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Nein, keine traurige Geschichte.
Eine schöne. Eine sehr schöne. Aus der Zeit, als das Schreiben noch geholfen hat. 

Lothar Struck über Peter Handkes Erzählung
»Die morawische Nacht«


Beim Lesen von »Die morawische Nacht« schwingen die Leseerinnerungen dieser im doppelten Sinne »selbst-bewegten«, sich bewegenden, Handke-Protagonisten mit, beginnend vielleicht mit »Der kurze Brief zum langen Abschied« (1972), ein Bildungs-, Such- und Selbstfindungsroman im beinahe noch klassischen Sinn (und bereits ein bisschen leicht frauenphobisch), weiter mit Valentin Sorgers fast phlegmatischer Selbstversöhnung in »Langsame Heimkehr« (1979), die Weiterschreibung dieser An- oder Heimkunft im Drama »Über die Dörfer« (1981) durch die Figur des Gregor, dann Filip Kobals Suche nach dem verschollenen Bruder, ein »zum Staunen gemächliches Dahin« in »Die Wiederholung« (1986), der märchenhaft anmutenden, scheinbar ziellosen Exkursion (oder Prozession?) der Vierergruppe aus »Die Abwesenheit« (1987). Danach sein wohl menschenfreundlichstes Stück und vielleicht eines der grossartigsten Theaterstücke der letzten Jahrzehnte, die fast lyrische, heitere Reise zum sonoren Land im »Spiel vom Fragen« (1989), später dann der abrupte Weggang eines Apothekers (auch ein Fluchtspielen wie hier?) aus »In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus« (1997), danach der mäandernden Durchquerung der Sierra de Gredos durch eine Bankfrau (»Finanzfürstin«) im »Bildverlust« (2002), welches den Leser – gleich seiner Protagonistin – buchstäblich verirren lässt – und von den Reiseerlebnissen, nein: Reisewahrnehmungen (die fast immer Geh-Impressionen sind), aus Handkes Journalen (insbesondere »Am Felsfenster morgens« [1998] und »Gestern unterwegs« [2005]) erst gar nicht zu reden.

Diese Bewegungen, weit entfernt vom »Reisen« im klassischen Sinn (man sage bloss nicht, Handke sei ein Reiseschriftsteller), eher ein Unterwegssein, schimmert auch in den Büchern hervor, in denen der Protagonist an einem Ort verharrt – wobei dieses Sesshafte nur Produkt der vorigen Expeditionen ist; nicht selten nur Zwischenstation. So ist der sich (vorübergehend) niedergelassene Autor in »Mein Jahr in der Niemandsbucht« (1994) ein Erkunder, Forscher, Entdecker seiner unmittelbaren Umgebung (und die Fortschreibung dann in »Lucie im Wald mit den Dingsda« [1999], märchenhaft und gleichzeitig ganz schön sich selbst auf den Arm nehmend). Vorher der nachdenklich-reflektierende, allen Glücksversprechern endgültig Absagende aus dem »Versuch über den geglückten Tag« (1991), einem »Wintertagstraum« und endlich (die Aufzählung ist nicht vollständig) der im wilden Garten seine Geliebten erwartende Don Juan (2004) – all diese kaum weniger unterwegs als jene, die ihr Heil (ein Wort, das heute immer noch Abwehr hervorruft und daher gerade von Handke verwendet wird) in der Bewegung, im Erkunden, im Schauen suchen.

»Die morawische Nacht« ist Unterwegserzählung, Erzählung über das Erzählen (es wird auktorial erzählt, was Distanz und Nähe schafft), Erzählen von Metamorphosen; Märchen, Halluzination, Nachtmahr, Erzählung über die Vergeblichkeit des Schreibens, über die Sinnlosigkeit des Schriftstellerseins, vom Glück des Schreibenlassens und damit natürlich über die Freuden des Schriftstellerseins und dessen Notwendigkeit (aber dazu später).

Ein Ex-Autor, jetzt Hotelbesitzer, lädt seine Freunde auf sein Hausboot ein, jene »Morawische Nacht« um ihnen von seiner langen Reise zu erzählen. Er, der abgedankte Schreiber, der Ehedemautor, wird noch einmal zum Erzähler, nein: er kommt zum Erzählen (dem oralen Erzählen) zurück. Er lebt schon lange in der Enklave »Porodin«, umzingelt von Feindseligen(?), von Steinewerfern (bei der Abreise); inmitten eines verkrachten Landes. Ein Eindringling, mit Verstreuten eines ehemals grossen Volkes – den Walachen (nennen wir sie hier so, und die Enklave ist natürlich (wirklich?) eine serbische(?) Enklave im Kosovo oder Bosnien. Obwohl das natürlich alles nicht so einfach ist, denn das Buch spielt, wie so viele Handke-Bücher der letzten Jahre, in einer Zukunftszeit (hier ist es um das Jahr 2015; vielleicht sogar noch später und sogar die Katalanen wie die Trandnistrier und die Talkalmüken sind inzwischen ein Staatsvolk geworden).

Litanei des Abschieds
Und alles greift ineinander. Aus dem ehemaligen Autor und Bootsherr  wird mit der Zeit ein Mitgeher in der Steppe oder unser Erzähler, einmal sogar der gesamteuropäische Autor (freilich nur für einen kurzen Augenblick der Euphorie), ein Wanderer und schliesslich ein Ortsdurchquerer. Reisen (dieses Reisen) verwandelt - und erweitert.

Ist die »Morawische Nacht« also ein weiteres Steinchen in der Unterwegswelt, der Suche nach dem verlorenen Augenblick, dem weiten Horizont, nach der Leere als dem wahren Ort, und nach einer »Gemeinschaft der Verstreuten«? Ja und nein. Denn dem Leser schliesst sich mit dem neuen Buch derart trefflich der (imaginäre) Kreis, dass es der Äusserungen Handkes, dies sei sein letztes, grosses episches Projekt, nicht bedurft hätte, so offenkundig ist das.

Besucht doch dieser Ehemalige noch einmal die Stätten seines Wirkens, seines Schaffens, seines Liebens, seines Lebens und die ihn wichtigen Personen und mehr als einmal ist vom letzten Mal die Rede (oder – Selbstironie ist ein Motiv in diesem Buch! – vom vielleicht letzten Mal oder allerletzten Mal, und darauf noch ein allerallerletztes Mal).

Handke verfällt dabei nie in Melancholie bei der Erzählung dieser für seine Figur so prägenden Orte und Menschen. (Was für Ortserzählungen!) Fernab von jeglicher Idyllenprosa oder dem üblichen Lamento, es sei nicht mehr so wie »früher«. Hinweg damit! Und doch: Auf der langen Reise begegnen ihm so manche Zeichen der Vergangenheit nicht mehr. Das Dorf auf der Insel, dem Ort seines ersten Romans (Cordula ist Krk) – es existiert nicht mehr. Die ehemalige Geliebte – eine alte, verhärmte und schimpfende Bettlerin ist sie geworden.

Im Karst, wo sich nur noch drei Versprengte (Anfangs waren sie noch eine geradezu stattliche Gruppe gewesen) treffen, die der Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden grossen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa nachgingen und eigen- oder starrsinnig (der Trotz!) daran festhalten, der einstige grosse Zusammenhang sei vielleicht doch weniger ein Zwang als eine mit der Zeit und mit den Generationen gewachsene Zusammengehörigkeit gewesen, selbst dort hält Mitteleuropa, diese herrschende Norm Einzug. Der Ort hatte seine Zeit gehabt (das alte Karstweltreich ist vorbei), die Stille war nicht mehr das allein ihn Bestimmende. Nur noch der Aufwind unten vom Meer, der unvergleichlich sanft über die Hochfläche fächelte und das Himmelslicht, weitergegeben auf dem Erdboden von dem löchrigen Karstkalkstein mag die Erinnerung erzeugen, nein: die Wieder-Holung; für einen ephemeren (Glücks-)Moment.

Und die Menschen, die er sucht; aufsucht? Auch diese zum letzten Mal? Der Politiker muss Pablo aus den »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« sein (kein Name fällt). Heute ein Möchtegernmaler, nachdem ein Geistesgestörter ein Attentat verübt hatte, zittrig, redselig, seine Schussnarbe jedem zeigend, ohne Freunde. Filip Kobal – er ist Filmregisseur und Drehbuchschreiber geworden und auch für ihn hat die Literatur verloren. Und Gregor Keuschnig, jener Diplomat aus »Der Stunde der wahren Empfindung« (1975), der in der Niemandsbucht der (bereits damals reichlich desillusionierte) Schriftsteller war und inzwischen heimgeflüchtet? Er findet ihn nicht – man findet sich nicht. Nur einen Mann, der ihm äusserlich ähnlich sieht. Noch einer in diesem Treck der Abwesenden. Der Erzähler nimmt dies ohne Rührung und ohne Verbitterung auf dieser Litanei des Abschieds (und des Neubeginns?).
Ja, tatsächlich: Dieses Buch ist aber auch versöhnend. Und wie. Versöhnung beispielsweise mit Deutschland, von dem er überrascht ist: doppeltes Staunen. Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben, weder vorher noch nachher. Dabei traf er in der Gegend niemanden sonst, der las.
Versöhnung auch mit seinem Vater, den er nie kennenlernte und nie kennenlernen wollte  (verdammte Vaterlosigkeit) – wobei: nein, Versöhnung ist das falsche Wort – es ist ein Loslassen, ein Ziehen-lassen, ein seinen-Frieden-mit-ihm-machen. Frieden, endlich. »Der ewige Friede ist möglich« sagt Nova in »Über die Dörfer« und neulich meinte Handke in einem Interview dieser Satz sei »hirnrissig« und weil er dies so sagt, gilt er, der Satz, immer noch. Und immer weiter (warum sonst weiterleben?). 
Und auch kein schlechtes Wort über die Heimat, das kleine Land Österreich. Obwohl oder trotz des Besuchs in Gutenstein und dem Totengespräch mit Raimund (dem Handke schon im »Spiel vom Fragen« mit der Figur des »Mauerschauers« huldigte) – keine Larmoyanz; kein solipsistisches Kokettieren.»Im Ort des Selbstmörders ist kein Platz für ein Wort mit 'Tod'. Und ausserdem: Ja, weißt du denn nicht, lieber Freund, dass es das Eigen des vernünftigen Menschen ist, nicht über den Tod nachzudenken, sondern einzig über das Leben?«

Weiter zum Heimatdorf. Auch hier erkennt er nichts oder kaum etwas wieder, sieht es als »Samarkand" mit morgenländischer Bevölkerung. Ein ungastlicher Empfang; alles stellt sich gegen ihn (Heimkehr oder drohende Lieblosigkeit?) und nicht einmal ein inneres Grüssen stellt sich am Grab seiner Vorfahren ein. Stattdessen Schuldgefühle – auch und vor allem der Mutter gegenüber (der Leser denkt sofort an »Wunschloses Unglück«), sie im Stich gelassen zu haben, und mit seinen Schreibversuchen habe der Jugendliche seinerzeit…das häusliche Leben…sogar zerstört. Aber dann doch irgendwann ein in-den-Schlaf-fallen und anschliessend der Besuch im Haus des Bruders, einem globalen Wanderarbeiter, erkannt nur durch Eingebung (wie so oft in diesem Buch) – und unterirdisch dort,  im ehemaligen Apfelkeller, ein Gotteshaus (insgeheim, nicht offiziell jedenfalls, nirgends angezeigt) für Christen und die Neuzugezogenen, die der Moschee allmählich überdrüssig Gewordenen. Und es kam mehr und mehr vor, dass…die Fernfahrer, die Einheimischen und die Zugezogenen, so wie oben in der Schenke sich unten in der Katakombe zusammen fanden. Und? Nichts sonst. Nichts sonst als der gute Wille, und die Menschen guten Willens!

Gemeinschaft der Gutwilligen
Ja, so sieht Handkes Gesellschaft, nein: Gemeinschaft der Gutwilligen, der »Verstreuten«, der Leser, der Stadtrandbewohner, der Zu-Fuss-Geher aus. Ein feindloses Miteinander – alles weit jenseits dessen, was man »Volk«, »Nation« oder »Reich« oder auch Mitteleuropa nennen könnte (…eure freie Welt kann mir gestohlen bleiben sagt der Buschauffeur in einer Wutrede und spielt dabei »Apache«). Das Unterwegssein der Protagonisten bei Handke ist auch immer sehnsuchtsvolles Entdeckenwollen dieser virtuellen (virtuellen?) Gemeinschaft.

Und welche Bilder ihm dabei gelingen. Als der Ex-Autor mit dem Bus aus der Enklave praktisch in die Welt fährt – jenes Miteinanderstehen und gleichzeitig Distanz haben. Vor allem dann, nach einer Pause, kurz vor der Weiterfahrt der Blick auf eine Menge Umherstehender, und aber dann, wir zurück im Bus, dieser im Losfahren, eine, eine einzige Bewegung in ihr, der Menge, der Überzahl, von einem einzelnen. Einer von uns drinnen, auf seinem Fenstersitz, hatte plötzlich, so als sei nichts, als sei nichts gewesen, als sei nie etwas gewesen, hinausgewinkt…Der Ex-Autor, indem er dem Blick des Winkers, der Winkerin, folgte, fand dann auch heraus, wem. Klar ausserdem, dass ein Kind gemeint war? Nein, bei einem einzelnen Alten oder Erwachsenen hätte er sich ebenso gewundert. Jedoch das Winken zielte, ja, es zielte, auf ein Kind, ob zufällig oder nicht. Und das Kind, fast versteckt in der Masse, es winkte zurück…Was war das freilich für ein Winken gewesen!

Das Kind, aus dem »Feindvolk«…Es schämt sich. Es ist ihm peinlich. Es wird rot. Es möchte wegschauen. Es möchte überhaupt weg. Und es möchte ganz und gar nicht weg. Die zitternde Sekunde, dieser Augenblick des Glücks, dieser Moment des vollkommenen Einsseins mit sich und der Welt – um dieser ephemeren Momente willen kreist dieses Buch, kreist Handkes Werk und manchmal gelingt es ja, und dann rollt ein Ball aus dem Gebüsch (wieder denkt man an Peymanns Inszenierung vom »Spiel vom Fragen«), grüsst ein Läufer, ein Schuhband wird geknüpft, eine Zeitung sinkt im Wasser auf den Grund und nirgends, »nie wo«, ein Faust unterwegs auf der Pfingstschneise (sic!) geschweige denn ein Mephisto, ein Nero, eine Medea…und schon gar keine Spur von Ku-Klux-Klan, Dschingis Khan, Karla vom Bruck, Gringo Busch, Papa Benedetto, Josip Fischerman, Magdalena Ganzhell, Bernhard-Hinrich Glückskraut, Ossim Weichsohn… (und wer errät jetzt diese Damen- und Herrschaften?)

Oder das Erzählen der Busgesellschaft beim Picknick, vor oder nach oder während eines Friedhofbesuchs. Oder wie der Ex-Autor in einem Zug eine junge Leserin kennenlernt (Sie lebte sichtlich mit dem Buch da, buchstabierte es nach, befragte es, befragte sich, war mit ihm verbunden, wurde uns war mit ihm eins.). Oder das Gehen am Stadtrand und das Verdingen als Helfer, um etwas zu verdienen.

Aber auch dann das Zelebrieren des Alleinseins (dem Alleinsein verfallen). Beispielsweise mitten im Fussballstadion, so mittendrin wie nur möglich, wusste er sich…ausgegrenzt. Mochte er mit den Unbekannten rundherum noch so viele komplizenhafte Zuschauerblicke austauschen: Er blieb allein. Und auf dieser Rund- und Zickzackreise mehr als einmal die Ambivalenz der Sehnsucht einerseits von Menschenlosigkeit als Bedingung (nicht nur beim Obstdiebstum, was so duftig locker, wie nebenbei erzählt wird). Und nur dann diese nahen Horizonte zu erleben, die Notwendigkeit der gar nicht vertrauten Einsamkeit – andererseits die ständige Frage des Schmerzes des Ausgestossenseins: Menschenfeind oder Weltliebhaber? Was passt zum Schwermütigen (eine Zuweisung von Peter Hamm, die Handke hier phasenweise übernimmt)? Oder ist beides notwendig, ja: gleichzeitig Voraussetzung? Oder ist es (war es) nur ein Wesen des Schreibens, diese gewisse Gesellschaftsunfähigkeit (nur »gewisse«?); eine Menschenfeindschaft… unheilbare? Und wie sagt man ihm auf dieser Reise: Wirst nie zur Menschheit gehören.

Und dann jener Mitgeher Melchior, der sich rasch zum hämischen Verhöhner wandelt – und auch diese Stelle selbstironisch; selbstquälerisch. Die dichterische Sprache ist tot, so der Peiniger, Spiegelvorhalter, Spielverderber, es gibt sie nicht mehr, oder nur noch als Nachahmung, als Gehabe…Schluss mit eurer Schreiberwürde. Wenn heute Schreiber, dann entschlossen würdelos. Ja, wir von heute sind endlich die Würde los…kein Wort und keine Sache sind für uns tabu. Und es geht weiter: Einzig meine Sprache, die Zeitungssprache, lebt. Allein sie trifft ins Schwarze, kommt auf den Punkt, ist unverschnarcht. Melchior entpuppt sich als Journalist, oder reicher Verleger, vielleicht sogar Medienmogul (ein Anti-Burda? ein Burda?). Und du, mein Teuerster: auf den Müllhaufen der Geschichte mit dir. Den letzten Rest deiner Ehre hast du ohnehin schon verloren, indem du auf dem Balkan lebst, und den Balkan liebst. Was vielleicht einmal das Besondere war an dir und deinesgleichen, das – höre, du Möchtegern! – Stiftende, das ist nur noch Abweichlertum. Nicht einmal eine Minderheit unter den Schreibenden und Veröffentlichenden seid ihr paar, die auf dem Dichterischen besteht.

Melchior, der Mephisto, der nach den Augenblicken so schön nun sein Recht fordert: Vor allem keine Sprach- und Schreibprobleme. Arrangieren, das heisst: Die Sätze für gleichwelchen Sachverhalt ebenso für gleichwelche zu beschreibende Person, samt deren Psyche, stehen von vornherein zur Verfügung…nur kein Zögern mehr…Wenn jemand von der Seele anfängt, vom Wind, von der Liebe, vom Inbild, lache ich ihm nicht nur ins Gesicht, sondern mache ihn fertig. Ich glaube ihm nicht. Er lügt. Also Büchersprache gleich Journalistensprache. Anders keine Wahrheit, anders keine Realität, so Melchior.

Das ist Handkes »Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere« (so der Titel einer Erzählung aus dem unlängst wieder aufgelegten, fulminanten und wunderbaren Erzählbandes »Noch einmal für Thukydides«). Denn vorher beklagt, nein: postuliert der Ehemalige noch einmal, dass sein Schreiben ein Hinauszögern war (ist?), ein Verpassen des rechten Moments, ein nicht sofort 'in media res' gehen und genau das war es jetzt, was ihm in der Ablehnung durch Melchior als gegenwärtig erschien. Und dadurch wird dieses ganze Buch, dieses mäandernde, sich verzweigende Erzählen ein Gegenentwurf zu dieser fast alles beherrschenden Journalistensprache.

Von den Übergängen
Und soviel Flehen war in der Welt lässt er Filip Kobal sagen, stummes, soviel Flehen, in so vielen Augen wie vielleicht noch nie. Und soviel Seufzen war zu hören, für den, der Ohren hatte zu hören, schamhaftes, sprachloses, wie noch nie. Und das ist Handkes – ja, was? Botschaft? nein – Gebot für diese (und für die spätere) Welt: Und die stumm Flehenden und die sprachlos Seufzenden verlangten, ja lechzten danach, gefragt zu werden, und ebenso, Antwort zu bekommen. Und dieses Fragen und dieses Antworten ist – das ist Handkes Überzeugung – eben nicht das, was uns so einfällt, wenn wir Verlangen hören, spüren, fühlen. Nicht mit den Mitteln des profanen Materialismus alleine ist dem letztlich beizukommen – daher die Ablehnung an das entseelte, welt-fremde, das sich nur noch als Wirtschaftsraum (oder wer weiss was) definierende Mitteleuropa (und dieses Mitteleuropa, so Handke schon vor vielen Jahren, stellt eben gerade KEINE Verbindung zwischen den Völkern her).  

Da soll, da muss es mehr geben. Vermutlich würde Handke das Attribut des (philosophischen) Existentialisten ablehnen, aber auf eine gewisse Art kommt dies seiner Intention am nächsten. Die Geworfenheit als Möglichkeit begreifen, ja: als Pflicht auffassen – und das Dasein als Dasein neu zu entdecken, zu retten und loszulösen aus der faden und vernebelnden Alltäglichkeit des »aktuellen« Daseins. Zuweisungen wie »Innerlichkeit« oder ein profanes »Zurück zur Natur« greifen da vollkommen ins Leere.

Handkes Protagonisten sind »aus-der-Welt-Gefallene«, Gott-Verlassene, Verlorene in einer lieb- und im emphatischen Sinne leblosen »Um-Welt«. Intuitiv wehren sie sich gegen diese sie umgebende "Allerwelt" – eine Grundbedingung, eine Sehnsucht (nein, Handke scheute nie die sonst so abgedroschenen Wörter). Und der dann folgende Prozess, der als Ziel, nein: Zweck immer eine (die!) Verwandlung ist, ein Übergang in ein anderes System, Übergehen von der einen Welt in eine zweite, die, für ihre besondere Zeit, mit genau so grossem Recht Welt genannt werden konnte, Übergehen in ein anderes Weltgeschehen. Daher diese Unterwegs-, Geh-, Busfahr-  und Reisebilder – die »Erkenntnis" erfolgt durch eine »Wegscheide des Sehens, Fühlens und Wissens« (Botho Strauß). Sie, die Bedürftigen, werden zu Pfadsuchern – nicht Pfadfindern. Und der Leser ist zu diesem Pfadsuchen eingeladen – das Finden muss er dann selber besorgen (als könnte Literatur 'Ergebnisse' liefern, wie all die falschen Literaturpropheten weiss [und schwarz] machen wollen).

Allerdings, »die weitaus grösste Gefahr…in diesen Zuständen meiner Entrücktheit«, so lässt Handke den Gastgeber fast demütig sinnieren: »In Gestalt eines Ausschnitts, einer Strasse, eines Hauses, einer Plakatwand, eines Menschen erscheint mir, über die ganze Welt hinaus, hinter oder jenseits von ihr, das Weltganze im Sinn von etwas Ganzgebliebenem. Wider mein, wie sagt man, besseres Wissen erscheint mir eine heile Welt, und diese heile Welt drängt sich mir auf als die höhere, als die gültige Wirklichkeit«. Und dann »fehlte nur, dass mir in dieser Entrückung die Welt zur besten aller möglichen Welten würde.«

Langsame Heimkehr ins nicht mehr existierende Land
Die Enklavenmetaphorik ist in mehrfacher Hinsicht adäquat: Zum einen ist das verlorene Subjekt inmitten der Lieblosigkeit eine »Enklave« (er [oft eine 'sie'] ist noch nicht vollends und auf ewig »verloren«). Und dann sucht dieses Subjekt inmitten all diesen Lebens nach diesem Einssein mit der Welt, und das ist dann ein Schuhputzer in Split oder die so vielen verschiedenen Kopfbedeckungen auf dem Markt in Skopje oder die Eiche in München oder der bewaldete (und später wald-abgebrannte) Mont St. Victoire oder die Jukeboxen in Spanien oder die Viehsteige in Slowenien, die kleine Rätsel aufzugeben scheinen oder die Bahnhofsgesellschaft inmitten Spaniens oder die Glühwürmchen in ich weiss nicht wo oder ein schräges Leuchten aus den Wolken. Und schau, das war manchmal das Leben, und alles zerfranst und auch das - war das Leben.

Einiges geschieht noch in diesem Buch; viel Launiges und selbstironisches. Ein Symposium der Lärmgeschädigten (Amokläufer aus Wehrlosigkeit) in der spanischen Steppe (und dann erzeugen diese weiteren Lärm, der sie dann merkwürdigerweise nicht stört). Oder das Weltmaultrommeltreffen in einem Gasthaus (seltsame Gesellschaft der fast Blicklosen, Schüchternen dort). Oder das Verfolgen des Ex-Autors durch einen sich stets chamäleonhaft anpassenden Hund (welcher Karasek-Dummkopf mag da diesmal einen Kritiker erkennen wollen?). Oder – und vor allem – diese Begegnungen mit der Frau, dieser geheimnisvollen Fremden vom Hausboot, der Manchmal-Erzählerin – mal Feindin, mal kommende Geliebte; Schönheit und Güte und gleichzeitig, nein: später (oder früher) Angst und Grauen (und selten ist Handke wohl intimer gewesen in seinem Erzählen über die Frauen und selten, nein, vermutlich nie kindlicher).

Und am Ende, zurück auf dem Balkan, die lange (nicht mehr langsame) Heimkehr am Tag des Marienkäfers…nach diesem der Tag der Weinbergschnecken…der Tag der Smaragdeidechsen…der Tag der Schwalben, die dir unversehens hoch oben in dem Blau des Himmels erschienen, von nirgendwoher geflogen, wie von dem Himmelblau selber hervorgerufen, und zwar zuhauf, und so binnen einer Sekunde den eben noch leerblauen Luftraum durchkreuzend, -segelnd, -kurvend, -flatternd, -flitternd. Und dann der Tag der Bienen in den weissen Kleeblüten, die davon zitterten. Und dann der Tag der sich paarenden Libellen…
Nach dieser langen Zeit des Reisens ist auch die Enklave keine Enklave mehr. Der Ex-Autor wird zum Schiffsbedürftigen, den »Neuen« gehört nun der Planet allein. Die Enklavengeräusche und vor allem –gerüche: Es war einmal? Dafür das ständige Alarmschrillen aus den geparkten fabrikneuen Autos. Fehlten nur noch Fussgängerzone und das Lächeln tibetanischer Mönche. Fehlten sie?
Aber auch hier ein Versöhnungston, waren doch die Protagonisten des Neuen in den »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« noch Aliens, Ausserirdische, »Raumverdränger«, so lässt es der Autor nun geschehen, »gehorcht« seinem Gesetz (es ist mein Amt, nicht zu handeln), konzidiert sie waren von hier, und hielten die Stellung im Jetzt.
Und plötzlich ist dann alles nur ein grosser Traum? Das Hausboot noch nicht ausgeschaukelt? Der Ex-Autor doch noch ein Autor? »Porodin« war nie eine Enklave gewesen. Die balkanischen Enklaven lagen woanders. Die Erzählung wurde aufgeschrieben? »Kommt, her mit euch, ich muss euch eine traurige Geschichte erzählen!« Eine traurige Geschichte? Man würde sehen. Nein, keine traurige Geschichte. Eine schöne. Eine sehr schöne. Aus der Zeit, als das Schreiben noch geholfen hat. Lothar Struck

Alle kursiv gedruckten Wörter und Passagen sind Zitate aus dem Buch:
Peter Handke Die morawische Nacht
Erzählung / Suhrkamp / 561 Seiten, Gebunden
Euro 28,00 [D] / Euro 28,80 [A] / sFr 47.00 / ISBN 978-3-518-41950-2

 

Peter Handke
Die morawische Nacht
Erzählung
Suhrkamp
561 Seiten, Gebunden
Euro 28,00 [D] / Euro 28,80 [A] / sFr 47.00
(ISBN 978-3-518-41950-2)

 

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