem Handke zwei Jahre nach Konrad Bayers Freitod seine Leseeindrücke zum postum erschienenen Roman "Der Kopf des Vitus Behring" schildert. Schon in diesem Text zeigt sich die formale Ausrichtung der Beiträge des damals 23jährigen. Der klassische Rezensionston wird eher vermieden, dafür entstehen gut begründete Urteile. Schon damals ist erkennbar, dass es dem Autor nicht auf pure Meinung ankommt (wenn er diese doch einmal äußert, dann wird sie sofort als solche bezeichnet).

Ob es sich um gestandene Geistesgrößen wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Roland Barthes, Herbert Marcuse ("wunderbar wahrhaftiger Mann") oder um Schriftsteller wie Martin Walser, Ror Wolf, John Dos Passos oder Zbigniew Herbert handelt  – Berührungsängste hatte der junge Handke keine. Besonders interessant: Einige heute längst unbekannte, von ihm jedoch gelobte Autoren harren womöglich einer Renaissance (wie zum Beispiel Boris Eichenbaum oder Věra Linhartová). Aufschlussreich auch die positive Besprechung des eher spröden Romans "Jahre" des (längst vergessenen) finnischen Autors Paavo Haavikko 1965, dessen Held Väinö entfernt an Josef Bloch, Handkes Tormann ("Die Angst des Tormanns beim Elfmeter", 1970) erinnert.

Russische Literatur, Theatertheorie und Sprache der Literaturkritik

Handke durchforstete in seinen Beiträgen aktuelle Neuerscheinungen – neben Suhrkamp und Fischer wurden auch Publikationen kleinerer Verlage vorgestellt und besprochen. Eine bestimmte Programmatik ist nicht zu erkennen. Einige Beiträge waren einem Thema untergeordnet, etwa wenn er über die russische Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart referierte. Aufschlussreich für die Entwicklung des "dramatischen" Handke  könnte der Beitrag vom 29.11.1965 sein, in dem er fast wie nebenbei eine eigene Theatertheorie formuliert. Er sieht den Versuch des moderne Dramas aus den jahrhundertelangen Konventionen auszubrechen als gescheitert: "Noch immer bedeutet das Theater etwas, es ist eine eigene Welt, die Zeit auf den Brettern ist noch immer eine andere Zeit als die Zeit der Zuschauer. Es wird immer noch etwas vorgemacht." Handke entdeckt dies sowohl bei den modernen Amerikanern als auch bei Brecht, der das "konventionelle Theater" nur "für seine Zwecke gebraucht" habe. Es sei nicht episch, sondern dramatisch, so Handke. Alle Versuche eines "Antitheaters" hätten nur zum Theater zurückgeführt, "die Schaulust" würde "überfüttert". Handkes Ideal, nicht nur die Wirklichkeit zu spielen sondern ein Spiel auf der Bühne zu inszenieren, sah er nirgends erfüllt. Heute weiß man, dass er fünf Wochen vor der Ausstrahlung dieses Beitrages seine "Publikumsbeschimpfung" fertig geschrieben hatte.

Handkes Urteile sind zuweilen harsch, manchmal auch humorvoll, etwa wenn es von einem Buch, das im Schuber geliefert wurde heißt, dass es besser dort verbliebe. Meistens ist er jedoch bemüht, dem Zuhörer Erklärungen abzuliefern und Einordnungen vorzunehmen. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie er in der zweiten Sendung vom 21.12.1964 (die im Buch die erste ist) über die Sprache der Literaturkritik referiert. Ihre Aufgabe sei die Bewertung. Aber "für die Bewertung […] besteht in der Sprache nur ein begrenzter Vorrat von Worten; dieser Vorrat schießt automatisch in die Gedanken, wenn die Sprache des zu beurteilenden Textes beurteilt werden soll: das ist es, was die Literaturkritik oft zu einem leeren Geschäft macht." Je bekannter ein Autor sei, "desto mehr Eigenschaftsworte" seien für ihn gebräuchlich. Worte, "die mechanisch bei der Erwähnung des Autors in den Sinn kommen". Diese Verschlagwortung (wie man es heute nennen würde) sei zwar ein "Übel", aber es sei "die Natur der Kritik", wie es auch deren Natur sei, "zu bewerten", aber "die Bewertungsworte…sind von Natur aus abstrakt, das heißt, sie tragen in sich keinen Begriff von dem, was sie bezeichnen; sie dienen nur als Hilfsmittel oder als Hinweise; was ihnen trotzdem zu einer Wirkung verhilft, ist die Gewöhnung des Zuhörer" daran. So geschehe es, "daß auf die Nennung des automatisch gesagten Wortes, etwa die Sprache sei dicht, in dem Zuhörer ebenso von selber eine Wertvorstellung von dem Kritisierten entsteht." Das Problem entsteht dahingehend, dass die Kriterien für eine "dichte Sprache" bei Kritiker und Zuhörer variieren, was dann unweigerlich zur Folge haben muss, dieses Werturteil als "leere(n) Hinweis" (Handke) zu subsummieren. Einen Ausweg aus dem Dilemma eröffnet Handke hier nicht; er könnte darin bestehen, die entsprechenden Formulierungen zu (ver)meiden. Oder die subjektiven, "leeren Hinweise", entsprechend mit der subjektiven Bedeutung zu füllen, also, um im Beispiel zu bleiben, zu erklären, was mit "dichte Sprache" gemeint ist.

Variationen der Begeisterung

Dass Handke immer noch das literaturkritische Handwerk interessiert und bewegt zeigt sich in einem bislang unpublizierten Text, der in diesem Band abgedruckt ist. "Drei Zitterer an der homerischen Quelle" lautet der Titel dieses Begleitschreibens und die drei Zitterer sind Dag Solstad, Xaver Bayer und Dragan Aleksić mit ihren Büchern "Scham und Würde", "Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich" und Vorvorgestern. Wie in seinen Radiotexten 50 Jahre zuvor widmet sich Handke also wieder einmal mehreren Büchern unterschiedlicher Autoren. Und wie damals rekurriert er auf die Floskelhaftigkeit und Leere der Sprache der Literaturkritik: "'Meisterwerke', 'wunderbare', 'einmalige', 'unvergleichliche', 'atemberaubende', 'epochale', gibt es ja heutzutage in Hülle und Fülle; tagtäglich kommen ein paar frische dazu. Das Lesen der drei wie auch das Wiedergeben geschieht, im Zeichen der Kritik, im Sinn des Unterscheidens, der Kritik die zugleich eine Form der Begeisterung ist (wobei gegebenenfalls auch Zorn und Enttäuschung mitspielen können als ganz variierte Begeisterung)."  Vorher heißt es: "Keine Sorge: Es sei hier fern, die drei fraglichen Bücher in einen Himmel zu heben." Aber dann, kurz darauf: "Nicht in den Himmel heben? Na, augenblicksweise vielleicht doch, da und dort, dann und wann."

Handkes Begleitschreiben sind nicht mehr mit denen der "Bücherecken" vergleichbar. Der Unterschied zwischen den Texten der 1960er Jahre und denen von 2001ff liegt neben der inzwischen gewachsenen Leseerfahrung von rund 50 Jahren vor allem in der Sprache. Es sind keine klassischen Kritiken, sondern persönliche, in Handkes Duktus vielleicht "zitternde" Umkreisungen zu bzw. über Lektüren, die den Leser aufmerksam und neugierig stimmen und im Idealfall sofort veranlassen, das derart angesprochene Buch mit- und nachzulesen.

Dieser "Idealfall" ereignet sich sehr häufig. Damit sind nicht nur die Bücher der drei "Zitterer" gemeint, die, so unterschiedlich sie auch sind, für Handke die Gemeinsamkeit von "Ernst und Liebe" haben (besonders vielleicht der "Liebreiz" der Kürzestgeschichten von Aleksić). Auch nach der Lektüre zu Dragan Velikećs "bitter-trauervolles",  jugoslawisches Buch "Danteplatz" oder Valentin Hausers "Greutschach – Ein Bergdorf erzählt" (beide im Wieser-Verlag erschienen) holt man schon einmal die Jacke herbei (oder fährt den Computer hoch). Dann noch Johannes Neuknechts "Es klingt der Stein", ein Buch, aus dem man lerne "ohne belehrt zu werden". Und wie sieht es mit Ernst Meisters und Tomas Tranströmers Gedichten aus? Oder Kito Lorenc, dem "Alleinige[n]" aus dem Sorbischen? Mit welcher Zartheit und Wärme Handke schreiben kann, zeigt sich im Vorwort zum Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig und, ähnlich sanftmütig, die Anmerkungen zum gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne. Ergänzt werden muss die Bücherliste unbedingt um das von Handke jahrelang bei jeder Gelegenheit und Nicht-Gelegenheit empfohlene, von ihm hymnisch gefeierte Buch "Boštjans Flug" von Florjan Lipuš, dieses Werk von "Aufruhr und Liebe" (und es stimmt hier, in Handkes Text, einfach jedes Wort, jedes Komma).

Manchmal redet Handke den Leser direkt an, möchte ihn mitreißen und an seiner Lesefreude teilhaben lassen. Andere Texte sind etwas dorniger ("recht so" würde er vermutlich kommentieren), wie etwa sein Vor-(oder Nach-?)wort zum Briefwechsel Carlfriedrich Claus und Franz Mon. Und wieder andere wirken für einen so ernsthaften Leser wie Handke fast ein bisschen ("Bücherecke"-gemäss) neckisch, wie das Wittgenstein-Wortspiel zu Wolfgang Welt (ja, er gesteht es sofort ein) oder das Schimpfen auf Uwe Tellkamps "falsche Posaunenstöße" im Lob zu Friederike Mayröcker ("Überwindung war nötig", so Handke, den Spruch von der "mächtigen Sprach-Zauberin" zu wiederholen), deren "Wortspalten" er "zarte, aber auch, wie es sich für die Dichtung gehört, listige Gebilde" nennt.  

Wem die Bücherliste dann noch nicht lang genug ist, mag sich zum Briefwechsel Adonis und Dimitri T. Analis überreden lassen (der kurze Text Handkes von drei einst zusammensitzenden, monologisierenden Dichtern, Analis, Adonis und PH, ist auf anrührende Weise komisch), Analis' Gedichte "Präludium zu einer neuen Kälte" und gleich dazu Alfred Kolleritschs "Es gibt den ungeheuren Anderen" in den Warenkorb überführen, Zlatko Krasnis "Und im Traum erlischt der Tag" und/oder John Cheevers "Ach, dieses Paradies" ordern. Zuvor oder danach mag er noch die kurzen Texte zu Paul Cézanne, Rolf Dieter Brinkmann und Wolfgang Schaffler lesen.

Und ja, wenn man "Tage und Werke" in einem Stück gelesen hat, ist man erschöpft. Aber es ist eine Erschöpfung, die nicht ermattet, sondern stimuliert, Neugier, ja: Leselust erzeugt. Was gibt es Besseres?

Artikel online seit 14.12.15
 

Peter Handke
Tage und Werke
Begleitschreiben
Suhrkamp
Gebunden
287 Seiten
22,95 €
978-3-518-42492-6

 


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