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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Die Protokollführung des alltäglichen Elends

Alice Schmidt fixiert die anfänglichen Lebensumstände des Schriftsteller–Ehepaars

Von Wolfram Schütte

 

Etwas Ähnliches wie die Tagebücher der Alice Schmidt dürfte es in der gesamten deutschen Literaturgeschichte nicht geben (& in der Weltliteratur?). Auch in dieser Hinsicht war Arno Schmidt (zusammen mit seiner Ehefrau Alice) einzigartig & das Paar lebenslang solitär: eine auf Gedeih & Verderb miteinander verschworene erimitäre Lebens-, Arbeits- & Liebesgemeinschaft, die jahrelang nur auf dem Existenzminimum gelebt wurde.

Nie werden wir erfahren, ob die beiden kaufmännischen Angestellten, als sie 1937 im schlesischen Lauban heirateten, bereits damals projektiert hatten, was sie als mittellose »Umsiedler« am Rande der Lüneburger Heide  – nachdem sie sich Ende 1945 in Westdeutschland wieder vereint hatten – dann gemeinsam in die Tat umsetzten: die Existenzform der Schriftstellerei. Selbstverständlich war Arno der »Schriftsteller« & die drei Jahre jüngere Alice allerdings nicht nur sein »Bettschatz« (Aja Goethe), sondern vielmehr auch: Sekretärin, Mitarbeiterin, erste Leserin & Hausfrau: im umfassendsten Sinn seine unabdingbare Lebensbegleiterin (wo nicht gar metaphorisch gesprochen: sein Pilotfisch.)

Diese engste symbiotische Verbindung rechtfertigt auch die Edition ausgewählter Teile der Tagebücher, die Alice mit Wunsch & Wissen ihres von ihr abgöttisch bewunderten »Nödel« geführt hat. Vor allem jene Tagebücher 1948/49, als sie ihre schriftstellerische Lebensarbeitsgesellschaft gründeten (& die BRD gegründet wurde & die Schmidts SPD gewählt hatten), sind von herausragendem Interesse - nicht nur für den engeren Kreis der »Arno-Schmidt-Aficionados«. Zum einen, weil diese täglichen Notate in schonungsloser Offenheit & Genauigkeit die armseligen Lebenssituationen vieler »Heimatvertriebenen« auf dem Land im Nachkriegswestdeutschland festhalten; zum anderen, weil Alice Schmidt (oder doch der Exaktheitsfanatiker Arno?) für dieses tägliche Protokoll ein Raster entwickelt & exekutiert hat, das dem »Stoff« (dem gelebten Alltag) eine Form gab, die an ein (maritimes) »Logbuch« erinnert. Der heutige Nachleser kann sich – ganz ähnlich wie aus den »Snapshots« des fiktionalen Frühwerks – aus Alices Wort- & Zeichenkonzentraten den Alltag des Paars imaginativ rekonstruieren.

So beginnt jedes Tagesprotokoll mit Wetter-& Temperaturangaben, vermerkt Briefwechsel,  Post- & vor allem (Care-) Paketeingänge (oder deren Ausbleiben), Spaziergänge, Pilzsuchen & -Orte bzw. Umfang  der Fündig- & Findigkeit, Kauf- & Verkaufshandlungen, Alkoholgenuß, Speisen – aber auch Liebesakte (»L«). Sie werden ebenso akribisch in dem von Alice entworfenen Schema von Kürzeln & symbolischen Zeichen vermerkt, wie z.B. Schachspiel, englische Sprachübung, Diktat oder abendliche Vorlesung z.B. aus Hauffs Märchen, Dickens, Shakespeare, Moritz' Anton Reiser oder einem (geliehenen) Band von Brehms Tierleben.

Dieses Zeichensystem, das sowohl der Serialität des Alltags entspricht als auch der Platzersparnis dient – denn Papier war unendlich kostbar für die Mittellosen in ihrem einen Zimmer – gibt diesen protokollarischen Notaten eine eigene ästhetische Anmutung & erschüttert durch die unermessliche Armut der beiden.

Allerdings sind die bedrängten Lebensverhältnisse jedem kundigen Arno-Schmidt-Leser aus dessen frühen Kurzromanen & Erzählungen wie »Brand's Haide«(1951) oder «Die Umsiedler« (1953) in fiktionaler Form detailliert bekannt. Als deren autobiographisches Unterfutter darf man die jetzt von Susanne Fischer edierten Tagebücher 1948/49 ansehen. Sie gewähren mannigfachen Einblick in das Leben, Sinnen & Trachten des Paares, das in einem Parterre-Zimmer eines frei im Wald stehenden Mehrfamilienhauses bei Cordingen zusammen mit anderen Flüchtlingen lebt, bzw. überlebt Dank »der nimmer fehlenden Hilfe« seiner 1933 emigrierten Schwester Lucy Kiesler.

Sie schickte aus den USA regelmäßig Pakete & veranlasste Care-Pakete (standardisierte Nahrungsmittel-Sammlungen). Die mit einem jüdischen Kommunisten verheiratete ältere Schwester sorgte dafür – wie es ja in der Widmung des literarischen Debüts »Leviathan« hieß –, dass er »nicht verhungerte«. Aus dem Verkauf z.B. von Zigaretten & Wäsche aus Lucys Paketen erwirtschafte Alice auf dem Schwarzmarkt das einzige Bargeld, das sie hatten. Davon konnten/mussten sie sogar auch noch (zum eigenen Erstaunen) das Geld für die Portokasse abzweigen.

Sie war nötig für ihren regen Brief-& Paketverkehr mit Bibliotheken zu Recherchen für ihre e Fouqué-Biographie & die »Historische Revue« Massenbach – zwei (weltfremde, gewissermaßen esoterische) literaturhistorische Projekte, für die sie keinen Verlag zu interessieren vermochten. Zwar hatte Rowohlt Arno Schmidts dreiteiliges Erzählungs-Debüt »Leviathan« angenommen; aber weil sich dessen Druck & Publikation hinzog, stürzte der Verlag den zwischen Hybris & Selbstverzweiflung schwadronierenden & tobenden Autor in Depressionen. Ohne Alice Schmidts tätigen Lebensmut, ihre Geduld &  bewundernde Zuneigung für »das Genie« an ihrer Seite, hätte »der Herr Hypochonder« mit seiner »krankhaften Menschenscheu« die Demütigungen & Demotivationen wohl kaum überstanden.

Erlebnishöhepunkte (vor allem auch für die kommunikative Alice) waren die Besuche von Rowohlt-Lektoren & Rundfunkredakteuren bei den Schmidts in Cordingen & der zweitägige Ausflug des »einzigartigen« Autors in spe mit Gattin nach Hamburg. Die Begegnung mit dem exzentrisch-vulgären Verleger Ernst Rowohlt, der freimütig bekennt, den »Leviatan« nicht gelesen zu haben (so hat Arno sich generell die Verleger vorgestellt), gipfelt in einem gigantisch-grotesken Besäufnis aller Beteiligten.

Immerhin brachte dieses denkwürdige Hamburger Abenteuer für die beiden eine achtmonatige feste Einnahme von 75 Mark. Angesichts eines errechneten monatlichen Mindestgeldbedarfs von 60-70 Mark war diese Aussicht gewissermaßen eine erste literarisch erwirtschaftete Lebenssicherheit & literarische Anerkennung durch den allerdings von Arno Schmidt höchst kritisch betrachteten Verlag & Verleger.

Der von Susanne Fischer – sie hatte ja zuvor schon 3 Tagebücher herausgegeben – vorzüglich edierte, weitgehend aufgeschlüsselte & kommentierte Corpus der frühen Tagebücher – ist auch vor allem aufschlussreich für das intime Selbstverständnis Arno-& Alice Schmidts. Obwohl beide atheistisch & areligiös waren (statt »gottseidank« musste Alice »Jupiter« danken), fallen bei diesen pragmatischen Rationalisten ihre Abergläubigkeit & ihre gelegentlichen Orakelbefragungen ebenso auf, wie das romantizistisch-juvenile Konzept der (immerhin!) Dreißigjährigen, den Monaten erfundene Namen zu geben & sich wechselnde Spitznamen zu verleihen. Oder ein anderes Beispiel für eine Romantisierung des engsten Alltags: Eine kaputte Glühbirne wird von Alice »als Belohnung für gute Dienste noch als Stopfpilz verwandt« (wobei man heute wohl den »Stopfpilz« erklären müsste).

Daneben fällt Alices Sprachspielerei mit dem Schlesischen auf – eine lokale »Bodenhaftung«, die der Schriftsteller literarisch nicht kultivierte. Auch werden Spannungen zwischen Arnos nach Quedlinburg gezogener Mutter & Alice deutlich. Der nach 12 Ehejahren immer noch »feurige Liebhaber« (Alice am 12. Hochzeitstag) will seine Frau auf brutalst mögliche Weise verteidigen. Alice kann gerade noch Arnos Postkarte an seine ungeliebte Mutter verhindern, auf der er ihr vorwarf, seine »Kindheit vergiftet« zu haben, weil er von seine Mitschülern als »Hurenjunge« diskriminiert worden sei, da bekannt war, dass die früh verwitwete, lebenslustige Mutter häufig wechselnde Männerbekanntschaften hatte.  

Als postumer Leser fragt man sich auch z.B., ob das existenzielle Verhältnis arm-aber-frei, wir-beide-gegen-den–Rest-der-Welt trotz (oder gar wegen?) der materiellen Einschränkungen nicht auch den höchst erwünschten  »Charme« einer bescheidenen Idylle besaß? Oder färbte die reale robinsonadische Erfahrung einer gemeinsamen gesellschaftlichen Randexistenz nicht auch nachhaltig die fiktionalen Konstellationen des Erzählers, der ja nicht von ungefähr ein besonderer Liebhaber der »Insel Felsenburg« war? Obwohl beide von der exorbitanten Begabung Arno Schmidts zutiefst überzeugt waren, betrachteten sie seine Kunst als ein durch Fleiß & Konzentration bestimmtes Handwerk. Von Anfang an traf auf ihr beider kleinbürgerlich-proletarisches Selbstverständnis emphatisch nur das Wort SchriftSteller zu, programmatisch fern allem später so von ihm verhöhnten »DichterPriestertum«. (Ein Geburtstagsgedicht für Alice ist zum Fremdschämen miserabel!)

Besonders interessant aber dürfte Alices »immer erneute Verwunderung über Arnos Gedächtnis (sein). Halt ein Wunderkind dieser Nödel«. Denn damit benennt sie die Besonderheit von Arno Schmidts eidetischem Gedächtnis, über das er oft geklagt hat. Obwohl er die rund 50 amerikanische Zeitungsseiten, in die Lucy ihre Geschenke eingewickelt hatte, nur kurz überflogen hatte, notiert seine irritierte Ehefrau, sei er noch 4 Tage später  in der Lage gewesen, Namen & Profession von Personen zu erinnern, von denen in Artikeln der New Yorker Zeitung die Rede gewesen war. (Wenn ich mich nicht täusche, hat Alice im Tagebuch der Reise zum Steinhuder Meer notiert, dass Arno sich hütete, zu viel zu sehen & zu erleben, weil ihn dergl. Eindrücke überwältigten.)


Artikel online seit 16.04.18
 

Alice Schmidt
Tagebücher der Jahre 1948/49
Herausgegeben von Susanne Fischer
Suhrkamp-Verlag Berlin 2018
215 Seiten
32,00 €

 


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