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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Koste es, was es wolle!

Das Außerordentliche von Thomas Hardys Roman »Jude the Obscure«

Von Wolfram Schütte

 

In seiner generell empfehlenswerten Klassiker-Reihe hat der Hanser-Verlag eben den letzten Roman des südenglischen Erzählers & Lyrikers Thomas Hardy (1840/1928) unter dem Titel »Jude Fawley, der Unbekannte«, neu übersetzt von Alexander Pechmann, herausgebracht. Der deutsche Titel ist - anders als bei allen bislang übersetzten Vorgängern des 1895 erschienenen  Romans – keine Übersetzung seines Originaltitels »Jude, the Obscure«.

Vermutlich hat das damit zu tun, dass »Jude« im Deutschen eindeutig scheint, während die von Hardy so bezeichnete Hauptfigur gar kein Jude ist, sondern nur diesen selten gebrauchten Vornamen trägt. Ist der Originaltitel schon einigermaßen rätselhaft (weil ja das englische »obscure« eine umfängliche Reihe von Bedeutungen hat), gleicht nun der deutsche Titel des Buchs insofern dem englischen, als auch er »obskur« ist. Aber warum Jude Fawley »der Unbekannte« genannt wird bzw. sein soll, wird man erst recht nach der Lektüre nicht verstehen, die uns ja aufs Intimste mit dem in dem fiktiven Dörfchen Marygreen aufgewachsenen & noch als junger Mann im nicht weit entfernten Christminster (Oxford) gestorbenen Jude bekannt gemacht hat.

Wenn man schon einen einigermaßen adäquaten deutschen Titel für diesen sowohl spätviktorianischen als auch antiviktorianischen Roman gesucht hätte, dann wäre wohl z.B.  etwa »Die Ehen von Jude & Sue« treffender gewesen, um die thematische Eigenart dieses mehrfachen Liebesromans anzudeuten. Der Übersetzer Alexander Pechmann hat leider weder einige derzeitige Anglizismen (anderswo, nichtdestotrotz) noch auch umgangssprachliche Flapsigkeiten (zum Tragen kommen, ich liege wohl völlig falsch) vermieden, & auch seine Versuche, den Zungenschlag des südenglischen Dialekts auf Deutsch zu treffen, sind »aweng« dürftig.

»Viktorianisch« ist der teils auf dem dörflichen Land, teils im kleinstädtischen Kirchspiel Salisbury, teils im intellektuellen, akademischen Oxford situierte umfangreiche Roman, weil der Autor nur indirekt, verklausuliert von der Sexualität sprechen kann, unter & an der seine Protagonisten offensichtlich  leiden & scheitern. »Antiviktorianisch« aber ist der Furor, den der Erzähler gegen die bigotte, christologische englische Klassengesellschaft & vor allem gegen die Institution der Ehe in seinem einst skandalösen Erzählwerk entfacht.

Der Herausgeber Pechmann sieht in seinem Nachwort den Einfluss Schopenhauers am Werk. Er tritt allerdings beim Engländer aggressiver auf als z.B. in den 6 Jahre später erschienenen, also etwa gleichzeitig entstandenen »Buddenbrooks«. Fungierte die Philosophie Schopenhauers in Thomas Manns Debütroman als ideologisches Gleitmittel für die letzte Phase  des »Verfalls einer Familie«,  so polemisiert der Pessimist Thomas Hardy (ohne ihn namentlich zu erwähnen) mit Schopenhauers radikaler Mitleids-Ethik gegen die bürgerliche & religiöse Welt-wie-sie-ist.

Der junge Jude war von einem Bauern für einen Sixpence am Tag angestellt worden, um mit einer Rassel Lärm zu machen, damit er die Saatkrähen von einem Feld vertreibe. Aber als er begreift, dass die Vögel vom Überfluss des Ackers auch leben können & er aus Tierliebe sein Verscheuchen  einstellt, verliert er seine Arbeit & wird von dem Bauern verprügelt. Dabei hatte ihn doch der verehrte Schulmeister Phillotson  (vor seinem Weggang nach Christminster) noch ermahnt, »gut zu Tieren und Vögeln zu sein & so viel wie möglich zu lesen«. Daran hält sich der sensible, herzensgute Jude - der familiär verwaist bei seiner verwitweten Tante aufwächst, nachdem die Ehe seiner Eltern gescheitert war.

Wie ein Damoklesschwert hängt die bürgerliche Ehe (& ihr Scheitern) über dem Lebensweg Judes, seiner ersten Frau Arabella, seiner Cousine Sue & deren Ehemann Phillotson. Alle vier Personen werden von dem Erzähler in immer anderen Konstellationen & Beziehungen miteinander gezeigt.

Ja, mit geradezu mathematischer Präzision entwirft Thomas Hardy eine kaleidoskopisch wechselnde Ansicht von den unterschiedlichen Dialektiken, die sich für Liebe & Sexualität in der viktorianischen Gesellschaft durch das Zwangssystem der Ehe ergeben. Metaphorisch gesprochen, verfährt der Schriftsteller Hardy mit seinen vier Personen wie ein  Musiker des 19. Jahrhunderts in einem Streichquartettsatz  gemäß dem Sonatensatz mit seinen musikalischen Themen (Exposition, Durchführung, Reprise) verfährt.

Am Problemlosesten kommt die ebenso skrupellose wie sinnliche Dorfschönheit Arabella durchs Leben mit ihren vier Ehen auf zwei Kontinenten. Am Komplexesten wird das Thema jedoch anhand von Judes Cousine Sue erzählerisch »durchgeführt« (um es musikalisch auszudrücken). Sue & Arabella: in diesen typologisch & physisch einander gegensätzlichen Frauengestalten glimmt noch etwas die geläufige Polarität von Heilige & Hure nach.

Der Steinmetz Jude lernt seine ihm bislang unbekannte Cousine Sue als selbstbewusste junge Frau in Christminster kennen. Dort arbeitet die hochgebildete ironische Liebhaberin des antiken Lebensgefühls ausgerechnet in einem Devotionalienhandelsgeschäft. Aber auch Judes  einstiger Dorflehrer Phillotson, der seine anglikanischen  Karriereambitionen in der Universitätsstadt aufgegeben & in einem Vorort Christminsters wieder als Lehrer seinen Lebensunterhalt verdient, hatte sich in die intellektuelle Sue verliebt & sie beruflich gefördert. Er möchte aus ihr eine Grundschullehrerin machen, um später  mit ihr sich als Lehrerehepaar im Schuldienst auf dem Land bewerben zu können. Sue, die von dem menschenfreundlichen Phillotson ebenso begeistert ist wie es ihr Cousin als dessen Schüler gewesen war, sieht sich in einem Dilemma: zwar liebt sie ihren gleichaltrigen Cousin, dem älteren Förderer aber hat sie sich als Ehefrau versprochen – als sie Jude noch nicht kannte.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, nachdem Sue aus Loyalität den Schulmeister geheiratet hat – dabei hätte Jude gar kein Konkurrent seines Lehrers sein können, weil er selbst ja schon verheiratet war: mit Arabella, die ihn sich schon in Marygreen buchstäblich geangelt hatte, wenn sie auch bald danach mit ihren Eltern nach Australien ausgewandert war, um der offensichtlichen Mißheirat mit Jude zu entkommen. Diese sowohl von ihr erpresste wie im beiderseitigen Einverständnis stillgestellte eheliche Verbindung hatte Jude vor Sue verschwiegen, als er sie in Christminster kennen & lieben gelernt hatte.

Thomas Hardy wollte den »tödlichen Kampf zwischen Geist und Fleisch« darstellen, entwickelte aber (von heute aus gesehen) eine umfassende Auseinandersetzung über die heterosexuelle Liebes-, bzw. Ehebeziehungen unter den repressiven gesellschaftlichen Lebensbedingungen seiner Zeit, die wesentlich geprägt wurden von der internalisierten Moral der vor allem auf dem Lande Ton angebenden anglikanischen Kirche.

Wie  einst da Ponte & Mozart bei ihrer abgründig-pessimistischen Ansicht von Liebe & Sexualität in »Cosí fan tutte« den quasi experimentalen Charakter des Opernplots gegen alle realistische Wahrscheinlichkeit wagten, so setzt sich der erfolgreiche Romancier Hardy in seinem radikalsten Roman über alle erzählerischen Realismen hinweg. So oft wie in »Jude Fawley« ist in keinem Roman je davor oder danach die Institution der Ehe als die Handlung vorantreibendes erzählerisches Motiv verwendet worden; und in keinem Roman des 19. Jahrhunderts wurden die Ehen ihrer Protagonisten & Protagonistinnen gewissermaßen zu Stationen einer vergleichenden Studie über männlich-weibliche sexuelle Leidenschaften & selbst geschaffene Leiden.

Dabei rückt Sue im Laufe der Romanentwicklung immer stärker in den Fokus des Erzählers. Oder ist es ein heutiger (männlicher) Leser, der  ihre Person & ihren Charakter interessanter findet als den Titelhelden? Zumindest ist Sue die einzige im Quartett der Hauptpersonen, die im Laufe ihrer wechselnden Beziehungen mehrfach einen radikalen moralischen Wandel durchmacht.

Mit Lug & Trug, mit sinnlichem Zugriff & raffinierten Winkelzügen benutzt Arabella die Männer wie eine Bienenkönigin die Drohnen. Sie ist berechnend & brutal. Jude & Phillotson dagegen gleichen sich, trotz des Altersunterschieds, in ihrem liebevollen Verständnis für & ihrer Rücksichtnahme auf die höchst eigenwillige Sue. Sie wird als eine freigeistige, faszinierende »moderne« junge Frau vorgestellt. Allerdings sind ihre »kapriziösen« erotischen Beziehungen nicht frei von Hysterie. So geht sie in die aus Loyalität geschlossene Ehe mit dem älteren, sie selbstlos fördernden Lehrer – ohne eine Ahnung von der damit erwarteten sexuellen Beziehung zu haben. (Bei jemandem, der die antike, will sagen unchristliche Liebe feiert, ist das eine seltsame psychisch-physische »Verklemmtheit«.)

So bleibt sie jungfräulich in ihrer ersten Ehe & wollte es auch danach in der eheähnlichen Verbindung mit Jude bleiben, wenn dieser – durch Arabellas Sinnlichkeit – »erfahrene« Liebhaber sie nicht doch noch  zur Mutter seiner zwei Kinder gemacht hätte.  Phillotson war so verständnis- & liebevoll gewesen  – nachdem ihm Sues Neigung zu Jude bewusst geworden war –, seine eben angetraute junge Frau, vor den Augen der pikierten ländlichen Gesellschaft, großzügig Jude zu überlassen. Mit ihm lebte sie, wenn auch in der ländlichen Gesellschaft schief & scheel angesehen, in »wilder Ehe«. Sue ist sogar willens, »Väterchen Zeit« neben ihren zwei eigenen Kinder aufzuziehen. Diesen eigenartigen Namen trägt ein immer ernster Junge, von dem Arabella behauptet, er sei die von ihr bislang verschwiegene, in Australien geborene & dort aufgewachsene Frucht ihrer Ehe mit Jude. Eine unheimliche, quasi der »gothic novel« entsprungene bizarre & befremdliche Figur betritt da im letzten Drittel die Szene.

Thomas Hardy macht von ihr den schockierendsten Gebrauch als Erzähler. Denn der in die Liebesgemeinschaft Jude/Sue aufgenommene rätselhafte (entwurzelte, identitätslose) australische Junge verübt auch noch ein in der gesamten englischen Literatur einzigartig- absurdes Verbrechen. Es ist so abscheulich, dass es Sue gewissermaßen um den Verstand bringt & sie sowohl erneut Phillotson als auch der anglikanischen Religion zutreibt, weil sie sich, wegen ihrer »wilden Ehe« mit Jude, schuldig fühlt an dem grausigen Handeln von »Väterchen Zeit«

Nicht genug mit diesem wechselvollen Walstatt von Liebe, Ehe & Sinnlichkeit, bei deren erzählerischen Entfaltung die beiden sensiblen Männer auf der Strecke bleiben, hat Hardy seinem »Jude the Obscure« auch noch den Klassenkampf  aufgebürdet, den beide Männer aus der Unterschicht »wieder in Christminster« verlieren. In einer  Parallel- & Kontrastmontage (die wahrhaft »filmreif« ist) setzt der Autor den einsam an seiner Schwindsucht sterbenden Jude gegen die prunkvoll öffentlich  inszenierten Feierlichkeiten, bei denen die adligen Stifter der Colleges akademische Ehrentitel verliehen bekommen.

Melodrama & Satire durchmischen den Schluß eines außergewöhnlichen Romans. Thomas Hardy hat sowohl im Glaubensverlust als auch im akademischen Scheitern von Jude & Phillotson offenbar autobiographische Verletzungen verarbeitet. Pechmann, der viele der subkutanen Assonanzen  benennt, die der Autor aus der Bibel oder der Literatur seinem Roman einverwoben hat, erwähnt auch, dass der zuletzt in einer unglücklichen  Ehe lebende Hardy seinen letzten, um nicht zu sagen ultimativen Roman nicht (wie immer zuvor) seiner Frau als ersten Leserin vorlegte. Sie hätte – hat sie erklärt – von seiner Publikation abgeraten. Der Autor hatte also die richtige Ahnung. Jedoch wer »Jude Fawley, der Unbekannte« bis zu seinem bitteren Ende gelesen hat, wird auch wissen, dass sich Thomas Hardy diese literarisch komplexe, politisch wagemutige, gesellschaftlich provozierende Abrechnung mit seiner Zeitgenossenschaft nicht hätte aus der Hand nehmen lassen: koste es, was es wolle!

Artikel online seit 26.04.18
 

Thomas Hardy
Jude Fawley, der Unbekannte
Roman
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
Hanser Verlag, München 2018
624 Seiten
36,00 €

 


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