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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Seitwert


Ahnenparade

Lothar Struck über
Peter Handkes dramatische Epiphanien
»Immer noch Sturm«

 

Ein Ich-Erzähler sitzt auf einer Bank auf einer Wiese, in der Heide, im Jaunfeld. Ein Apfelbäumchen behängt mit etwa 99 Äpfeln gibt ihm Schutz und er kommt ins Phantasieren, ins Heraufbeschwören. Aufmarsch der Vorfahren. Sie erscheinen ihm - oder er lässt sie erscheinen? Er ist der einzige, der sie noch träumt: Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr laßt mich nicht in Ruhe. Im Laufe der Erzählung (oder ist ein Drama?) frischt der Wind auf, kommt von vorne, von hinten und von oben, wird zum Sturm (zum Erinnerungssturm sowieso). Und die Landschaft, die Kindsheimat, nein: die Bleibe, dieses wiedergeholte Kärnten verändert sich im Laufe dieser Ahnen-Epiphanien. Das ist mehr als nur die Suche nach den eigenen Wurzeln. Vielleicht ist "Immer noch Sturm" das wirkliche Nachtbuch Peter Handkes (und das vor wenigen Wochen erschienene ist nur ein Präludium).

Zeitreisen
1936 ist die erste Station der Zeitreise, oder um was es sich handelt. Die blutjunge (spätere) Mutter, die Karawankenfranzösin, ansonsten namenlos; sechszehnjährig. Der Affensohn, das Fastkind Benjamin mit seiner wunderbaren Ekellitanei. Der selbstbewusste ältere Bruder Gregor, der Einäugige, von der Landwirtschaftschule kommend, mit seinem Werkbuch vom Obstbau; ein Apfelmensch. Valentin, der Mutterbruder. Die Schwester Ursula, die die anderen spüren läßt, daß sie nicht geliebt wird. Der Vater (des Erzählers Großvater) und dessen furiose Suaden wider das allzu schnelle und beliebige Gebrauchen der großen Worte. Und seine Frau, die Großmutter, die immer allen gut sein will.

Alle sind versammelt, schweigen zusammen, reden nacheinander, sich ins Wort fallend, widersprechend, miteinander die Zeit verklärend und so 1936 flugs als unser glückliches Jahr festlegend und zwar trotz des großen Jammerns vor der leeren Vorratskammerwand, trotz der Knechte mit den Hungerlöhnen, trotz der Freigelassenen ohne Freiheit, trotz der Schlägereien selbst bei den Begräbnissen, trotz der Feinde innerhalb der friedlichsten Gemeinden. (Oder gerade wegen all dem?) Ein Jahr von Sonne und Schnee. Ein Jahr, in dem der zweite Bruder Werktag für Werktag mit unserem Vater von Bauer zu Bauer, quer über die Sau- oder Bleialpe als minderjähriger Wanderzimmermann zog. Und der jüngste Bruder ließ sich nicht von der Unkultur…verhexen und flüchtete aus dem Griechischen, dem Lateinischen, heim aus dem Deutschen, gleich heim in den Stall zu den seichenden, furzenden, scheißenden Tieren, nichts wie heim in den heimischen Dialekt […] unbeleckt von jeglicher Geisteskultur.   

Weiter mit 1942. Die Sprache, die kein eigenes Wort für "ich" kennt, ist verboten worden; gilt als Untermenschenkauderwelsch. Slowenisches wird in den Briefen der Soldaten geschwärzt. Die leeren Zeilen der Kartoffeläcker. Alle im Krieg. Benjamin, der Tundrajüngling, ist dank des Krieges erwachsen geworden. Gregors Briefe kennt des Erzählers Mutter auswendig. Sie rezitiert aus ihnen. Valentin, der andere Bruder, der Nordlichtsohn, langweilt sich in Norwegen: Wie sehne ich mich nach einer ordentlichen Arbeit, statt mich zu langweilen bis zum Endsieg! (Ironie, die kein Zensor erkannte.) Und im Dorf wird geredet. Die Tochter geht mit einem von den anderen. Es ist, so beteuert sie, Liebe. Aber ihr Vater will davon nichts wissen: Das Wort will ich nicht gehört haben. Noch niemand hat bisher bei uns hier von Liebe geredet. Und solange ich zu bestimmen habe, soll auch niemand hier so ein Wort in den Mund nehmen dürfen. Da zeigt die Tochter ihren runden Bauch: Etwas Schöneres als meinen Bauch hat unser Jaunfeld nur zu allen heiligen Zeiten gesehen!

Und dann, fast gleichzeitig, der Brief über Benjamin. Alle japsen mit, auch der Ungeborene. Benjamin ist tot. Die Worte vermodern beim Vorlesen (für Fürer und Fataland), das Entsetzen führt zum Verfluchen der Deutschländer und auch zum Verfluchen des Liebeswurms der Schwangeren und erst die Großmutter ruft ihren Mann zur Ordnung, der resigniert feststellt: Du mit deiner ewigen Versöhnlichkeit. Mit deinem Friedenswahn. Friede auf Erden? Unmöglich. (Nicht einmal eine Sehnsucht nach dem Unmöglichen.)

Fiktionalisierungen des Autobiographischen
Gewiss - der Ich-Erzähler, der dem-Wind-Ausgesetzte und Sturm-Erzeugende, ist Peter Handke. Weit holt er aus. Zurück in eine Zeit, als er noch nicht geboren war. Statt des kindlichen Wunsches wie es nach dem eigenen Tod weitergeht phantasiert Handke herbei, was vor der Geburt war. Es ist eine der schönsten Stellen dieses Buches: die glückliche Mutter – so, wie der Sohn sie später selten oder nie erlebt hat. Aber sofort wird dies mit der Todesmeldung des jüngsten Sohnes konterkariert. (Nur keine Idylle aufkommen lassen.) Die autobiografischen Parallelen sind in dieser dramatischen Erzählung (oder ist es ein erzähltes Drama?) zunächst frappierend und werden oft nur notdürftig verfremdet. Etwa wenn die Familie Svinec (bzw., dann "eingedeutscht", Swinetz) heißt (statt Siveć bzw. Siutz).

Aber das ist – selbstverständlich – nicht alles deckungsgleich mit der Familiengeschichte, die Handke immer wieder in seinen Büchern fort- und umgeschrieben hat. Schon in seinem Erstling ("Die Hornissen") spielen Briefe von und Assoziationen über den im November 1943 gefallenen Bruder Gregor eine wichtige Rolle. In "Über die Dörfer", dem "dramatischen Gedicht", kehrt ein Gregor in seine Heimat zurück, die er nicht mehr wiedererkennt. Dann in der epischen "Wiederholung" die Suche von Filip Kobal nach dem vermissten Bruder Gregor und statt seiner das Finden eines Ortes, einer Landschaft, eines Arkadien. Der Gregor Keuschnig der "Stunde der wahren Empfindung" und dessen Wiederkehr als Autor der "Niemandsbucht". Und vor zwei Jahren in der "Morawischen Nacht": Die vergebliche (Selbst-)Suche nach eben diesem Keuschnig. Die Begegnung mit dem ("richtigen") Vater, dem "Sparkassenangestellten" (diese Formulierung hat Handke später bedauert); fast eine Versöhnung mit Deutschland (freilich hier, im Ahnenaufmarsch ohne diejenigen, die der Geschichte nicht würdig sind). Schließlich die Zwie- und Verzeihungsgespräche mit der Mutter.

Weltverdruss-Polka
Ist demnach "Immer noch Sturm" nicht nur das angekündigte "Partisanendrama" zu Ehren der Widerstandsgruppen der Kärntner Slowenen, der "Grünen Kader", sondern erfüllt Handke hier auch das schon lange währende Versprechen aus "Wunschloses Unglück" "später…über das alles Genaueres" schreiben zu wollen? Und war doch tatsächlich am Ende der Erzählung von 1972 über den Freitod der Mutter von der "WELTVERDRUSS-POLKA" in den Musikboxen der Gegend die Rede, die nun im neuen Drama von der Sippe gemeinsam zum Abschluss lauthals und aus Leibeskräften gesungen wird, zwischendurch auch extra falsch (und, wie der Ich-Erzähler einräumt, sogar von ihm). Und es gibt diese Peripetie bei der Mutter: Vom noch keinmal traurig gewesen sein zum Es ist aus mit der Freunde. Dieser Umschwung betrifft nicht nur die Schwangere, sondern noch drei weitere Figuren im Stück – alle vier Kinder der Großeltern des Erzählers.

Die Brüche werden dialogisch-dramatisch aufbereitet mit Argument und Gegenargument. Welch' ein emphatisches Politikverständnis: Ja, gottgefällig zusammensitzen: das ist Tätigsein. Das ist Politik! Manchmal erinnert das an die neckischen Mauerschauer-Spielverderber-Wortspiele aus dem "Spiel vom Fragen", mal an ein griechisches Drama. Ursula, die Schwester, schließt sich den Partisanen an, geht in die Wälder zu den Versprengten, den Spärlichen. Und bei der Taufe des Wechselbalges, des Windelscheißer[s], Bankert[s] und Elefantenmenschen kommt es zur Aussprache zwischen der jungen Mutter, Valentin, dem Westmenschen und Gregor, der es Ursula gleichtun möchte und die Uniform der Wehrmacht schon verbrannt hat. Die Schwester rät Gregor ab, hat Angst vor den Sanktionen, die der Familie eines Deserteurs drohen könnten, den Lagern, in die die "Slowenen" zwangsumgesiedelt werden. Bewegend, wie Handke hier das Ringen nach dem richtigen Verhalten thematisiert, dramatisiert. Und wie die archaische Welt der Obst- und Milchbauern Kärntens durch die Weltpolitik förmlich aus den Fugen gerät (und, das kann vorweg genommen werden, nie mehr – oder nur für kurze Zeit – wiederhergestellt wird).

Zu den Waldmenschen
Bis auf die Tatsache, dass die junge Mutter mit ihrem Vaterlosen Kärnten verlassen hatte, entfernt sich Handke von der realen Geschichte seiner Familie immer mehr. Die "Tragödie" (hier lässt er den Begriff gelten) seiner Familie, dass zwei der drei Söhne des Großvaters für Hitler-Deutschland im Krieg ums Leben gekommen waren, wird verfremdet: Der fiktive Bruder Valentin will zurück zum (ungeliebten, aber unvermeidbaren) Wehrmachtsdienst. Er, dem der Krieg fast nur Gutes gebracht hat und für den die Mutter-, Vater-, Kinder-, und Haus-, Herd- und Stall-Sprache, diese verstockte, berglerische Sprache nicht identitätsstiftend ist, er, der Widerstand als zwecklos sieht und sich längst für die Westwelt entscheiden hatte (und sogar Deutschland ist…schon der Westen) - er, der schon für die Nachkriegszeit geplant hatte, kommt dann für den Virer und unser großes deitsches Fatterland um. Er, der zu Beginn davon sprach, als einziger Sohn den Krieg überlebt zu haben, wird im Laufe des Dramas entgegen der historischen Abläufe sozusagen umgebracht.

Umgebracht "zu Gunsten" von Gregor, der Ursula folgt und den Partisanen beitritt (er wird dort Jonatan genannt). Er und Ursula, die nun die Schneeige heißt (Snežena), berichten bei ihren seltenen, heimlichen Elternbesuchen, wie es in den Wäldern zugeht. Märsche durch den Schnee (immer in den Fußstapfen des Vorgehers, um nicht die wahre Stärke zu verraten). Eingeständnisse: Wir taugen nicht fürs Kämpfen, gleich welches. Die Hinrichtung eines Butterdiebes in den eigenen Reihen. Gregors Klage, dass in der Widerstandsarmee die Gebildeten fehlten. Sie besteht aus ehemaligen Holzfällern, Bauernburschen, Sägewerksarbeitern, Müllergesellen. Es fehlen ihnen die Studierte[n], Lehrer, Anwälte, Ärzte. Höchstens ein paar Priester. Sie fehlten bis zuletzt, auch und gerade den Bauernburschen.

Am Ende siegen die Partisanen und mit Hilfe der Engländer sind Österreich (und damit auch Kärnten) befreit. Gregor kehrt zurück; Ursula stirbt in der Gefangenschaft wenige Stunden vor der Befreiung. Dennoch: Der 8. Mai 1945 ist der glücklichste Tag in Gregors Leben. Der Monolog über das schöne Kärnten (Schön? Andersschön.) ist ergreifend, ja herzzerreißend. Und zum ersten Mal in der Geschichte Macht verkörpert! Ähnlich wie der Heimkehrer Pablo im Königsdrama "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" eine Lust "auf die Macht" verspürt, einer "ganz neuartige[n], bisher unbekannte[n]" Macht, so dass "dieses Wort weltweit eine andere Bedeutung bekäme". Hier fallen am ersten Tag des Friedens Republik und Königreich zusammen und alle Macht war beim Volk. Aber dann kam die Desillusionierung: Zehn Tage lang der warme, warme Frieden, und dann der kalte, kalte Krieg – der andauert.

Österreich statt Jugoslawien
Die historischen Begebenheiten erläutert Handke nicht. Tatsächlich wurde am 7. Mai 1945 in einem offiziellen Akt die Regierungsmacht an die demokratischen Parteien Kärntens, die vor dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland dort bestanden, übergeben. Erst einen Tag später eroberten die Briten Klagenfurt und waren damit den Tito-Partisanen nur wenige Stunden voraus. Am 16. Mai wurde das Volksbefreiungsparlament, welches sich vermutlich für den Anschluss Kärntens an Jugoslawien aussprechen wollte, von den Briten aufgelöst. Man berief sich auf die Abstimmung von 1920, in der sich 59,01% für einen Verbleib Kärntens in Österreich aussprachen (40,96% votierten für Jugoslawien); eine erneute Abstimmung wurde abgelehnt. Gleichzeitig wurde die Befehlsgewalt der jugoslawischen Partisanentruppen in Kärnten der Sowjetunion übertragen. Diese befolgte die Wünsche der Westmächte und forderte die jugoslawischen Truppen auf, das Land zu verlassen. Kärnten wurde den weltgeschichtlichen Zeitläuften "geopfert"; der "Kalte Krieg" zwischen der Sowjetunion und den Alliierten führte erst später zu den bekannten Auseinandersetzungen. Da waren die Weichen in Österreich längst gestellt.

Diese wenigen Tage zwischen der Machtübergabe an die Lokalpolitik und dem potentiellen Vereinigung Kärntens mit dem sich bildenden, neuen Jugoslawien ist der "warme Frieden". Diese Perspektive löste die von Handke so schwungvoll und eindrucksvoll erzählte Hochstimmung aus; in typischer Weise mit der Konjunktion "Und" die Sätze verbindend erzählt. Ein kurzes Schwelgen (in dem sogar das blinde Auge Gregors wieder gesund wird).

Wer eine Art Verklärung oder gar Heroisierung des Kärntner Widerstands erwartet hatte, geht fehl. Kein Superlativ. Kein Heldentum; das brechtsche Pathos ist Handke zuwider, auch wenn es für eine "gute Sache" wäre. Und dennoch: Fast immer reden, deklamieren, handeln die Figuren dialektisch, zweifelnd, schwankend. Diese Widerständler waren gespalten ob ihres Tuns und auch sie waren vom Krieg und dessen merkwürdiger Regeln geprägt, ja: verdorben. Sie sahen ihren Widerstand als schiere Notwendigkeit.

Am Ende sitzt der Nachfahr, der Maler von Einfaltspinselbilder[n] ohne den Apfelbaum auf der Wiese. Kein Schutz mehr am und im Baum. Das Symbol für das archaisch-arkadische Kärnten ist verschwunden. Für Gregor-Jonatan, der mit seinem ewigen Jugoslawien, hält die politische Entwicklung das gleiche Schicksal bereit wie für den Nachfahren Handke 1991 – beide "verlieren" ihr Jugoslawien. Und so ist die "Weltverdrusspolka" am Schluss das wahre Kontinuum für denjenigen, der sich in die Geschichte begibt, bewegt und schließlich doch nur bewegt wird. Die Geschichte ist die Siegermacht. Ist das beschreibend? Oder resignativ? Handke lässt es offen – und hier liegt das tschechowhafte, das spielerisch-komödiantische in diesen Figuren, in diesem Stück. Einem Stück Welt-Literatur. 
Lothar Struck

 

Peter Handke
Immer noch Sturm
Suhrkamp
Klappenbroschur
166 Seiten
15,90
ISBN: 978-3-518-42131-4


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