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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 







Von »Herrlichkeiten« und »Biestern«

Peter Handkes »Versuch über den Pilznarren«

Bemerkungen von Lothar Struck
 

Schon 1999 ging es bei Peter Handke um einen ekstatischen Pilzsucher. In der »Geschichte« (so der Untertitel) »Lucie im Wald mit den Dingsda« ist von einem vor sämtlichen »Waldkleintieren« stinkenden, anfangs zitternden, skurrilen »Gärtner« die erzählende Rede, der am Rande einer Großstadt mit seiner 7jährigen Tochter Lucie und seiner beruflich erfolgreichen, umso mehr in der Welt stehenden Frau (»Kriminologin!«) lebt. Es ist an-rührend, was und vor allem wie dort von diesem Mann erzählt wird. Zum (anti-jünger'schen) Waldgänger und Baummenschen wird der Mann, der meist »Vater« genannte (Vater von Lucie, der menschlichen Hauptdarstellerin des Buches - eine Liebeserklärung an seine Tochter Léocadie), zuweilen erinnernd an jemand, der vom Mittelalter direkt in die Moderne katapultiert wurde. Da ist einer, der »gebückt wie ein Jäger auf einem Pirschgang« und »stockend und nach allen Seiten witternd wie das gesuchte Wild in Person« »querwaldein spurend und ausschwärmend« »seine Schleifen zwischen den Bäumen« zieht und nicht nur um die »Herrlichkeiten«, seine »Dingsbums«, zu entdecken (das schnöde Wort vom »Pilz« fällt nie), sondern auch noch allerlei anderen »Kram« und »Krimskrams«, der für dieses oder jenes Verwendungen finden könnte (zu bestaunen vielleicht im herrlichen Buch von Lillian Birnbaum).   

Dennoch: so überaus erfolgreich ist er nicht, denn schließlich fand Lucie in den wenigen Malen, in denen sie mit dem Vater »durch die Wälder kurvte«, mehr von diesen »Waldwichten« und dies »nicht bloß deshalb, weil sie so viel kleiner und dem Erdboden näher war, sondern auch, weil sie dort draußen im Handumdrehen ganz Suche wurde, so wie man ganz Auge und Ohr wird«. Aber Handke begnügte sich nicht mit der Erzählung dieser Vater-Tochter-Pilze-Idylle. Eines Tages wird der Vater in Handschellen aus dem Haus abgeführt. Er soll konspirativ gegen das Staatsoberhaupt ein Verbrechen geplant haben. Die Mutter, die Polizistin, weiß Bescheid, vermag jedoch nicht zu helfen. Es ist an Lucie, der Furchtlosen, die schon vorher ihren Vater vom Zittern befreit hatte. Mit einem Schock »Waldbodenwichte«, die sie dem König darbietet, löst sie den Vater aus. Und so wird ein Märchen daraus in dem Schiffe problemlos bergauf fahren (Fitzcarraldo lässt grüßen), Könige sich an Pilzen freuen, die Todesstrafe überall abgeschafft wird und eine neue, bessere Welt entsteht.

Eine »Geschichte für sich«

Zwischen den fürchterlichen Eruptionen der jugoslawischen Kriege hatte Peter Handke dieses wunderbare, mit subtiler Selbstironie durchzogene Meisterstückchen erschaffen, ab und an ergänzt von stimmigen Zeichnungen (wer schreibt eigentlich einmal den Essay über Handke als Zeichner?) und, im Hörbuch, begleitet von Musik mit der Maultrommel. Und nun also der »Versuch über den Pilznarren«. Auch dies ist eine Geschichte, und zwar eine Geschichte für sich, so der Untertitel.  Eine bloße Nacherzählung sei dies - eigentlich sonst nicht eben meine Sache, schreibt der Erzähler. Dies an einer Stelle, als es darum geht, das Kippen des Pilzfreundes, -sammlers, -suchers (und -finders) hin zum Narrentum, zur Manie, zu erzählen. Denn hier ist es kein schrulliger Vater, der sich in den Wald geflüchtet hat um seinen Platz dort zu finden. Es ist ein Strafanwalt beim Internationalen Strafgericht, jemand, der aus der Schönheit des jeweiligen Angeklagten und dem Duft des Waldes seine Inspiration für die Plädoyers nutzt, die zum Freispruch führen. Von diesem Straf- und Staranwalt erzählt das Ich, der Schriftsteller, oder vielleicht eher Schreiber, der Jugendfreund. Es wird eine Geschichte der Leiden und der Leidenschaft - und eine Geschichte der Heilung.

Fast chronologisch wird dieses später (vorübergehend) in Pilznarrentum ergehende Leben erzählt. (Erzählt, nicht gedeutet!) Von klein auf habe er sich zum Schatzsucher bestimmt gefühlt, als eine Art Auserwählter. Was ihn nicht daran hinderte, geldversessen wie er war, die Schätze seiner Suche, die Eierschwammerl (vulgo Pfifferlinge) zu verkaufen, um mit den Erlösen seinen Wissendurst mit Büchern zu stillen. Es folgte das Studium, der Beruf; er wird zwar kein Reicher, aber »gut situiert«. Hier verloren sich die Jugendfreunde vorübergehend aus den Augen. Der bekannte Anwalt, in Maßanzügen, englischen Maßschuhen und mit wechselnden Seiden-krawatten zum Weltmann geworden, schickte irgendwann, unverhofft, ein Lebenszeichen an den Schriftsteller. Er lese gerade die Geschichte vom Leben in der Niemandsbucht und finde sich selber darin miterzählt. Immer wieder finden sich Bezüge zu anderen Handke-Büchern.

Langsam entwickelt sich das Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten wieder neu. Und dann gibt es eine Stelle; diese Stelle. Und man fragt sich, wer denn sonst noch derart emphatisch, so bar jeder Furcht vor dem Pathetischen den Fund eines Steinpilzes, ja was: beschreiben?, erzählen?, nein: zu illuminieren vermag. (Zitieren wäre hier Barbarei.) So, dass man für die Sekunden der Lektüre glaubt, dem Wichtigsten im Leben plötzlich teil- oder, besser, bildhaftig geworden zu sein. Der erste Steinpilz, ein Fabelwesen - ein »Einbruch in die Ewigkeit« der Zeit, für den die christlichen Mystiker noch Gott brauchten. Handke genügen dafür Dingsda, Wildwüchslinge (oder, in den anderen Versuchen, eine Jukebox, der Flug einer Amsel am geglückten Tag oder der Stille Ort). Es ist der Segen auf Erden, nicht der Segen der Erde.

Da gibt es etwas, das nicht dem profanen »Markt« anheimfällt, ein Schatz der Natur, der sich nicht züchten lässt. Steinpilze (und all die anderen Köstlichkeiten, die man sozusagen »am Rande« findet) verweigern sich der Ausbeutung, der kommerziellen Produktion. Wider die gezüchteten Champignons, sie sind einfach nur wesenlos. Der Genuss der Findlinge ist ein archaischer Akt, ein Verschmelzen zwischen Natur und Mensch, dem ein Abenteuer voraus-geht, ja bedingt.  

Wunderbar vor allem dieses Erzählen abseits des Lebenslaufs, vom Hocken im Gehölz und dieses vom Schauen und Hören…ins Sinnen kommen. Die Bewegung der Baumkronen im Wind, selbst lautlos, sphärisch durcheinander […]; jene Bewegung schenkte ihn ein in den, in die Himmel. Der Suchende verwandelt sich; sein Zeitgefühl wird ein anderes. Und in den Wäldern gewann er sein Maß und wurde Teil einer episodische[n] Geselligkeit; er, der eigentlich chronisch Menschenscheu[e] (dies im Gegensatz zu seinem Beruf stehende) ist im Wald zugleich erster und letzter Mensch.

Aus den »Herrlichkeiten« werden die »Biester 

Durchaus mit Suspense werden die Verwandlungen des Anwalts, Familienmenschen und Pilz-kundigen zum Pilznarren, zum Gierigen und Süchtigen erzählt. Dabei trug die Leidenschaft zunächst noch zum Erfolg im Beruf bei, beförderte diesen noch. Aber da ist dann der Übergang im Buch des Lebens, in dem er allmählich nicht etwa alle seine beim Tribunal erwirkten Freisprüche eingetragen sah, sondern einzig seine Expeditionen kreuz und quer durch die Wälder. Als er – wohl Jahre später - einen Kongress der Pilzforscher besucht (mit meist ältlichen Mykologen) sieht er in ihnen, den Experten, allesamt Verlorene, zwar beschwingt und gutherzig, aber eben nicht seinesgleichen. Er, der Pilznarr, sei, so die Wahrnehmung, einzigartig. Schließlich ist es für ihn mehr als nur ein Steckenpferd und noch mehr als Forschungsgegenstand.

Wie so oft hat das Hochgefühl also keinen Bestand. Aber Handke geht hier einen Schritt weiter als in seinen anderen Versuchen. Der Pilzsucher verfällt, unmerklich und doch ohne Wahl, wird vom Schauer zum Punkt-Sklaven, der nichts mehr anderes kennt, sich sogar noch von Frau und Kind entfremdet und den Erfolg im Beruf verliert. Immer wieder versucht er, sich am eigenen Schopf aus seiner Sucht loszureißen: Er schmäht die Pilze, simuliert das Nichtsuchen nur um insgeheim doch zu finden und ausgerechnet jetzt entdeckt er eine Art geheime[r] Plantage. Wie weiland Goethes Zauberlehrling, der die wassertragenden Besen nicht mehr aufhalten konnte, wird er fast eingesponnen von Erdfaltern, welche die wilde Pilz-Plantage anzeigen und eine Ernte ohne Ende ermöglichen, ja erzwingen. Aus den Schätzen werden Biester und Gesindel. Und nun? Nichts wie weg aus dem Wald! - aber wie? Ein anderer »Großer Fall«, fragt der Autor (anspielend an eine andere Erzählung Handkes). Schließlich verschwindet der Pilznarr im Dezemberschnee und man weiß nicht, hat man das nun selber geträumt oder gelesen?

Wie kühn und gleichzeitig elegant zerlegt sich da jemand in seiner, in einer Geschichte. Handke ist sowohl Ich-Erzähler wie auch Pilznarr, Schriftsteller wie Strafanwalt, fast nüchterner Chronist wie auch ein Süchtiger des Findens. Der Pilznarr und der Schriftsteller, der Besessene und der Weise. Aber es ist natürlich nicht so einfach, denn er ist auch immer noch ein Anderer; ein Erfinder. Wie sonst nur in den großen Selbstvergewisserungs-erzählungen »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Die morawische Nacht« verwandeln und überlagern sich die Figuren und nehmen auch Bezug auf Protagonisten anderer Handke-Bücher, wie zum Beispiel den Apotheker von Taxham, womit  dieser Versuch über die anderen Erzählungen dieser Reihe hinausgeht.

Der Pilzsammler, der Souverän, begann, zu verachten, wurde hoffärtig und verlor das Maß; mit dem Raumverlust ereignete sich auch der Maßverlust. Albert Camus bestimmte das Maß als konstituierendes Element zum Unterschied zwischen Revolte und Revolution. Wer das Maß hatte, war - so Camus - immun für die Jenseits- wie Diesseitsverheißungen und damit für die unheilstiftenden Ideologien. »Und hüte dich vor den Ideen // Sie sind vernarrt in den Tod«, so dichtete der unlängst von Handke übersetzte und verehrte Dimitri T. Analis. Im Maßverlust des Anwalts droht bei Handke die Entfremdung mit der Welt.

Am Ende ist er aus seiner Verschollenheit zurückgekehrt und auf fast magische Art und Weise geheilt. Wie schon in der Dingsda-Erzählung wird die Geschichte zum Märchen und wendet sich zum Guten. Beide, Schriftsteller und Ex-Pilznarr, stapften nun in einer Querwaldeinexpedition durch die Landschaft des Vexins, dem Fluss Troësne, über Chavençon zum Gasthaus L'Auberge du Saint Graal und Peter Handke ist vermutlich der einzige Erzähler, der Märchenhelden in einem in sozialen Netzwerken präsenten Gasthaus essen und einen Weg zurücklegen lässt, der einigermaßen im Netz nachzuvollziehen ist.

Leicht mag der Leser bei Handkes souveränem Spiel mit den Charakteren der Figuren die zahlreichen Naturbeschwörungen in dieser Erzählung überlesen. Auf die Schilderung der Entdeckung des ersten Steinpilzes wurde bereits hingewiesen. Und diese kraftvoll-schönen Sätze der glücklichen Periode, welche die schönsten Stellen im Buch liefern. Oder die Heimkehr des Sammlers mit seiner »Beute«, eine ganz andere als die des Jägers (der uralte Antagonismus Bauer / Jäger!). Wunderbar, wie der Pilzsuchende ein Pilzbuch in immer neuen Variationen entwirft (und niemals schreiben wird; genau so wenig wie das Anti-Pilzbuch nach seiner Rückkehr). Immer wieder gibt es auch Bedrohungen oder Erinnerungen daran für das Paradies: der Hallimasch etwa, der Zerstörerpilz. Oder die Querwaldprescher und Metall-schatzsucher. Und auch die fast schon obligatorischen Bombentrichter. Nicht zuletzt: Die scheinbar schnöde Alltäglichkeit (die erst ganz zum Schluss wieder in ihr Recht gesetzt wird).

Wie selten bei Handke durchzieht dieses Buch ein kleiner, aber laufend präsenter Streifen Humor und so manches, was zwischen Absurdität und Fatalität changiert und droht, ins Feierliche zu entwischen, wird sanft ins Komische überführt, etwa als er sich als Anwalt beim Aufstehen zur Urteilsverkündung wie alle erhob und einen riesengroßen Schirmpilz auf dem Kopf trug. Anders als in den anderen Versuchen, die eine persönliche Genealogie des Glücks erzählten, entwickelt sich hier ein diesbezügliches Über-Maß. Während in der Müdigkeit oder auf dem Stillen Ort das Glück ein ephemerer Augenblick blieb (der durch das Schreiben Dauer bekam), droht im und beim Pilzesammeln eine Obsession, die alles andere am und im Leben ausblendet. Eine Parabel auf die Konsum- und Überflussgesellschaft? In diese Deutung passt es, wenn sich beim Pilznarren irgendwann die Ekstase nicht mehr durch das Finden einstellt, sondern vor allem dann, wenn er nicht fündig wurde, was gleichzeitig aufgrund seiner Erfahrung immer seltener geschah. Das erinnert an einen süchtigen Spieler, der im Verlust umso rasender weiterspielt. Oder wird hier allegorisch auf die Gefahren der Hyper-individualisierung und des Spezialistentums angespielt, das in den Solipsismus führt? 

Denn am Ende sitzen die beiden mit zwei anderen zusammen in der Gaststätte (wieder das Zusammensitzen bei Handke, wie schon in der »Abwesenheit« und »Immer noch Sturm«.) Sie raten die Zeit. Wir irrten uns alle vier. Aber wer sich am stärksten irrte und am gewaltigsten verschätzte, das war er. Die Zeit und das Vergehen in und mit der Zeit ist ein essentieller, im Textgewebe nicht sehr aufdringlicher, aber umso wichtigerer Bestandteil dieses Versuches. Der Pilznarr hatte in seiner schlimmsten Phase Angst, keine Zeit mehr zu haben. Die Heilung geschah, ihm diese Zeit wiederzugeben. Auf dem Weg zum Gasthaus fühlten sich beide in der Zeit, endlich.

Beim Zurücklegen des Buches überlege ich wie man wohl den Lesenarren heilen könnte, der glaubt, keine Zeit mehr für das Lesen all der (scheinbar) für ihn geschriebenen Bücher zu haben. Und gibt es überhaupt »Lesenarren«? Oder ist das schon ein Pleonasmus zu »Leser«?

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem Buch »Versuch über den Pilznarren«.

Artikel online seit 12.10.13
 

Der Text kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Peter Handke
Versuch über den Pilznarren
Suhrkamp
Leinen,
217 Seiten
18,95 €
978-3-518-42383-7

Lillian Birnbaum
Peter Handke.
Portrait des Dichters
in seiner Abwesenheit

Mit einem Vorwort von Peter Hamm und einemText von Peter Handke
müry salzmann verlag
104 Seiten
60 Farb- und 4 SW-Fotos
kartoniert mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-99014-042-0
EUR 28,00 | CHF 47,50

 


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