Ein kleines Buch eines
Autorenkollektivs (Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull,
Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke) schwenkt enthusiastisch die
Fahnen für eine
»neue
Aufklärung«
und »zukunftsorientierte Geistes- und Kulturwissenschaften« (»future oriented
humanities«). Der im Bielefelder Verlag Transcript erschienene Text ist sowohl in
englischer als auch in deutscher Sprache verfasst.
Was sagt uns das Buch über die »neue Aufklärung« und die
»zukunftsorientierten humanities«? Das erste Kapitel befasst sich mit dem
Thema der Multi-, Inter- oder Transdisziplinarität. Nichts daran ist neu. Die
Autoren legen offenbar großen Wert auf die Verknüpfung (»recouple«, wie
sie sagen) der Geisteswissenschaften mit den Sozialwissenschaften. Wie genau sie
die einen und die anderen verstehen, bleibt vage.
Die Kombination verschiedener Disziplinen soll dadurch gerechtfertigt werden,
dass unsere heutigen Gesellschaften von verschiedenen »Krisen« bedroht seien.
Wie das Wort »Krise« deutlich macht, müssen die Autoren des Buches davon
ausgehen, dass wir an einem entscheidenden Wendepunkt leben, an dem es um alles
oder nichts geht, um Leben oder Tod.
Daher die Dringlichkeit, »einzugreifen«. (Das Wort »interventions«
erscheint im Titel der Buchreihe: »THE NEW INSTITUTE-Interventions«). Die Frage
ist jedoch, worin interveniert werden soll? So berechtigt die Diagnosen der
jeweiligen Krisen ist (ökologische Krise, verschiedene Wirtschaftskrisen, neue
geopolitische und Energiekrise, Migrationskrise usw.; S. 11) und so lobenswert
die Ambitionen sind, diese Probleme anzugehen, so wichtig ist die Frage, wie ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Institut intervenieren will. Welche Art von Öffentlichkeit
soll erreicht werden?
Was die illustren Autoren vom THE NEW INSTITUTE allerdings verraten, ist das
Ziel ihrer »Interventionen«: Es geht um nichts Geringeres als ein »systematic
change of our value representations«. Dies sei notwendig, um »false
self-conceptions« zu korrigieren (S. 13). Das sind sicherlich große Worte, die
eine Reihe zusätzlicher Fragen aufwerfen: Was wären die »value representations«
und »false self-conceptions« die das Team vom THE NEW INSTITUTE durch ihr
Eingreifen meint korrigieren zu müssen? Aber auch: Welche Kriterien sollen es
erlauben, die richtigen oder wünschenswerten »Wertvorstellungen« von den
vermeintlich falschen zu trennen? Man muss nicht unbedingt einen
kulturrelativistischen Standpunkt vertreten, um hier laute Alarmglocken zu
hören.
Ausgerechnet den humanities soll nun aufgebürdet werden, «[to] develop
conceptual tools that can contribute to a new ‘Vision of the Good’” (S. 15).
Aber sind diese Wissenschaften wirklich dazu geeignet, solche »Visionen« zu
entwickeln? Sollten die Kultur- und Geisteswissenschaften nicht eher in einem
bescheideneren Sinne als Forschungspraktiken betrachtet werden, die die
gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse beobachten und analysieren, in
welchen »Visionen des Guten« entstehen? In diesem Zusammenhang ist auch zu
bedenken, dass sich die Geistes- und Kulturwissenschaften in ihrem Verständnis
als Kulturräume derzeit in einer schwierigen Lage befinden. Einerseits ist
nämlich überhaupt nicht klar, welche Rolle diese Disziplinen in der
akademisch-wissenschaftlichen Welt noch spielen. Andererseits ist aber sehr wohl
klar, dass sie mit kulturellen Angeboten konkurrieren, die einen wichtigen
Einfluss auf die Menschen unserer Gesellschaften haben – und zwar auch auf die
Eliten. Ich denke hier vor allem an jene, die unter dem nicht immer
vorurteilsfreien Begriff der »Unterhaltungs«- oder »Kulturindustrie« subsumiert
werden. Diese sind nicht mehr wie die ehemaligen Geistwissenschaften in einer
soliden humanistischen Kultur eingebettet, sondern gehorchen den strengen
Gesetzen einer durch und durch kommerzialisierten Meinungs-, Bedeutungs- und
Sinnökonomie, die sich keineswegs um die Wahrung nobler Werte verdient macht,
sondern eher an der Reproduktion und Verfestigung etablierter Interessen
verdient.
Und schließlich ist zu bedenken, dass normative Orientierungen in und durch
soziale und kulturelle Kämpfe entstehen und nicht von geistes- und
kulturwissenschaftlichen Forschungsinstituten ausgehen. In welchem Verhältnis
stünde dann die »neue Aufklärung« des THE NEW INSTITUTE zu diesen sozialen und
kulturellen Kämpfen, d. h. zu den ‚vortheoretischen‘ Praktiken, an denen sich
theoretisches Denken immer – ob es sich dessen bewusst ist oder nicht – schult?
Wie würde sie sich in diese konkreten und praktischen Sinnstiftungsprozesse
einbringen?
All diese Fragen werden in dem kleinen Buch nicht diskutiert. Im Gegenteil, es
entsteht der Eindruck, dass der Vorschlag für die »future oriented humanities«
eigentlich auf eine der Kernkompetenzen der Humanities und der
Sozialwissenschaften, die kritische Diskussion komplexer Zusammenhänge
verzichtet, ja diese gleichsam neutralisiert. Dies geschieht durch eine
‚philosophische List‘: Nachdem die Geistes- und Kulturwissenschaften kurzerhand
zu »value- driven forms of research« (S. 23) erklärt werden, beeilen sich die
Autoren, in jenen »anthropogenen« Tiefenschichten zu schürfen, in denen die
objektiven »moralischen Tatsachen« schlummern sollen (S. 27). Dies soll mithilfe
zweier philosophischer Traditionen gelingen, auf die sich der Text sehr
ausführlich bezieht: den »moralischen Realismus« und den »moralischen
Konstruktivismus«.
Vor allem der »moralische Realismus« erfüllt eine zentrale Aufgabe in dem Buch:
»A dynamic form of moral realism is a fruitful approach to achieving a balance
between universalism and historicity that is at the heart of a New
Enlightenment. It implies that there are moral facts concerning obligatory
(good), neutral, and evil actions, which moral statements describe and whose
existence and nature are partly independent of the beliefs of the people who
express them. These moral facts provide guidelines to know what to do and what
to forbid” (S. 31-32).
Einem solchen Verständnis der humanities ließe sich aber ein ganz anderes
gegenüberstellen, das die vielfältigen und komplexen sozialen und kulturellen
Prozesse sichtbar machen will, durch welche normative Orientierungen entstehen,
konkretisiert oder erneuert werden, um damit zu zeigen, wie diese letztlich das
Denken und Handeln der Menschen beeinflussen. Das bedeutet nicht, dass diese
Wissenschaften eine rein passive Haltung gegenüber diesen Prozessen einnehmen
müssen. Vielmehr können und sollen sie in diese Prozesse »eingreifen«, aber eben
nicht in der Überzeugung, eine Art philosophisch privilegierten Zugang zu den
»wahren Werten« zu haben, sondern dadurch, dass sie auf den konflikthaften und
prozessualen Charakter der normativen Verhältnisse in modernen Gesellschaften
aufmerksam machen.
Aber es scheint, als ob die Autoren des kleinen Buches mit den großen Ansprüchen
nicht nur keine Skrupel haben, die Autorität philosophisch ermittelter
vermeintlich »richtiger« Werte für sich in Anspruch zu nehmen, sondern dass es
ihnen darüber hinaus ganz unproblematisch erscheinen muss, an politische
Instanzen und vor allem an den Staat zwecks ihrer Durchsetzung zu appellieren.
So erklären sie z. B.
»the
protection of the biosphere and justice towards other living beings and future
generations«
zu den «novel duties of the state” (S. 35).
An welche Art von Staat denken sie? Und wie verträgt sich dieser Appell an die
politische Autorität, die letztlich immer eine in der Gewalt verankerte Macht
ist, mit dem Anspruch einer neuen Aufklärung?
Vielleicht hilft das lang erwartete sechste Kapitel mit dem hoffnungsvollen
Titel »Towards a New Enlightenment«, besser zu verstehen: Was ist nun das Neue
an der neuen Aufklärung? Eine Antwort auf diese Frage müsste zunächst einmal
erklären, was denn die ‚alte‘ Aufklärung sein soll. Die Hinweise auf diese sind
jedoch spärlich und beschränken sich auf einige postkolonialistische Klischees,
die in den aktuellen Debatten weit verbreitet sind. Die Aufklärung basiere
danach auf einen »false universalism«, der nur dazu diene, »to impose a
hegemonic lifestyle on other cultures« (S. 52). Wieder drängen sich Fragen auf:
Hat das Gedankengut der Aufklärung nicht auch eine Vielzahl von
Befreiungsbewegungen in der kolonialen Welt motiviert? Und: Ist es ein »falscher
Universalismus« zu behaupten, dass alle Menschen immer nur als »Zwecke in sich
selbst« und niemals als »Mittel« für irgendwelche Zwecke verstanden werden
dürfen?
Statt diese – gewiss nicht neuen – Fragen zu diskutieren, besteht das
Autorenkollektiv einmal mehr darauf, dass alles neu sein soll: »In today’s
critical situation, there is a widespread call for a New Enlightenment no longer
limited to prolonging the projects of the 17th and 18th century European
Enlightenment« (S. 50).
Aber warum soll es denn nicht möglich sein, die Projekte der ‚älteren‘
Aufklärung fortzuführen und gerade unter dem Gesichtspunkt der oben genannten
aktuellen Probleme an sie anzuknüpfen? Eine Antwort auf diese Frage würde
freilich voraussetzen, sich dieser Tradition zu vergewissern, sie näher erörtern
und diskutieren zu müssen, was das Buch unerklärlicherweise vermeidet.
Das große Manko des Buches ist, dass es nach so vielen Ankündigungen von Neuem
nichts wirklich Neues liefert. Am Ende verfestigt sich der Eindruck, dass der
leidenschaftliche Ruf nach Neuem die Unfähigkeit, es tatsächlich zu entwickeln,
übertönt. Weder der Verweis auf den »moralischen Realismus« noch der »moralische
Konstruktivismus« von Christine Korsgaard können als neu angesehen werden. Aber
auch der Anspruch des Zugangs zu wahren Werten in Verbindung mit der Forderung
nach einer Art Bevormundungspolitik, die ihre Autorität mit diesen Werten
rechtfertigt, ist alles andere als neu. Gerade dagegen ist in der Geschichte die
Ressource der Aufklärung immer wieder bemüht worden.
Ich für meinen Teil schlage also vor, an der ‚alten‘ Aufklärung festzuhalten und
zu versuchen, sich ihrer nicht eingelösten Versprechen zu erinnern. Die Sozial-,
Geistes- und Kulturwissenschaften können in diesem Prozess tatsächlich eine
zentrale Rolle spielen. Aber nicht als Instrumente der Offenbarung apodiktisch
vertretener Werte oder als Rechtfertigung einer autoritären
Bevormundungspolitik, sondern um Räume des freien Denkens und der Reflexion zu
eröffnen und so kritisches Denken zu fördern, das sich der Probleme unserer Zeit
aus der Vielfalt von Positionen, Strategien, Meinungen und Werten stellt. Der
Anspruch des Neuen, der zweifellos auch die aktuellen politischen Debatten
dominiert, könnte diesem Ansatz im Wege stehen, weil er letztlich treuer
Komplize des Bestehenden sein kann und sich dem Entstehen von wirklich Neuem im
Namen des Neuen sperrt.
Artikel online seit 12.12.22
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Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna
Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke
Towards a New Enlightenment
The Case for Future Oriented Humanities
Transcript
Reihe:
THE NEW INSTITUTE
Interventions, Volume 1
76 Seiten
978-3-8376-6570-3
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