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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 


Der skandalöse Lazzarener

Alice Rohrwachers »Glücklich wie Lazzaro« trifft  märchenhaft den italienischen Augenblick

Von Wolfram Schütte

Wie vor zwei Jahren »Toni Erdmann« der Aufsehen erregendste Film auf dem Filmfestival von Cannes war, so dieses Jahr »Lazzaro felice«. Es sind Filme von jungen Frauen, die mit ihren auffälligen Arbeiten ästhetisch & narrativ auf einem schmalen Grad ihre künstlerische Balance hielten. Ihr Mut, jeweils ganz eigene artistische Wege einzuschlagen, ist  ebenso bewundernswert wie erfreulich.

Die Figur des großherzigen, hilfsbereit-»weltoffenen« wie naiv-»weltfremden« Menschen, die Dostojewski in seinem Roman »Der Idiot« in die Weltliteratur einführte, ist seit den Stummfilmtagen Charlie Chaplins & Buster Keatons im Kino nicht mehr oft gesichtet worden. Robert Bresson hat 1966 den einzigartigen Versuch unternommen, ihn in der Passion des Esels »Balthazar«(1966) zu erzählen.

Erst die junge italienische Regisseurin Alice Rohrwacher hat ihn jetzt in ihrem »Lazzaro felice« wieder menschlich (& märchenhaft)  auf die Leinwand gebracht – zum Erstaunen & Jubel der internationalen Filmkritik, die den Wettbewerbsbeitrag auf dem Festival von Cannes 2018 bestaunte, wie vor zwei Jahren  Maren Ades berührende Komödie. In Cannes, wo 2016 »Toni Erdmann« leer ausging, gewann »Glücklich wie Lazzaro« 2018 wenigstens den Preis für das beste Drehbuch, das die bislang wenig bekannte Autorenfilmerin – mit ihren 36 Jahren & 3 Filmen eine der großen Hoffnungen des italienischen Gegenwartsfilm – naturgemäß selbst geschrieben hat.

Das Drehbuch ist in der Tat ebenso außergewöhnlich wie außenordentlich, ebenso vieldeutig wie assoziationsreich. Die Geschichte des (auf 16mm mit Handkamera gedrehten) Films spielt in einem imaginären Italien: zuerst in den Fünfziger, dann in den Neunziger Jahren & endet in der Gegenwart. Der bäuerlicher Titelheld, der nur den Namen des von Jesus wiedererweckten Toten trägt, wird etwa in der Mitte von »Lazzaro felice« zu Tode stürzen & von einem schnupperndem Wolf  ein paar Jahrzehnte später wieder zum Leben erweckt. Lazzaros Rip-van-Winkle-Schicksal (als jung Gebliebener unter den alt Gewordenen) in der Stadt, wo er seine ehemaligen Dorfgenossen als kleinkriminelle Subproletarier wiederfindet, endet damit, dass ihn derselbe Wolf  in die Erlösung des Todes zurückholt, nachdem ihn seine Mitmenschen hasserfüllt totgetrampelt hatten. Die Regisseurin spricht vom religiösen Untergrund ihres »Lazzarus felice«; man könnte den Film aber auch bloß als eine märchenhafte Fabel, ein episches mixtum compositum verstehen.

Der ästhetische Reichtum des Films verdichtet Realismus, Allegorie, Märchen & ikonographische Assoziationen zu einer emotional tief bewegenden Parabel über Mentalität, Würde & Elend der Armen im fortschreitenden Kapitalismus.

Im Mittelpunkt des zweistündigen Epos von Alice Rohrwacher steht der Inbegriff eines sowohl gutmütigen als auch gutgläubigen Menschen: »Lazzaro« (Adriano Tardiolo). Der Laiendarsteller ist von einer sanften Schönheit mit der staunenden Unschuld im Blick. Die Kamera Hélène Louvarts fasst ihn ins Auge wie Caravaggio bzw. Pasolini ihre jugendlichen Helden auf ihren Bildern zärtlich präsentierten.

An Pasolinis Ikonographie, seine tollkühne Art der sowohl realistischen wie fabulös-irrealistischen Weltbeschwörung erinnert in der Tat der Beginn des Films in einem abgelegenen Winkel Süditaliens, der neben einer eingestürzten Brücke nur zu Fuß über Steine in einem Flußbett zu erreichen ist. Dort leben, wie aus der Welt & Zeit gefallen, ärmlich-schuftende Bauern, die für die hoch über ihren dunklen, engen Behausungen in ihrer Burg drohnenden Marchesa De Luna vor allem Tabak anbauen, mit dem die Landbesitzerin ihren solitären Gewinn macht. Realismus & Symbolismus durchdringen sich schon hier wie selbstverständlich.  

Durch die bis in die Fünfziger Jahre sogar in der Toskana noch geläufige »Naturalpacht« (Mezzadria) hält die adlige Landbesitzerin ihre kinderreichen Landarbeiter im Status von Leibeigenen – ein historisch aus dem Mittelalter tradiertes Herrschafts-& Verpflegungssystem agrarischer Gesellschaften (wie z.B. auch der russischen).

Wieder hat der Marchesa Da Luna ihr schmieriger Gutsverwalter bei Tisch die alljährliche Übertölpelung der mittellosen Pächter gemeldet – weil der Wolf diesmal die gräflichen Kapaune gerissen hatte & deren Verlust selbstverständlich den Bauern negativ zu Buche geschlagen wird, so dass sich wieder aller Gewinn ihrer Jahres-Arbeit in der ewigen Schuld bei der Herrschaft verflüchtigt hat. Ein junges Paar wollte mit dem Transportwagen des Gutsverwalters aus der ewigen Wiederkehr ihrer Demütigung & des dörflichen Zwangs vom Land in die Stadt flüchten. Als der junge Mann aber hört, er müsse sich zuvor die Erlaubnis bei der Marchesa holen, zwingt der mutlos gewordene junge Ausbrecher seine widerwillig folgende Geliebte zur Aufgabe ihrer gemeinsamen Emigration.

Während der sanftmütige Lazzaro unter den Bauern stets willfährig als (Not-)Helfer zur Stelle ist, erklärt die autoritäre Marchesa ihrem aufmüpfigen Sohn Tancredi, als der Städter & Intellektuelle ihren peinlichen Paternalismus kritisiert, dass sie die (wie bei Pasolini von ländliche Laien verkörperten) Bauern nicht als Menschen, sondern bloß als Vieh betrachte. Solange man sie nicht durch Aufklärung über ihre Lebenssituation verunsichere, verlören sie auch nicht  die Zufriedenheit ihrer Lebensweise, gewissermaßen von »betreuten Ausgebeuteten«.

Lazzaro, den alle Dorfbewohner & deren Kinderschar wegen seiner Hilfsbereitschaft  ausnutzen, ist aber als separat lebender Einzelgänger für den Sohn aus adligem Haus so interessant, dass Tancredi  zu Lazzaro flüchtet, als er seine Entführung mit Lösegeldforderung fingiert. Der einsame Lazzaro ist beglückt, als ihm der Adelsspross die Blutsbrüderschaft anbietet.

Wiewohl auf der erzählerischen Ebene damit eine nachhaltig-folgenreiche Freundschaft initiiert wird, dürfte darüber hinaus allegorisch-symbolisch noch mehr angesprochen sein, an dessen assoziativer Anwesenheit der Autorin liegen dürfte. Denn hieß nicht in Giuseppe Tomasi di Lampedusas »Gattopardo« der adlige Neffe des Titelhelden »Tancredi«, dessen jugendlicher Enthusiasmus für den Revolutionär Garibaldi in Viscontis Adaption so mitreißend von Alain Delon verkörpert wurde? Und träumte nicht die PCI lange von der klassenkämpferischen Fusion der Intelligenz & Kultur (Pollini, Pasolini, Visconti, Nono, Calvino, Feltrinelli ed al.) mit dem Proletariat?

Das utopische Motiv des gemeinsamen revolutionären Aufbegehrens von marxistischer Intelligenz & bäuerlichem Proletariat, über das die kapitalistische Entwicklung zur Industrialisierung Italiens in den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gnadenlos brutal hinwegging, wird zwar nicht von dem Film verfolgt (oder gar erzählerisch umgesetzt), taucht aber ganz am Ende von Lazzaros Leben wieder auf, wenn er im Bankraum  bittet, seinem verarmten, kranken Freund Tancredi dessen verlorenes ländliches Besitztum zurückzugeben.

War Lazzaro eben noch vor & hinter den Bankschaltern durch sein ungewöhnliches Verhalten für einen gefährlichen Räuber gehalten worden, der jeden im  Raum dazu brachte, die Arme zur Geste der Ergebenheit zu heben, erkannten aber alle durch diese demütige Bitte des »reinen Toren«, dass sie es mit einem harmlosen Irren zu tun hatten. Die Wut, von diesem armen Irren genarrt worden zu sein, tobt sich kollektiv an dem unschuldigen Sündenbock aus: der »Weltfremde« wird niedergeschlagen & mit Tritten so lange traktiert, bis ihn der Wolf über den Acheron holt.

Vor diesem abgründig-pessimistischen Mord an diesem guten, naiven Menschen hat »Lazzaro felice« einige seiner schönsten, sinnfälligsten episodischen Momente. So: wenn er seine ehemaligen Dörfler als Kleinkriminelle wiedertrifft, die in der städtischen Industriebrache in einem leeren Heizkessel ihr Zuhause haben, wo sie alle andächtig Fernsehen gucken & den wiedergefundenen Lazzaro großzügig solidarisch aufnehmen; so auch, als er immer wieder ihren Weg kreuzt, wenn sie bei ihren Raubzügen klauen & fliehen - & das Märchen plötzlich humoristische Züge entwickelt, die an Pasolinis »Große Vögel, kleine Vögel« erinnern. Oder: wenn er den hungrigen Subproletariern, die ihre bäuerliche Vergangenheit vergessen haben, die Verzehrbarkeit vieler am Bahndamm wachsender Sträucher & Gräser erklärt.

Die archaische Großzügigkeit, Solidarität & den alltäglichen Potlatsch in der »bäuerlichen Welt« haben die Lumpenproletarier sich noch bewahrt: wenn sie der Einladung Tancredis in seine städtische Wohnung folgen, kommen sie nicht ohne ein Geschenk. Mit alle ihren bescheidenen finanziellen Mitteln haben sie im teuersten Geschäft der Stadt Süßigkeiten für ihn gekauft - & schenken sie auch her, als sie nicht zu dem angeblich kranken Tancredi vorgelassen werden.

Eine andere, unvergessliche Episode zeigt den alt gewordenen ehemaligen Gutverwalter, der  Arbeitslose, rumänische Zigeuner & gestrandete illegale afrikanische Flüchtlinge zu einem Unterbietungswettkampf  zwingt, um die gegeneinander gehetzten Tagelöhner zu billigsten Konditionen ausbeuten zu können. Eine Alltags-Szene im Mezzogiorno des Augenblicks – ebenso wie der Lynchmob & -mord an Lazzaro in der Bank, wo die empörten Rentenempfänger ihre Wut an dem fremden Spinner austoben, die totale Entsolidarisierung innerhalb der urbanen Industriegesellschaft vor Augen stellt.

Obwohl Alice Rohrwacher den Urzustand der agrarischen Gesellschaft nicht als Paradies beschwört - weil auch schon in ihr »die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf der Klassenherrschaft« (Bebel) beruhte -, besaß in ihren Augen das »Universum der bäuerlichen Welt« (Pasolini) noch die Würde eines kollektiven Lebens, Arbeitens & Leidens innerhalb einer naturnahen ethischen Solidargemeinschaft.

Wie einst Voltaire mit seinem einfältigen »Candide« gegen Leibnizens Theodizee der »beste aller Welten« mit sadistischer Verve polemisierte, so lässt die italienische Autorenfilmerin heute sentimental ihren gütigen Lazzaro in einer Weltgesellschaft wiedererweckt aufwachen, in der er als Unikum befremdlich blöde wirkt & in der die Armen, Arbeitslosen, Migranten als  »überflüssige Menschen« wie Unkraut behandelt werden..

«Lazzaro felice« plädiert jedoch nicht für die Restitution einer agrarischen Gesellschaft, sondern akzentuiert nur, dass der industrielle kapitalistische »Fortschritt« zur modernen Industriegesellschaft  zwar die feudalistischen Strukturen der agrarischen Gesellschaft & des menschlichen Verhältnisses zur Natur zerstört, die Sesshaften mobil gemacht & aus ihrer sozialen Misere »befreit« hat - aber doch die Armen auch noch mental  & emotional verarmt hat, während die Klassenstruktur von Ausbeuter & Ausgebeuteten konstant geblieben ist. Insofern ist die poetische Fiktion »Lazzaro« ein politischer Lackmustest für jeden, der diesem märchenhaften Helden idealer Humanität auf seinem aufwühlenden Lebensweg in der italienischen Gesellschaft emotional betroffen zuschaut.

P.S. Ähnlich aufgewühlt & ratlos hinterließ einen zuletzt Dostojewskis abgründige Legende »Der Großinquisitor«. Weil darin der wiedergekehrte Nazarener Jesus schweigend die Rechtfertigungssuada des 90jährigen spanischen Großinquisitors hinnimmt, habe ich dieser Betrachtung des außergewöhnlichen Films von Alice Rohrwacher den akustisch kalauernden Titel »Der Lazzarener« gegeben.      

Artikel online seit 25.09.18
 

Glücklich wie Larzarro
Regie: Alice Rohrwacher
Darsteller: Adriano Tardiolo; Agnese Graziani; Luca Chikovani; Alba Rohrwacher; Sergi López; Natalino Balasso; Tommaso Ragno; Nicoletta Braschi
Länge:
128 Minuten
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