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Rückkehr zu den toten Seelen

Boris Luries Aufzeichnungen
»In Riga«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Boris Lurie, 1924 in Leningrad in eine säkulare jüdische Familie hineingeboren und in Riga aufgewachsen, starb 2008 in New York. Als Jugendlicher verbrachte er ab 1941 mehrere Jahre in Arbeits- und Konzentrationslagern. 1941 wurden Teile seiner Familie Opfer des Massakers im Wald von Rumbula (Riga). Die SS erschoss damals mit Hilfe der deutschen Polizei und lettischen Hilfspolizisten rund 27.000 Juden. Lurie war damals gerade 16 Jahre alt.

Mehr als drei Jahrzehnte danach, am 6. September 1975 kehrt Lurie an den Ort des Grauens in Riga zurück. Auf einem Schiff, das nach dem russischen Dichter der Romantik, Michail Jurjewitsch Lermontow, benannt ist, kommt er am 8. September in Lettland an, wo er im Hotel Riga in der Vaļņu-Straße wohnt und bis zum 18. September bleibt.

»In Riga« ist jedoch nur am Rande ein Reisebericht, denn der Text mit seinen zahlreichen Versatzstücken ist vielmehr ein Erinnerungsbuch an das von den Deutschen besetzte Lettland der 1940er Jahre – Erinnerungen an die Bomben des Juni 1940, an die Gräueltaten der SS, die Plünderungen und die so genannten »Nacht-und-Nebel-Aktionen«, also jenen Führer-Erlass vom Dezember 1941, das die geheimen Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten bezeichnet, der Abertausende Menschen zum Opfer fielen.
Lurie überlebt und zweifelt an der eigenen Existenz: »Ich sitze hier, als wäre ich durch die Todesmaschinerie hindurch vom Himmel gefallen.« Immer wieder muss er sich fragen lassen: »Wie kommt es denn, daß du überlebt hast?«

Auf der anderen Seite kann er kaum verstehen, wie man nach dem Ende des Krieges überhaupt noch Kinder in Riga über den Massengräbern großziehen kann. Seine Klage: »Ihr habt euch wieder niedergelassen mit Asphalt und netten Blumenbeeten, als wäre in Rumbula nichts geschehen.« Und er blickt dabei auf die Neubauten, die inzwischen bis an den Waldrand von Rumbula reichen, und denkt: »Vom Rumbula-Flughafen … fliegen die Seelen der Ermordeten fort.«
In seinem Erinnerungsbuch taucht immer wieder seine große Liebe Ljuba Treskunova auf, die ebenfalls in Rumbula ermordet wurde: »Ich habe kein anderes Mädchen geliebt wie sie, obwohl mich viele erregt haben. Ich bin sicher, ich hätte sie geheiratet.«
Auch seine Schwester ist fester Bestandteil der Erinnerungen: »Meine Schwester ist in Rumbula.«

Lurie stellt sich vor, nahe bei den Gräbern zu wohnen, dann wäre, so geht es ihm durch den Kopf, das eigene Leben vielleicht runder, vollständiger. Doch sogleich kommen auch wieder die Zweifel: »Kann ein Überlebender immer noch ein wahrer Freund von jemandem in den Gruben sein? Oder muß die Schuld des Überlebens … automatisch diese Freundschaft beenden?«
Auch während der Niederschrift ist die Vergangenheit stets präsent, denn alles erinnere ihn an damals, selbst das Rattern der Schreibmaschine »klingt verdächtig wie Maschinengewehrfeuer.«

Und als er die Orte, in denen er die schweren Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht hat, wieder betritt, fragt er sich: »Wie das Ghetto von Riga ohne Zittern betreten? … Drinnen im Schnee, gefroren in rosa-bläulichen Farben wie Wachsfiguren, liegen die Leichname von winzigen Säuglingen und älteren Männern und Frauen.«
Doch hier ist keine Gedenktafel zu finden, die an die Hinrichtungen erinnert.

Die Erinnerungen schließen zudem die Täter mit ein. Da ist zum Beispiel der Kollaborateur und Führer des lettischen Sicherheitsdienstes, der SS-Offizier Viktors Arājs, der mit Unterstützung seiner Schergen rund 500 Juden, welche die Flucht vor den heranrückenden Deutschen nicht geschafft hatten, in der Synagoge von Riga einsperrte und dort bei lebendigem Leib verbrannte. Oder auch Walter Stahlacker, der Befehlshaber der Einsatzgruppe A und Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) im Reichskommissariat Ostland, der das Kommando Arājs aufstellte. Die Einsatzgruppe A tötete rund eine Viertelmillion Menschen in weniger als sechs Monaten.
Zudem Dr. Rudolf Lange, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Riga, der für die Umsetzung der Vernichtung der Juden von Riga verantwortlich zeichnete.
Luries Erinnerungen gelten auch dem SS-Obersturmbannführer Kurt Krause, genannt »Der Menschenfresser«, Kommandant des Reichsjudenghetto Riga, später Kommandant von Salaspils, das Teil des deutschen Konzentrationslager-Komplexes war; und schließlich Eduard Roschmann, dem »Schlächter von Riga« und Kommandanten des KZ Kaiserwald.
Lurie quält die Frage: »Trägt man Schuld unbegrenzt mit sich? Bleibt der Körper schuldig, auch wenn die Seele des Verbrechers gewichen ist?«

Wie auch immer die Antwort ausfällt, fest steht für ihn, dass damals der Teufel in Riga Regie führte und die Gesetze Gottes keine Gültigkeit mehr gehabt haben. Es wäre insofern völlig unangebracht, dieses ergreifende Erinnerungsbuch einer Bewertung unterziehen zu wollen. Dem Wallstein-Verlag aber sei Dank, dass nach »Haus von Anita« und dem Ausstellungsbuch gleichen Titels nun auch »In Riga« vorliegt und zum besseren Verständnis dieses großen Künstlers beiträgt.

Artikel online seit 07.03.23
 

Boris Lurie
In Riga
Aufzeichnungen
Mit einem Vorwort und aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Wallstein Verlag
224 S., 30 Abb., geb., Schutzumschlag
€ 23,00 (D)
978-3-8353-5355-8

 

 

 


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