Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 









Eindrücke aus der »Werkstatt«

Peter Handkes
»Innere Dialoge an den Rändern 2016-2021«

Von Lothar Struck

Seit 1977 veröffentlicht Peter Handke Journale. Es handelt sich um eine Auswahl aus seinen sehr viel umfangreicheren Notizbüchern Die verwendeten Einträge werden für die Publikation bisweilen leicht bearbeitet. 2016 erschien mit »Vor der Baumschattenwand nachts« eine Auswahl der Notizen von 2007 bis Ende 2015, die mit Zeichnungen des Autors ergänzt wurden. Und nun, wiederum zeitnah, liegt das nächste Journal mit dem leicht sperrigen, aber, wie sich zeigen wird, zutreffenden Titel »Innere Dialoge an den Rändern« vor, in dem man die Aufzeichnungen vom 6. Januar 2016 bis zum 6. November 2021 findet.

In diesen Zeitraum fällt die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke (nebst der hitzigen Dispute darum) und, kurz darauf, die Covid-Epidemie, die in Frankreich mindestens zu Beginn sehr drastische Maßnahmen zur Folge hatte. Beides steigert die Neugier auf diesen neuen Band, der bedauerlicherweise keine Zeichnungen enthält.

Das Cover macht die Ausnahme. Es zeigt in einer Art Piktogramm einen stolpernden Menschen und einen Pfeil nach unten. Es erinnert an das Zeichen für einen Notausgang. Und tatsächlich zeigt sich, dass auch dieses Journal – vielleicht mehr als andere von Peter Handke – ein Notausgang ist, einen Rettungsweg bietet. Also ist es ein Zeichen für die dem Autor immer wieder attestierte Weltflucht?

Nichts ist abwegiger als das. Da ist, wenn überhaupt, eine Flucht aus einer Welt in eine andere Welt. Es sind Exerzitien, Rufe aus der (selbstgewählten) »Frucht der Einsamkeit«. Andere Menschen, Begegnungen, kommen in den Notaten nicht vor. Sie sind nahezu menschen- und zeitlos. Zwar wird hier und da ein Datum eingestreut, aber das ist eher zufällig. Dennoch beginnt man zu suchen, findet jedoch zum Nobelpreis keinen direkten, nachrichtlichen Eintrag. Lediglich drei Notate könnten als Reaktion gedeutet werden. Handkes Notizbücher sind nun mal keine Tagebücher, die sich an Aktualitäten orientieren. Derartige Ereignisse werden fast nie aufgegriffen; höchstens irgendwann beiläufig. Das gilt erst recht für private Begebenheiten (etwa Todesnachrichten von Freunden). Immerhin: Die Geburt seiner Enkelin Hilda zeigt sich an zwei, drei Bemerkungen über die »Zehensprache der Neugeborenen«.

Es dominieren sinnliche Eindrücke, die Jahreszeiten etwa mit ihren »Schwellen im Jahr«, die Wiederkehr des Immergleichen, welches dann doch immer anders ist. Es sind Versuche, Glücksmomente, epiphanische Augenblicke, in Dauer zu verwandeln. Da wird der erste Zitronenfalter des Jahres gefeiert, die Erscheinungen des »Leib- und Seelwächters«, des Rotkehlchens (als sei es über die Jahre immer derselbe »Zauber-Zwerg«) und später, das kennt man, die kleinen Frechheiten der Spatzen. Es gibt eine »Eichelhäherpaar-Quäkzeit« und eine Zeitschwelle, als die Brombeeren nicht mehr reifen. Handke kreiert den »Mittwinter«, entwickelt eine fast kindliche Freude beim ersten Schnee, sammelt »Unvergleichlichkeit[en]«, schaut auf den »Totentanz der Eintagsfliege« oder erzählt »das Auftreffen der letztem Lindenblüten auf dem Gartenteich«. Schon jeder neue Tag wird wie ein Wunder gefeiert: »Tagwerden im Tag« sind diese Eindrücke überschrieben. Fast ausschließlich scheint sich dies an den »Rändern«, seinen beiden französischen Wohnorten abzuspielen (inklusive der seltsamen Melancholie, die ihn in den Vorortzügen um Mitternacht aufzusuchen scheint).

Sehr viele (zuweilen skurril-heitere) Traumaufzeichnungen finden sich im Band, die allesamt mit »Aus der Nacht gesprochen« eingeordnet werden – wie der Titel seines 2010 erschienenen Buches über nachträglich aufgeschriebene Träume. Selbstverständlich finden sich in großer Zahl Lektüreeindrücke. Immer wieder Goethe (abgekürzt mit einem »G.«), aber nicht mehr derart dominant wie gegen Ende des letzten Journalbands. Geradezu begeistert ist Handke von Tolstoij. Auch Stifter wird hymnisch gepriesen, als »Meister der Spannung«; neu gelesen wie auch Rilke (eher skeptisch) Kafka (»Beim Lesen von K’s Kurzfragmenten ein gesundes Haarsträuben und Am-Schopf-Genommenwerden«), Grillparzer und Faulkner. Weitere Lektüren sind beispielsweise Annemarie Schwarzenbach (Russland-Reportagen), Charles Dickens, Victor Hugo, Emily Dickinson, Yasunari Kawabata, André Dhôtel (mehrere Bücher von ihm), den Briefwechsel zwischen Hermann und Hanne Lenz, Stendhal, Balzac und Italo Svevo. Handke untersucht Dostojewskis Dramaturgie, streift Nietzsche und kritisiert Freud. Und immer wieder steigt er in die biblischen Texte, insbesondere die Apostelgeschichte; Exkursionen gleich mit seinem Griechisch-Wörterbuch aus längst vergangener Zeit und mit dem besonderen Klang der Seiten beim Blättern.   

Auch dieses Journal ermöglicht Eindrücke aus der »Werkstatt« des Autors. Seit 2016 steckt er in den Arbeiten für die Erzählung, die zunächst mit »Einfache Fahrt« benannt wird und aus der sich später der Titel »Die Obstdiebin« schält. Überraschend, wenn er Tanja Blixen als den »Motor« für die Figur der Obstdiebin, »Parzivals Schwester«, bezeichnet. Kaum ist diese Erzählung für beendet erklärt, widmet er sich dezidiert dem Drama um Zdenĕk Adamec (»meine Wallfahrt ins Nichts«). Handke unternimmt sogar eine Reise nach Tschechien, besucht Pelhřimov, »Zdeněks Schulort«, und seinen Wohnung in Humpolec, trifft die Mutter, lässt sich von »Zdeněks angeborene[r] Zornesader« erzählen. Handke, der die »Journalistenprosa« so vehement ablehnt (»das Gift der Zeitungen«), recherchiert, und versucht, diesen Zdenĕk Adamec wiederzubeleben und unsterblich zu machen. Es sind bewegende Einträge, die aus dem üblichen Schema der Notate herausfallen.  

Handkes Schaffenskraft ist enorm. Es geht Schlag auf Schlag weiter mit Überlegungen und Umkreisungen zur »Rachegeschichte« (»Das zweite Schwert«), danach zur »Dämonengeschichte« (die zunächst »Dekapolis« genannt wird) und schließlich finden sich erste Entwürfe zum »Großvater-Dialog« (»Zwiegespräch«). Hierzu gibt es schon sehr früh eine Idee, als er eine »Variante von Bouvard und Pécuchet« entwirft: »als zwei weise, weise gewordene Alte«. Gegen Ende des Buches finden sich vereinzelt Notizen über das »Allerletzte Epos« (»›Die Risse in den Schwellen‹«) – eine deutliche Anspielung auf »das letzte Epos«, mit dem »Die Obstdiebin« apostrophiert wurde. Der Leser weiß nun: es ist eine größere Erzählung zu erwarten.

Das Journal kommt nur einmal – und zwar unfreiwillig - in die Nähe eines Tagebuchs: In der Corona-Zeit. Handke zählt 2020 die Tage der Quarantäne, in der es in Frankreich nicht erlaubt war, das Haus länger als eine Stunde zu verlassen. Es ist eine Einschränkung der Möglichkeit des »Woandersseins« – aber Handke scheint dies stoisch, wenn auch mit einer gewissen Ungeduld, zu ertragen. Dabei gibt es zahlreiche Eintragungen, in denen er seiner eigenen Ungeduld (Frucht einer empfundenen »Zeitnot«) Herr werden möchte, sich selber zur Geduld ermahnt. Fast scheint es so, als rechne er die Ungeduld als eine 8. Todsünde – dann sind es aber doch andere Verhaltensweisen, die von ihm derart apostrophiert werden. Freilich ist diese Liste nicht so lang wie die der 11. Gebote, die bereits in der »Baumschattenwand« begonnen wurde.

Viele der an sich selber gerichteten Aufforderungen und Sprachsuchen sind in Dialog- bzw. Frageform verfasst, was dem Journal den Titel gegeben hat. Handke betreibt ein Spiel der Dialektik, ein Sich-ins-Wort-fallen, oft durchaus mit Humor und Selbstironie und manchmal in einen Aphorismus mündend. Die gefundenen Antworten liefern nur zeitweise Gewissheiten; nicht selten, dass sich Handke später widerspricht oder einen anderen, neuen Aspekt hinzufügt. Derart kann man beispielsweise die Ausführungen über seine »Menschenfeindlichkeit« besser einordnen (und sei es auch nur, dass ihn das Hundegebell in der Nachbarschaft zum Menschenfeind macht). Er entdeckt immer wieder auf Neue (oder aufs Alte) Facetten an sich, die er nicht mag, die er aber vor sich erklärt (aber nicht rechtfertigt).

Nahezu eruptiv brechen sich gelegentlich Erinnerungen an Vergangenes Bahn, Wieder-Holungen prägender, lebenseinschneidender Ereignisse, wie etwa eine Osterfeier als Kind in der Kirche mit dem Großvater, der erste Abend im Internat 1954, wo er sich »eingeweint ins Fremdsein« habe oder eine Reminiszenz auf 1978 in New York, beim Schreiben von »Langsame Heimkehr«. Zahlreicher als bisher gibt es Überlegungen zum Tod und dem Sterben, etwa wenn er letzte Worte von Sterbenden imaginiert oder auch die Todeslaute von Tieren deutet und einmal (für sich, den Verächter?) konstatiert: »Der Hochmut, die Hoffart, dessen, der die Angst vor dem Sterben verloren – abgetan hat, oder das jedenfalls vorgibt«. Überraschend kommt das Bekenntnis daher, er sei »Essenzialist, mit nοch und nοch Neben- und Umweg-Essenzen«. Man kann es als trotzige Selbstcharakterisierung lesen oder auch als Provokation; einen Futterbrocken für all die Exegeten und Deuter.

»Entziffern, buchstabieren, kombinieren, phantasieren« – so sind Handkes Journale seit eh und je zu verstehen. Er setzt noch hinzu: »Ich erreiche meine Reisegeschwindigkeit, wenigstens einmal am Tag, lang oder kurz«. Wer sich auf diese Reisen in Peter Handkes Welt begibt, benötigt Geduld und Muße. Aber es lohnt sich. Um vielleicht irgendwann mit einem Kopfschütteln über »die Schönheit. Das Blauen. Das Grünen. Das Leuchten« – kurzum über die Schönheit der Welt – zu staunen.

Artikel online seit 26.04.22
 

Peter Handke
Innere Dialoge an den Rändern
2016-2021
Jung und Jung
384 Seiten, Klappenbroschur
26,00 €
978-3-99027-263-3

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten