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What else is new?

Ein kleines Buch sucht einen philosophischen Königsweg zu den letzten Werten
und verpasst seinen eigentlichen Anspruch einer Neudefinition der Aufklärung

Von Oliver Kozlarek
 

Ein kleines Buch eines Autorenkollektivs (Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke) schwenkt enthusiastisch die Fahnen für eine »neue Aufklärung« und »zukunftsorientierte Geistes- und Kulturwissenschaften« (»future oriented humanities«). Der im Bielefelder Verlag Transcript erschienene Text ist sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache verfasst.

Was sagt uns das Buch über die »neue Aufklärung« und die »zukunftsorientierten humanities«? Das erste Kapitel befasst sich mit dem Thema der Multi-, Inter- oder Transdisziplinarität. Nichts daran ist neu. Die Autoren legen offenbar großen Wert auf die Verknüpfung (»recouple«, wie sie sagen) der Geisteswissenschaften mit den Sozialwissenschaften. Wie genau sie die einen und die anderen verstehen, bleibt vage.
Die Kombination verschiedener Disziplinen soll dadurch gerechtfertigt werden, dass unsere heutigen Gesellschaften von verschiedenen »Krisen« bedroht seien. Wie das Wort »Krise« deutlich macht, müssen die Autoren des Buches davon ausgehen, dass wir an einem entscheidenden Wendepunkt leben, an dem es um alles oder nichts geht, um Leben oder Tod.

Daher die Dringlichkeit, »einzugreifen«. (Das Wort »interventions« erscheint im Titel der Buchreihe: »THE NEW INSTITUTE-Interventions«). Die Frage ist jedoch, worin interveniert werden soll? So berechtigt die Diagnosen der jeweiligen Krisen ist (ökologische Krise, verschiedene Wirtschaftskrisen, neue geopolitische und Energiekrise, Migrationskrise usw.; S. 11) und so lobenswert die Ambitionen sind, diese Probleme anzugehen, so wichtig ist die Frage, wie ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Institut intervenieren will. Welche Art von Öffentlichkeit soll erreicht werden?

Was die illustren Autoren vom THE NEW INSTITUTE allerdings verraten, ist das Ziel ihrer »Interventionen«: Es geht um nichts Geringeres als ein »systematic change of our value representations«. Dies sei notwendig, um »false self-conceptions« zu korrigieren (S. 13). Das sind sicherlich große Worte, die eine Reihe zusätzlicher Fragen aufwerfen: Was wären die »value representations« und »false self-conceptions« die das Team vom THE NEW INSTITUTE durch ihr Eingreifen meint korrigieren zu müssen? Aber auch: Welche Kriterien sollen es erlauben, die richtigen oder wünschenswerten »Wertvorstellungen« von den vermeintlich falschen zu trennen? Man muss nicht unbedingt einen kulturrelativistischen Standpunkt vertreten, um hier laute Alarmglocken zu hören.

Ausgerechnet den humanities soll nun aufgebürdet werden, «[to] develop conceptual tools that can contribute to a new ‘Vision of the Good’” (S. 15). Aber sind diese Wissenschaften wirklich dazu geeignet, solche »Visionen« zu entwickeln? Sollten die Kultur- und Geisteswissenschaften nicht eher in einem bescheideneren Sinne als Forschungspraktiken betrachtet werden, die die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse beobachten und analysieren, in welchen »Visionen des Guten« entstehen? In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass sich die Geistes- und Kulturwissenschaften in ihrem Verständnis als Kulturräume derzeit in einer schwierigen Lage befinden. Einerseits ist nämlich überhaupt nicht klar, welche Rolle diese Disziplinen in der akademisch-wissenschaftlichen Welt noch spielen. Andererseits ist aber sehr wohl klar, dass sie mit kulturellen Angeboten konkurrieren, die einen wichtigen Einfluss auf die Menschen unserer Gesellschaften haben – und zwar auch auf die Eliten. Ich denke hier vor allem an jene, die unter dem nicht immer vorurteilsfreien Begriff der »Unterhaltungs«- oder »Kulturindustrie« subsumiert werden. Diese sind nicht mehr wie die ehemaligen Geistwissenschaften in einer soliden humanistischen Kultur eingebettet, sondern gehorchen den strengen Gesetzen einer durch und durch kommerzialisierten Meinungs-, Bedeutungs- und Sinnökonomie, die sich keineswegs um die Wahrung nobler Werte verdient macht, sondern eher an der Reproduktion und Verfestigung etablierter Interessen verdient.

Und schließlich ist zu bedenken, dass normative Orientierungen in und durch soziale und kulturelle Kämpfe entstehen und nicht von geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsinstituten ausgehen. In welchem Verhältnis stünde dann die »neue Aufklärung« des THE NEW INSTITUTE zu diesen sozialen und kulturellen Kämpfen, d. h. zu den ‚vortheoretischen‘ Praktiken, an denen sich theoretisches Denken immer – ob es sich dessen bewusst ist oder nicht – schult? Wie würde sie sich in diese konkreten und praktischen Sinnstiftungsprozesse einbringen?

All diese Fragen werden in dem kleinen Buch nicht diskutiert. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, dass der Vorschlag für die »future oriented humanities« eigentlich auf eine der Kernkompetenzen der Humanities und der Sozialwissenschaften, die kritische Diskussion komplexer Zusammenhänge verzichtet, ja diese gleichsam neutralisiert. Dies geschieht durch eine ‚philosophische List‘: Nachdem die Geistes- und Kulturwissenschaften kurzerhand zu »value- driven forms of research« (S. 23) erklärt werden, beeilen sich die Autoren, in jenen »anthropogenen« Tiefenschichten zu schürfen, in denen die objektiven »moralischen Tatsachen« schlummern sollen (S. 27). Dies soll mithilfe zweier philosophischer Traditionen gelingen, auf die sich der Text sehr ausführlich bezieht: den »moralischen Realismus« und den »moralischen Konstruktivismus«.
Vor allem der »moralische Realismus« erfüllt eine zentrale Aufgabe in dem Buch: »A dynamic form of moral realism is a fruitful approach to achieving a balance between universalism and historicity that is at the heart of a New Enlightenment. It implies that there are moral facts concerning obligatory (good), neutral, and evil actions, which moral statements describe and whose existence and nature are partly independent of the beliefs of the people who express them. These moral facts provide guidelines to know what to do and what to forbid” (S. 31-32).

Einem solchen Verständnis der humanities ließe sich aber ein ganz anderes gegenüberstellen, das die vielfältigen und komplexen sozialen und kulturellen Prozesse sichtbar machen will, durch welche normative Orientierungen entstehen, konkretisiert oder erneuert werden, um damit zu zeigen, wie diese letztlich das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen. Das bedeutet nicht, dass diese Wissenschaften eine rein passive Haltung gegenüber diesen Prozessen einnehmen müssen. Vielmehr können und sollen sie in diese Prozesse »eingreifen«, aber eben nicht in der Überzeugung, eine Art philosophisch privilegierten Zugang zu den »wahren Werten« zu haben, sondern dadurch, dass sie auf den konflikthaften und prozessualen Charakter der normativen Verhältnisse in modernen Gesellschaften aufmerksam machen.

Aber es scheint, als ob die Autoren des kleinen Buches mit den großen Ansprüchen nicht nur keine Skrupel haben, die Autorität philosophisch ermittelter vermeintlich »richtiger« Werte für sich in Anspruch zu nehmen, sondern dass es ihnen darüber hinaus ganz unproblematisch erscheinen muss, an politische Instanzen und vor allem an den Staat zwecks ihrer Durchsetzung zu appellieren.
So erklären sie z. B. »the protection of the biosphere and justice towards other living beings and future generations« zu den «novel duties of the state” (S. 35). An welche Art von Staat denken sie? Und wie verträgt sich dieser Appell an die politische Autorität, die letztlich immer eine in der Gewalt verankerte Macht ist, mit dem Anspruch einer neuen Aufklärung?

Vielleicht hilft das lang erwartete sechste Kapitel mit dem hoffnungsvollen Titel »Towards a New Enlightenment«, besser zu verstehen: Was ist nun das Neue an der neuen Aufklärung? Eine Antwort auf diese Frage müsste zunächst einmal erklären, was denn die ‚alte‘ Aufklärung sein soll. Die Hinweise auf diese sind jedoch spärlich und beschränken sich auf einige postkolonialistische Klischees, die in den aktuellen Debatten weit verbreitet sind. Die Aufklärung basiere danach auf einen »false universalism«, der nur dazu diene, »to impose a hegemonic lifestyle on other cultures« (S. 52). Wieder drängen sich Fragen auf: Hat das Gedankengut der Aufklärung nicht auch eine Vielzahl von Befreiungsbewegungen in der kolonialen Welt motiviert? Und: Ist es ein »falscher Universalismus« zu behaupten, dass alle Menschen immer nur als »Zwecke in sich selbst« und niemals als »Mittel« für irgendwelche Zwecke verstanden werden dürfen?
Statt diese – gewiss nicht neuen – Fragen zu diskutieren, besteht das Autorenkollektiv einmal mehr darauf, dass alles neu sein soll: »In today’s critical situation, there is a widespread call for a New Enlightenment no longer limited to prolonging the projects of the 17th and 18th century European Enlightenment« (S. 50).

Aber warum soll es denn nicht möglich sein, die Projekte der ‚älteren‘ Aufklärung fortzuführen und gerade unter dem Gesichtspunkt der oben genannten aktuellen Probleme an sie anzuknüpfen? Eine Antwort auf diese Frage würde freilich voraussetzen, sich dieser Tradition zu vergewissern, sie näher erörtern und diskutieren zu müssen, was das Buch unerklärlicherweise vermeidet.

Das große Manko des Buches ist, dass es nach so vielen Ankündigungen von Neuem nichts wirklich Neues liefert. Am Ende verfestigt sich der Eindruck, dass der leidenschaftliche Ruf nach Neuem die Unfähigkeit, es tatsächlich zu entwickeln, übertönt. Weder der Verweis auf den »moralischen Realismus« noch der »moralische Konstruktivismus« von Christine Korsgaard können als neu angesehen werden. Aber auch der Anspruch des Zugangs zu wahren Werten in Verbindung mit der Forderung nach einer Art Bevormundungspolitik, die ihre Autorität mit diesen Werten rechtfertigt, ist alles andere als neu. Gerade dagegen ist in der Geschichte die Ressource der Aufklärung immer wieder bemüht worden.

Ich für meinen Teil schlage also vor, an der ‚alten‘ Aufklärung festzuhalten und zu versuchen, sich ihrer nicht eingelösten Versprechen zu erinnern. Die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften können in diesem Prozess tatsächlich eine zentrale Rolle spielen. Aber nicht als Instrumente der Offenbarung apodiktisch vertretener Werte oder als Rechtfertigung einer autoritären Bevormundungspolitik, sondern um Räume des freien Denkens und der Reflexion zu eröffnen und so kritisches Denken zu fördern, das sich der Probleme unserer Zeit aus der Vielfalt von Positionen, Strategien, Meinungen und Werten stellt. Der Anspruch des Neuen, der zweifellos auch die aktuellen politischen Debatten dominiert, könnte diesem Ansatz im Wege stehen, weil er letztlich treuer Komplize des Bestehenden sein kann und sich dem Entstehen von wirklich Neuem im Namen des Neuen sperrt.



Artikel online seit 12.12.22
 

Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke
Towards a New Enlightenment
The Case for Future Oriented Humanities
Transcript
Reihe:
THE NEW INSTITUTE
Interventions, Volume 1
76 Seiten
978-3-8376-6570-3

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