Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
© by Herbert Debes & Kurt Otterbacher

Klassiker-Archiv - Kurt Tucholsky
(*
09.01.1890 in Berlin am 21.12.1935 in Hindås)
 

 

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Der Mensch

Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser,
aus der Weltbühne 24, vom 16.06.1931

Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion. Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele, sowie auch ein Vaterland, damit er nicht zu übermütig wird.
Der Mensch wird auf natürlichem Wege hergestellt, doch empfindet er dies als unnatürlich und spricht nicht gern davon. Er wird gemacht, hingegen nicht gefragt, ob er auch gemacht werden wolle.
Der Mensch ist ein nützliches Lebewesen, weil er dazu dient, durch den Soldatentod Petroleumaktien in die Höhe zu treiben, durch Bergmannstod den Profit der Grubenherren zu erhöhen, sowie Kultur, Kunst und Wissenschaft. Der Mensch hat neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören. Man könnte den Menschen geradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört. Wenn er weise ist, tut er damit recht: denn Gescheites bekommt er nur selten zu hören. Sehr gern hören Menschen: Versprechungen, Schmeicheleien, Anerkennungen und Komplimente. Bei Schmeicheleien empfiehlt es sich, immer drei Nummern gröber zu verfahren als man es gerade noch für möglich hält. Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.
Um sich auf einen Menschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man ist dann wenigstens für diese Zeit sicher, dass er nicht davonläuft. Manche verlassen sich auch auf den Charakter.

Der Mensch zerfällt in zwei Teile:
In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der nicht denken kann. Beide haben sogenannte Gefühle: man ruft diese am sichersten dadurch hervor, dass man gewisse Nervenpunkte des Organismus in Funktion setzt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Lyrik ab. Der Mensch ist ein pflanzen- und fleischfressendes Wesen; auf Nordpolfahrten frisst er hier und da auch Exemplare seiner eigenen Gattung; doch wird das durch den Faschismus wieder ausgeglichen. Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen hasst die anderen Klumpen, weil sie die anderen sind, und hasst die eigenen, weil sie die eigenen sind. Den letzteren Hass nennt man Patriotismus.
Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne; sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Menschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht. Schwache Fortpflanzungstätigkeit facht der Mensch gern an, und dazu hat er mancherlei Mittel: den Stierkampf, das Verbrechen, den Sport und die Gerichtspflege.
Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden. Doch hat noch niemand sich selber beherrscht; weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der regierungssüchtige Herr. Jeder Mensch ist sich selber unterlegen.
Wenn der Mensch fühlt, dass er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet dann auf die sauren Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr. Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind, und Junge begreifen nie, dass sie alt werden können.
Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.
Im übrigen ist der Mensch ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bellen lässt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er tot.
Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.

Gruß nach vorn
Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser in der Weltbühne vom 6.4.1926

Lieber Leser 1985 -! Durch irgendeinen Zufall kramst du auf der Bibliothek in dieser Zeitschrift, findest die Jahreszahl, die du eben erst geschrieben hast – wenn sie bis dahin nicht einfach 85 heißt –, stutzt und liest. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen: du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem sehr absticht, auch dein Gehirn trägst du ganz anders ... Ich setze dreimal an: jedes Mal mit einem andern Thema, man muß doch in Berührung kommen ... nicht wahr? Jedesmal muß ichs wieder aufgeben – wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bißchen über den Zeitpegel ... da, ich wußte es: du lächelst mich aus.
Alles an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben, und meine Grammatik und meine Haltung ... ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gern. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie es gewesen ist, neumodisch Gesalbtes und altmodisch Vergessenes ... Nichts. Du lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus der Vergangenheit, und du weißt Alles besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Zeitdorf bewegt?
Genf? Shaw-Premiere? Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf Alles, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.

Schmeicheleien? Leider nicht. Selbstverständlich habt Ihr die Frage: "Völkerbund oder Pan-Europa" nicht gelöst; Fragen werden von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt Ihr fürs tägliche Leben dreihundert wichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid Ihr genau so dumm, genau so klug, genauso modern wie wir. Was ist von uns geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, was du grade in der Schule gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, daß es herüberkam; was wirklich groß ist (davon ungefähr die Hälfte, und um die kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bißchen, im Museum): wir verstehen uns wohl nicht recht. Es ist das Selbe, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden sollte. "Ja, gehts gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hats wohl sehr gezogen ...?", und was man so sagt.
Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir Beide verstehen uns schon, denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich "Bismarck" sage und du dich erst erinnern mußt, wer das war, grinse ich heute schon vor mich hin: du kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Unsterblichkeit sind ... Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt frühstücken gehen wollen.
Guten Tag. Das Papier ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unsrer Landrichter, da, jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern ... nun, es ist auch schon so alt. Geh mit Gott, oder wie Ihr das Ding dann nennt. Wir haben uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind zerlebt, unser Inhalt ist mit uns dahin gegangen. Die Form war Alles.
Ja, die Hand will ich dir noch geben. Wegen Anstand. Und jetzt gehst du. Aber das rufe ich dir noch nach|: Besser seid Ihr auch nicht als wir und die Vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine –


Wolfgang Hering / Kurt Tucholsky
Sprache ist eine Waffe
Sprachglossen
rororo
Originalausgabe
192 S., Tb
€ 6,50 / sFr 12,10
ISBN 978-3-499-12490-7

Kurt Tucholsky glossierte Beamtendeutsch und Kasinojargon näselnder Leutnants, spürte Modewörter und entbehrliche Fremdwörter auf. Ein berlinisch-bissiges Kapitel Sprachgeschichte der Weimarer Republik, geschrieben von einem unerschrockenen und hellsichtigen Chronisten. Dieser Band stellt erstmals rund fünfzig Sprachglossen und Sprachschnipsel zusammen, die in den Anmerkungen durch wichtige Briefstellen ergänzt werden.'
 

 

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