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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Artikel online seit 16.12.13

Idyllensplitter und Raserei

Der jugoslawische Schriftsteller Dragan Aleksić ist
mehr als nur eine Entdeckung für einen Leseabend

Von Lothar Struck



 

»Unten, am Wegesrand fielen in den warmen, tiefen, vom Mondlicht golden gefärbten Staub dicke, pralle schwarze Maulbeeren«. So endet der Roman »Zwischen Nera und Karasch«  des jugoslawischen Schriftstellers Dragan Aleksić. Begonnen hatte er mit dem Satz: »Dicke, pralle schwarze Maulbeeren fallen in den warmen, knöcheltiefen Staub. Der Mond ist groß wie ein schwerer, runder Strohballen…« Der Kreis schließt sich also. Der Leser wird wieder an den Anfang geführt, der, wie sich herausstellt, das Ende war.

Es gibt drei Protagonisten, die in diesem Roman dominierend sind: Zum einen der namenlos bleibende Ich-Erzähler, Jahrgang etwa 1930. Dann dessen jugendliche Frau Ljubica. Und schließlich die zuweilen lyrisch erzählte Landschaft zwischen den beiden Flüssen Nera und dem (Grenzfluss) Karasch (rumänisch: Caraș) samt der Stadt, die der Geburtsstadt des Autors, Bela Crkva, mindestens ähnlich oder sogar identisch mit ihr ist. Geografisch ist es der Südosten der Vojvodina, oder, genauer, das Grenzgebiet zwischen Serbien und Rumänien oder, früher, zwischen Jugoslawien und Rumänien oder, noch früher, ein Teil Österreich-Ungarns oder, einfach, ein Teil des Banats. Nach der Hälfte der Erzählung schiebt Aleksić eine erzählende Chronologie der Besiedlung der Gegend ein, vom 18. Jahrhundert an, einer Besiedlung durch Serben, Deutsche, Rumänen, Ungarn, Tschechen, Juden, Zigeuner – der Vielvölkerstaat im kleinen, wie man am Namen von Bela Crkva zeigen kann, der in deutsch Weißkirchen hieß, in ungarisch Fehértemplom, in rumänisch Biserica Albă. Und irgendwie funktioniert das Zusammenleben erstaunlich gut, weil unter bestimmten Bedingungen Bürgerrechte für alle Volksgruppen gewährt werden können und so wächst dort etwas zusammen bis zum Niedergang der am Ende immer liberaler gewordenen k.u.k.-Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg, der Aufteilung der Region, die dann erst zu Verwicklungen und Feindschaften führt.

Es könnte also eine Ortserzählung sein, aber sehr früh bemerkt der Leser, dass es dann doch eher die Geschichte jenes Mannes ist, der in zunächst nur kurzen, vielleicht alptraumartigen Sequenzen von seinen Schüssen in die Dunkelheit erzählt, Schüsse, die unter einem Bett liegend wahllos abgefeuert werden, aus Wut, Zorn und Hass. Dies wird erzählerisch gebrochen mit Erinnerungen aus der Kindheit, die als eine schöne erzählt wird, die sorgende Mutter, der sanftmütige Vater, der auf die Jagd geht, aber nur um mit den Leuten zu reden und immer wieder die Natur und das alles erinnert an Aleksić' wunderbaren, vor zwei Jahren auf deutsch erschienenen Band »Vorvorgestern«. Ein Buch, in dem auf 104 Seiten »66 Geschichten, die vom Glück handeln« versammelt sind; wunderbar dichte Idyllensplitter, dabei wie durch ein Wunder ohne falsches Pathos. Dort wird eine glückliche, ja glückselige Kindheit evoziert, was nicht nur literarisch ein Ereignis ist, sondern auch bei Erscheinen 1994 in Belgrad, mitten in den fürchterlichen jugoslawischen Bürgerkriegen, eine Provokation gewesen sein muss. Es sind feine Epopöen einer Kindheit in einem Ort, der womöglich auch Bela Crkva ähnelt, badende Spatzen, das »Wolkenspiel«  vor dem Frühstück (und das Versinken des Kindes beim Betrachten), das schöne und traurige Schneien, das Fest des Blumenkarnevals, das Nicht-mehr-Barfußlaufen-Dürfen als Zeichen für das Ende des Sommers, der nasse, eingerissene Fußball mit dem trotzdem eifrig gespielt wird. Brot in Milch getunkt mit Zucker – welch herrliche Speise dies sein kann. Der erste Fernseher beim Onkel, aber auch der Bäcker, der sich erhängt. Die Parallelstrasse der »Serbenstrasse« , in der das Kindheitshaus steht, heißt »Zigeunerstrasse«, aber der Vater schärft früh dem Sohn jenseits aller Ressentiments ein, dass die Zigeuner seine »Brüder« sind und hier wird dieses Wort auf schönste Weise entdämonisiert. Das »Cvetko ist mein Freund« erinnert dann sofort an Wolfdietrich Schnurres großartige, bewegende Erzählung »Jenö war mein Freund«. Und so ist der Umzug an das andere Ende der Stadt, in ein neues Haus mit mehr »Luxus«  (ein Badezimmer!), trotzdem nicht schön, zumal es an der Nordseite liegt und keine Sonne ins Haus kommt und die Geschichten enden dann auch.

Einige Bilder und Motive dieser Miniaturen von »Vorvorgestern« finden sich sogar im Roman. Etwa das taghelle Mondlicht und die gleichzeitig »tiefe Nacht« unter einer wuchtigen Krone eines Baums (im kleinen Band ist es ein Pflaumen- im Roman ein Walnussbaum). Oder die »zwei rote[n] Punkte, die sich bewegten«  (das wunderschöne Cover von »Vorvorgestern« zeigt dies) – es sind Vater und Mutter, die unter dem Baum sitzend rauchen und deren Zigarettenenden in die Nacht hinein scheinen. Überhaupt die Eltern des Ich-Erzählers: Sie sind liebe- und rücksichtsvoll, geben »Zärtlichkeit, Güte und Verständnis«. Aber leider geht es nicht so weiter; sehr früh schwelt immer eine unterschwellige Bedrohung mit, obwohl man anfangs noch an Halluzinationen glaubt. Aber es verstärkt sich noch, wenn der Ich-Erzähler von seinen Jugenderinnerungen erzählt, denn die Zeitläufte brechen brutal in das Idyll ein. Die Nazis besetzen diesen Teil des von ihnen zerschlagenen Jugoslawien; diejenigen Bewohner, die vor vielen Generationen aus Deutschland eingewandert sind und ihre Kultur nach wie vor pflegen (und zunächst spöttisch, später dann hasserfüllt 'Švaben' genannt werden), dienen sich zum großen Teil den neuen Herren an. Besonders schlimm trifft es die Juden; sie »verschwinden« und werden sukzessive abtransportiert. Es gibt Partisanenangriffe; die Nazis legen eine Quote von 1:50 fest und der Erzähler wird 1943 zusammen mit einem Freund Zeuge eines Erschießungskommandos was anschaulich und bildstark, aber nicht sensationslüstern erzählt wird. Das einst so friedliche, multiethnische Zusammenleben ist unwiderruflich zerstört. Nach dem Krieg wüten dann die zur Herrschaft gekommenen Partisanen, die wenigen Švaben, die noch geblieben sind und sich zum Teil gegen die Nazis widerständisch gezeigt haben (beispielsweise Juden oder Partisanen geholfen hatten), werden nun ihrerseits drangsaliert oder eingesperrt und dass fast alle anderen Bewohner die Judenerschiessungen ohne größere Aufregung verfolgt haben wird natürlich von den neuen Herren nicht thematisiert.

Diese Stellen, die Übergänge und Parallelen von der einen Willkürherrschaft zur anderen, sind neben den elegischen Kindheits- und Elternerinnerungen die stärksten Passagen in diesem Buch. Die Protagonisten bekommen eine starke Unmittelbarkeit und dieser Effekt wird noch durch das später als eine Art Ortschronik eingefügte Kapitel verstärkt, in dem die Vorfahren der Figuren erscheinen. Hier erreicht der Roman eine epische Kraft, die an den großen und großartigen Landsmann Aleksandar Tišma (und insbesondere seinem Buch »Der Gebrauch des Menschen«) erinnert und die unheilvollen wie unentrinnbaren Verstrickungen von Menschen in Zeitläufte zeigt, in denen es keine eindeutige Opfer-Täter-Dichotomie mehr gibt, sondern nur noch Deformierte, die, ob Täter oder Opfer, zwar womöglich alles überstanden haben, aber nie mehr ihres Lebens froh werden können.

Aber da gibt es noch den Hauptstrang, ausgehend vom Ich-Erzähler. Früh verliert er seine besten Freunde – einer geht über die nahe Grenze nach Rumänien (er überquert einfach den Fluss) und zieht den Stalinismus dem Titoismus vor. Und ein anderer schafft es nach Italien. Dann stirbt der verehrte Vater und außer der Mutter ist er nun fast alleine. Auf einer Hochzeit lernt er die blutjunge Ljubica kennen. Wie wunderbar zart die Annäherungen zwischen den beiden, das beredte Schweigen beispielsweise, erzählt werden, bevor der Leser ausgiebig die körperlichen Vorzüge der jungen Frau geschildert bekommt. Die beiden heiraten. Anfangs scheint alles wunderbar zu gehen, aber der Leser traut dem Frieden nicht mehr, eben wegen der bereits erwähnten Einschübe, die ihn unter einem Bett schießend zeigen aber noch hofft man. Gina, ihre Tochter, wird geboren, die der Ehemann vergöttert. Eines Tages beschließt Ljubica, dass sie eine Arbeit übernimmt. Und dies ausgerechnet in der sogenannten »Antitrachom-Ambulanz«, die ihr Ehemann noch aus seinen Jugendtagen kennt, als er und seine Freunde auf einem Baum sitzend heimlich durch die kleinen Fenster eben jener »Ambulanz«  lugten und die sexuellen Handlungen der Frauen mit den Besuchern (alles Männer) staunend und schließlich masturbierend verfolgten. Die « Ambulanz« wurde zu ihrem »privaten Erotikkino« und er ist fest davon überzeugt, es handele sich um nichts anderes als ein getarntes Bordell. Dort soll nun seine Frau arbeiten?

Sein kategorisches Nein wird nicht akzeptiert, die Schwiegereltern fallen ihm in den Rücken, Ljubica beharrt darauf. Er wird nun immer eifersüchtiger, dramatisiert jedes Gerücht und bauscht es auf. Dabei schreitet die Entfremdung zwischen Ljubica und ihm immer weiter voran. Es beginnt ein Streit um Gina, wann sie wo sein soll. Und schließlich kommt es zur Explosion und man ist geneigt, von einem Amoklauf zu sprechen, den Aleksić in allen Details schildert und dabei den vermeintlichen oder realen Wahnsinn des Mannes erzählt und das gelingt durchaus ergreifend, man fiebert mit, weiß nicht, wie es ausgeht, interpretiert jetzt immer mehr die Abschweifungen zu Beginn des Buches, die jedoch auch keine Aufschlüsse zur Auflösung geben.

»Wo ist nur der Junge von damals geblieben…« fragt er sich beim slowenischen Wirt in der Kneipe – kurz vor der Katastrophe. Eine kleine Episode kommt ihm in den Sinn: »Es war an einem warmen Frühnachmittag [,…] eine Wespe trank Wasser vom Hahn an einem kleinen Wasserkessel mit Waschwasser, aus dem es langsam tropfte. –Schlag sie tot – rief Ljubica schon mit einem dicken Bauch, als ich ihr die Wespe zeigte. –Schlag sie tot!« Und er »betrachtete die gelbschwarze Wespe, die am Hahn raufkroch, sich umdrehte und langsam kopfüber zu dem Tropfen krabbelte, der sich jeden Augenblick lösen sollte.« Ljubica besteht darauf, dass er die Wespe, dieses »widerliche Biest«  totschlagen solle. Ein Tier, das an Harmlosigkeit nicht zu überbieten war. Er weigerte sich, das Tier derart sinnlos zu töten. Und nun also, mehr als fünf Jahre später, diese Situation.

Erst im »Epilog«, also streng genommen nach dem Ende, gibt es eine Auflösung. Gina erzählt ganz kurz den Fortgang und das soll hier nicht verraten werden, obwohl das Buch auch mit dem Wissen noch aufregend wäre. Aber es zeigt doch die Achillesverse: Es ist diese schreckliche Eifersucht und Wut, die dann fast wie eine Blutspur diesen Roman durchzieht und ich hätte ihn ohne dieses Ehedrama lieber gehabt, hätte gerne die bukolische Landschaft und ihre zum Teil furchtbare Geschichte gelesen, hätte gerne mehr über die Deformierten dieses Ortes gelesen, statt dem rasenden Ehemann zuzuschauen, einem wahnsinnig werdenden, der sich »allein…auf der Welt«  und gleichzeitig umzingelt von Feinden wähnt. Aber Literatur ist kein Wunschkonzert.

»Doch mein Herz ist voller Regen«, dichtete Dragan Aleksić in einem 2008 im »Schreibheft«  erschienenen kleinen Text »für Peter Handke, Žarko Radaković und Peter Urban«. Es ist eine Anspielung auf seine Emigration in die USA, »ins windige Ohio«  und dies trotz eines »Ich will nicht zurück« . Aber es sind seine kleinen Söhne, »die vor dem Einschlafen« dem alten Haus und der alten Stadt »nachweinen«, aber später, im Schlaf dann »lächeln sie und reden – auf englisch.« Und so ist nach der Lektüre jenseits aller Geschmacksurteile klar: Dragan Aleksić ist ein außerordentlicher Schriftsteller. Bitte, Matthes & Seitz und Mirjana und Klaus Wittmann, mehr von ihm. Unbedingt.
 

Dragan Aleksić
Vorvorgestern
Geschichten, die vom Glück handeln
105 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
14,90 € / 21,90 CHF
978-3-88221-628-8

Dragan Aleksić
Zwischen Nera und Karasch

219 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
19,90 € / 26,90 CHF
978-3-88221-070-5

 


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