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»Ich, der Unsterbliche«

Neue Bücher von, mit und über Peter Handke zum 80. Geburtstag des Dichters.

Von Lothar Struck
 

Am 6. Dezember wird Peter Handke 80 Jahre alt. Sein Hausverlag Suhrkamp veröffentlicht aus diesem Anlass eines der zahlreichen, in Marbach archivierten Notizbücher in der Lesefassung der vollständigen Transkription. Ausgewählt wurde das Notizbuch mit Eintragungen zwischen dem 24. April und 26. August 1978 (Signatur DLA Marbach: »Notizbuch 015« bzw. »ÖLA SPH/LW/W86« für die Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien). Auf dem vorderen Vorsatzblatt finden sich neben zahlreichen Notizen auch der in der Forschung verwendete Titel dieses Notizbuches: Die Zeit und die Räume.

Die Digitalisierung von Handkes Notizbüchern

Das Original ist ein Spiralheft im für Handkes Notizbücher üblichen DIN-A6-Format. Es hat 180 Seiten und die Eintragungen sind je nach Verfügbarkeit mit Bleistift, Kugelschreiber oder farblich unterschiedlichen, dünnen Filzstiften ausgeführt. Auch für die Zeichnungen wurden keine speziellen Stifte verwendet. Die Notate sind zwar chronologisch, aber man findet selten ein Datum. Es sind ausdrücklich keine Tagebücher, sondern eher Werkstattentwürfe. Leopold Federmair nennt sie in seinem neuesten Buch (welches weiter unten besprochen wird) »Aufzeichnungsbücher«, apostrophiert sie als »Ausstellungsorte für Dinge« - und fügt in Klammern hinzu: »in zweiter Linie auch für Gedanken«. Wenn man die faksimilierten Seiten liest, stellt man überrascht fest, dass Handke selten Korrekturen vorgenommen hat. Es gibt kaum Streichungen, nur manchmal wird ein Wort ergänzt. Die Schrift ist zumeist deutlich lesbar; nur gelegentlich überlappen sich Zeichnung und Text oder Regentropfen sind auf das Papier aufgetroffen. Wie bei Handke üblich, enden die jeweiligen Notate stets ohne Punkt; andere Satzzeichen werden aber verwendet. 

Im vorliegenden Suhrkamp-Band umfasst der reine Text rund 240 Seiten, was damit zu tun hat, dass die Notate jeweils mit einer Leerzeile abgesetzt sind. Die 102 Fußnoten sind meistenteils Übersetzungen aus von Handke verwendeten fremdsprachigen Zitaten. Nur englischsprachige Ausschnitte werden nicht übersetzt. Danach folgt ein Bildteil mit 39 faksimilierten Notizbuchseiten, welche die Zeichnungen Handkes in diesem Notizbuch zeigen (auf die im Textkorpus hingewiesen wird) sowie eine Karte mit den Stationen einer Reise vom August 1978. Das Buch endet mit einem klugen Nachwort der Herausgeber Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor (unter Mitarbeit von Vanessa Hannesschläger).   

Von Bülow und Fetz sind die Leiter des auf zwei Jahre befristeten Projekts »Peter Handke Notizbücher. Digitale Edition«, einer vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Kooperation zwischen dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Als Leiterin des Editionsteams fungiert die exzellente Handke-Kennerin Katharina Pektor. Mit Hilfe der Software »Transkribus« werden Handkes Notizbücher digitalisiert, transkribiert und in eine allgemein verständliche Lesefassung überführt. Zuweilen finden sich kurze Erläuterungen beispielsweise zu Abkürzungen, die Handke verwendet. Zwei Bücher sind aktuell bereits fertiggestellt; eines davon ist Die Zeit und die Räume. Weitere 20 Notizbücher sind »in Bearbeitung«. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zeitraum von 1976 bis 1979.

Deutliche Bearbeitungen Handkes für das Journal

Als das vorliegende Aufzeichnungsbuch entsteht, lebt Handke mit seiner 9jährigen Tochter Amina, auf die sich Handke bisweilen bezieht, noch in Clamart, einem Vorort von Paris. Im Verlauf des Sommers gibt Handke das Haus auf; die Tochter geht vorübergehend zur Mutter nach Berlin (als er 1979 nach Salzburg geht, wird er erneut zum alleinerziehenden Vater).

Wer glaubt, die meisten Eintragungen bereits durch den Journalband Die Geschichte des Bleistifts (1982 erschienen) zu kennen, wird eines besseren belehrt. Es zeigt sich, wie stark Handke seine Notizbucheintragungen für die Verwendung in das (öffentliche) Journal ergänzt und bearbeitet hat. Dabei nehmen die Eintragungen von Die Zeit und die Räume nur rund zehn Seiten des Journalbands ein, der auf rund 250 Seiten den Zeitraum von 1976 bis 1982 umfasst. Man stellt fest, dass im Journal zudem noch Ausschmückungen gibt, die sich nicht in der Vorlage finden bzw. als eine Art Destillation mehrerer Einträge zusammengefasst und neu ausformuliert sind.

So fehlen im Journalband aus verständlichen Gründen die intimen Eintragungen, die auf eine Beziehung zu einer Frau hindeuten. Das Verhältnis war wohl, wie die Notate nahelegen, sehr fragil, wobei man immer berücksichtigen muss, dass Handke mit seinen Notizen ein literarisches Werkstattschreiben praktiziert, d. h. die geschilderten Ereignisse oder Emotionen (sie reichen von »ewige[r] Feindschaft« bis zum Rausch der Vereinigung) müssen nicht real stattgefunden haben. Ebenfalls kaum Erwähnung findet die tastende Suche nach der Formung des Charakters des Geologen Valentin Sorger, der Hauptfigur der später erscheinenden Erzählung Langsame Heimkehr. Nur sehr kursorisch erfährt der Journal-Leser von der ausgiebigen Reise des Dichters (ohne Tochter) im August 1978 nach Kärnten, Slowenien, den Karst und Italien nebst den Kirchen- und Gottesdienstbesuchen, die in manchmal euphorischer Weise erzählt werden.

Wahrnehmungen, Selbstgespräche, »Form-Elemente«

Daneben wechseln sich im vorliegenden Notizbuch aphoristisch zugespitzte Aussagen (»Mein Haß will Ewigkeit«, aber auch einige Invektiven gegen Deutschland bzw. den Deutschen, die ja eigentlich sein »Volk der Leser« darstellen) aber auch bewusst überzeichnete Selbstcharakterisierungen (»Monster aus Gewohnheiten«) nebst zum Teil absurd-komischen, deklamatorisch vorgebrachten Spitzen (»›Ich, der Unsterbliche…‹«) mit intensiven Erlebnis-Wahrnehmungen scheinbar trivialer Ereignisse und Zitate aus Lektüren (vor allem Homers Odyssee und Rousseau, aber auch T. S. Eliot und John Cowper Powys) ab. Elementar sind die Reflexionen über die sogenannten »Form-Elemente«, in denen der Dichter auf der Suche nach dem Schreib- und Lebensgefühl des Raums und der Form für sich und auch seiner Hauptfigur ist, wobei beide Figuren manchmal zu verschmelzen scheinen. Da wird die Erfüllung der Sehnsucht nach Weltgefühl gesucht; etwas, was sich ereignet und nicht herbeigeführt werden kann, und dann bisweilen wie eine Erlösung wirkt: »Endlich die Raumwahrnehmung des Tages«. Im Nachwort wird die Form- und Raumsuche Handkes, die sich über subjektive Sinneseindrücke einstellt und vom Wahrnehmenden verlangt, sich »von seinen Vorurteilen und individuellen Eigenheiten« loszusagen, skizziert.

Da durchzieht Lindenblütenduft das Haus, Kastanienbäume werden zu Königreichen, in den Dolinen entsteht ein »ganz unerhörtes Horizontgefühl« und das Abendmahl des Gottesdienstes führt zum Begreifen des »Wunders«. Da geschieht sie, die »Verwandlung und Bergung der Dinge«, wie es in der Lehre der Sainte-Victoire heißt; wie zum Beispiel die Speisewürze in der Maggiflasche, »schimmernd glänzend im Deckenlicht« oder zwei »sich kreuzende Schatten« auf einer Untertasse. Sie bekommen durch die Zeichnung des Wahrnehmenden Dauer; eine Dauer jenseits der Nachrichtenaktualität und erzeugen ein »mit der Welt verschlingende[s] Gefühl«. »Sein Idealzustand (seine Lebensphilosophie): das erzählende Beschreiben«, heißt es einmal und unterstützt wird dies – ungewöhnlich für Handke - mit zwei Ausrufungszeichen. Um von sich zu abstrahieren, schreibt Handke hier von sich in der dritten Person; ein Verfahren, dass er zuweilen aufgreift, auch in Selbstgesprächen. 

Man kann gar nicht genug von diesen Impressionen auf Wochenmärkten, Kirchplätzen oder Bahnhofsstationen bekommen; manches erinnert an das viel später entstehende sprach- aber nicht geräuschlose Stück Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten. Handke gerät im August 1978 durch die Reiseeindrücke in eine Art Schau-Rausch und man ist überrascht, wie leicht und heiter sich diese Eintragungen über weite Strecken lesen.

Dies eben auch, weil die zuvor zeitweilig schlechte bis gallige Laune des Schreibers verschwindet. Nur noch selten brechen die bis ins idiosynkratisches reichenden Schuld- und Selbstschuldzuweisungen auf. Gedanken kreisen zuweilen um das, was er missbilligt, ja verachtet, aber dies eigentlich nicht möchte. Nicht nur hierfür sind die Kirchen- und Gottesdienstbesuche wie ein Balsam, die zur Besänftigung und kurzzeitig zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl führen, wobei diese ideale Zustand durch das jeweilige Notat für immer bewahrt bleibt.

Auf der Schwelle

Was man bei der Lektüre nicht vergessen sollte: Handke ist bei Niederschrift dieser Notizen 35 Jahre alt. Er war seit 12 Jahren mit zehn Erzählungs- bzw. Romantexten (davon waren bereits vier verfilmt; zwei davon mit sich selber als Regisseur), neun Theaterstücken, zwei lyrisch-experimentellen Büchern und vier Hörspielen präsent. Die Forschung macht für die Zeit Ende der 1970er Jahre eine Wende in Handkes Werk aus. Das Vorbild wechselte von Kafka hin zu Goethe (und, was oft vergessen wird, Stifter). Das Notizbuch 015 gilt als eines der Werkstattbücher, in denen die Tetralogie vorbereitet wird; man wähnt ihn (und er sich selber?) auf der Schwelle zu etwas Neuem. Zwei Jahre zuvor war Handke mit Panikattacken und Herzrhythmusstörungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Es wurde ein angeborener Herzfehler diagnostiziert, an dem er bis heute laboriert. Allgemein wird angenommen, dass dieses Ereignis Handke zu einer Umkehr vom »Stürmer und Dränger«, wie die Herausgeber dies im Nachwort formulieren, zum ambitionierten Neo-Klassiker veranlasste. Freilich ist diese Veränderung eher als Prozess zu verstehen, denn bereits Anfang der 1970er Jahre wird die Hinwendung Handkes zum Erzählen deutlicher (zum Beispiel durch das, was man später »Neue Subjektivität« nannte). Rolf G. Renner spricht vom Langsame Heimkehr-Zyklus als »autobiographische Selbstreflexion mit einer philosophisch begründeten poetologischen Reflexion«. Dabei tritt der experimentell-sprachkritische Gestus immer mehr in den Hintergrund. Er verschwindet jedoch nie, was sich schon daran zeigt, dass er Mitte der 1990er Jahre in den Jugoslawien-Büchern neu aufflammt.

Im Notizbuch 016, von dem 24 Seiten im Jahr 2014 transkribiert und im Insel-Verlag unter dem nüchternen Titel Notizbuch kommentiert erschienen waren, wird die Beschäftigung mit Sorgers Erzählung intensiver und drängender. Die seinerzeit ausgewählten Seiten zeigen einen Zeitraum von Ende September 1978 bis Anfang Oktober 1978: Handke ist in den USA und dort ereilt ihn dann Ende 1978 in New York eine weitere existentielle Krise, eine, wie er es selber später nannte »Sprachstille«, einher gehend mit einer Panik, die von nun an die Genese von Langsame Heimkehr begleiten sollte. Schließlich gelingt es ihm, »sich aus Isolation und Stummheit herauszuarbeiten« (Hans Höller).

Von dieser Entwicklung ist in Die Zeit und die Reise noch wenig zu bemerken. Neben den Überlegungen zu den »Vorzeitformen« (der ursprünglich angedachte Titel für Langsame Heimkehr), zeichnen sich, wie die Herausgeber schlüssig belegen, bereits erste Spuren der 1986 veröffentlichten Erzählung Die Wiederholung ab, dem Buch, dass man durchaus als Handkes erstes »Jugoslawien«-Buch bezeichnen könnte. Mehrmals begegnen Handke auf seiner Reise durch Slowenien Tito-Bilder. Es ist das Slowenien im Vielvölkerstaat Jugoslawien, jenes Land seiner Vorfahren mütterlicherseits, das Handke in den 1980er Jahren mehrfach bereisen und idealisieren wird. Er erlernt die slowenische Sprache nochmals neu (was später zu dem Irrtum verleitete, er, Handke, sei ein Befürworter des neu geschaffenen slowenischen Staates) und übersetzt 1980 zusammen mit Helga Mračnikar Der Zögling Tjaž von Florjan Lipuš. Wie Kobal seinen verschollenen Bruder suchte, so forscht Handke den  Spuren seines 1943 auf der Krim gefallenen Patenonkels nach, der einst an der Obstbaumschule in Maribor Apfelanbau studiert hatte.

Handke dürfte irgendwann erkannt haben, dass die Figur Sorger unmöglich alle zugedachten Eigenschaften und Eigenheiten aufweisen kann, die er ihm in zum Teil spielerischen Sentenzen schlagwortartig zuweist. So werden später einige von Sorgers Wahrnehmungen, Behauptungen und Darstellungen – besonders jene auf der Reise - auf die Hauptfigur der Wiederholung, Filip Kobal, projiziert. Wie initiativ diese Zeit, die beschriebene Reise bezogen auf die spätere Jugoslawien-Melancholie Handkes war, kann man dreizehn Jahre später in Abschied des Träumers vom Neunten Land sehen. In dieser Streitschrift von 1991 wider die Etablierung eines unabhängigen, sich von Jugoslawien lösenden slowenischen Staates, stammen von den sechzehn Illustrationen elf aus Die Zeit und die Räume.

Insofern ist die Wahl, dieses Buch einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, richtig. Die Umsetzung ist vorbildlich gelungen. Man wünscht sich, auch andere Aufzeichnungsbücher Handkes derart aufbereitet zu sehen.

Die Rinde einer Esche

Bereits im Sommer publizierte der Wallstein-Verlag die ambitionierte und fruchtbare Studie der Germanistin Marit Heuß über Peter Handkes Bildpoetik. Zum 80. Geburtstag legt der Verlag nun im Rahmen der »Edition Petrarca« nach. Es handelt sich um die Erzählung Kleine Fabel der Esche von München, die als kleines Coffeetable-Book sowohl eine transkribierte wie auch eine Lesefassung und das Manuskript-Faksimile abdruckt. Ergänzt wird der Band mit Fotos der Esche von Isolde Ohlbaum sowie einem Nachwort von Michael Krüger.

Die Fabel erschien erstmals 1990 im Residenz-Band Noch einmal für Thukydides, der eine Reihe von kleinen Erzählungen, die Handke Epopöen nannte, enthielt. Die meisten dieser Erzählungen wurden datiert; eine Reminiszenz an den Geschichtsschreiber und Kriegsberichterstatter Thukydides. Aber statt wie dieser Kriegsereignisse zu katalogisieren, bekamen nun entsprechend Stifters sanftem Gesetz die Wahrnehmungen und kleinen Erlebnisse des Dichters durch die Datierung dauerhafte Aufmerksamkeit. Dabei geht es unter anderem um Wetterleuchten, eine Schuhputzszene, eine zauberhafte Glühwürmchenerscheinung aber auch um das Trugbild einer Idyllenlandschaft, in der Handke urplötzlich das Schreien der Kinder hört, die 45 Jahre zuvor von genau diesem Ort nach Auschwitz deportiert wurden.  

Die Eschen-Erzählung entstand am Allerseelentag 1989 oder, genauer, sie nimmt auf diesen Tag Bezug, weil sie dort endet. Der Ich-Erzähler hatte zuvor an mehreren Tagen immer wieder diese Esche am Münchner Siegestor aufgesucht, sie umgangen, die Rindenmuster, die ihn einmal an ein Kohlenflöz erinnern, befingert, den Mikrokosmos, der ihn einmal sogar an den Ärmelkanal erinnern, mit all seinen Tierchen angeschaut, dem Fallen der Blätter gelauscht und sich »Bildsprüngen« hingegeben. Michael Krüger erklärt in seinem wunderbaren Nachwort, wie er und Handke diesem Baum seit Jahrzehnten sozusagen verbunden sind und legt den Schluss nahe, dass die kleine Erzählung während eines Besuchs von Handke bei Hermann Lenz geschrieben wurde, der in der Nähe wohnte. Krügers topgraphische, literarische, botanische und anekdotische Ausführungen erweitern das Bild dieser vermutlich mehr als einhundert Jahre alten Esche und erzählen die Geschichte(n) hinter der Geschichte (nebenbei erfährt der Leser, dass die Eschen langfristig durch den Klimawandel eine gefährdete Baumart sind). Eine Hommage an einen Baum und die Erzählung über ihn.

Expeditionen ins Handke-Land

Gerade noch zum Geburtstag hat es das neue Buch von Leopold Federmair geschafft. Vor zehn Jahren waren Federmairs »Annäherungen« Die Apfelbäume von Chaville erschienen. Es waren acht Aufsätze, die für Handke-Leser durchaus neue Sichtweisen, beispielsweise auf das sperrige Epos Der Bildverlust ermöglichten. Federmair schildert im neuen Buch, wie er Handke bei einem Treffen im September diesen Jahres fast eine Art Geständnis macht, in dem er ihm sein zweites Buch ankündigt. Der Dichter ist nicht sonderlich erfreut darüber, und bat ihn, »wenigstens nichts über ihn als Person zu schreiben, ihn vor allem nicht zu beschreiben«. Vielleicht erinnerte sich Handke an die gleiche Stelle, die ich damals in Federmairs Apfelbaum-Buch als ein wenig übergriffig wahrgenommen hatte. Sicher ist, dass Handke Beschreibungen oder gar Psychologisierungen gegenüber seiner Person skeptisch, ja ablehnend eingestellt ist. Selbst bei Loben beschleicht ihn noch der Verdacht, dass man sich nur einschmeicheln möchte.

Federmairs neues Buch mit dem Dreiklang-Titel Elfenbeinturm, Niemandsbucht, Luftschlösser ist treffenderweise mit »Streifzüge im anderen Land« untertitelt. Erschienen ist es im kleinen, aber feinen Klever-Verlag in Wien. Hier waren auch Federmairs Darstellungen über Robert Musil (Musils langer Schatten; hauptsächlich zu dessen Monumentalroman Mann ohne Eigenschaften) und die »Spurensuche« über den argentinischen Schriftstellers Ricardo Piglia erschienen. Letzteres trägt den Titel Wer war Emilio Renzi?, denn Piglia schrieb seine Tagebücher als Figur Emilio Renzi und trieb ein Vexierspiel, das zu einer speziellen hybriden Form von »De-Identifizierung« und »Entselbstung« führte. Das bemerkenswerte bei Federmairs Essays liegt nicht nur darin, dass diese fast vollkommen frei vom drögen Literaturwissenschaftler-Sprech sind (und demnach auch keine üblichen Fußnoten vorkommen), sondern vor allem in der narrativen Struktur, mit der er ohne zu Zögern von seinen eigenen Lektüreerlebnissen und -rückschlüssen spricht und gleichzeitig beim Leser Interesse für Autoren und Werke weckt, die dieser – warum auch immer – (noch) nicht gelesen hat.

Ich hatte zum ersten Buch Federmairs über Handke damals geschrieben, dass er mir wie ein Tangram-Spieler vorkomme, der »neue, überraschende Kombinationen, Parallelen und Assoziationen« anbiete, die außergewöhnliche Perspektiven eröffnen. Dies gilt auch für sein neues Buch mit sechzehn Aufsätzen, von denen einige in diversen Medien verstreut erschienen waren – andere wiederum sind neu. Der (vermutlich) älteste Text ist von 1993 über die Peripherien des Erzählens, in dem Federmair Handkes Theaterstücke bilanziert, die Sprechstücke als langweilig deklariert und das dramatische Werk als »Nebenprodukt« und zum »Umweg und Fluchtweg des Erzählens« erklärt. Danach allerdings gab es noch elf weitere (kleine und große) Theaterstücke Handkes, darunter Immer noch Sturm, Handkes dramatisches Opus summum, welches von Federmair natürlich in anderen Essays in diesem Buch entsprechend berücksichtigt wird. Insofern wirkt dieser Text ein wenig überholt.

Dialektik bei der »Obstdiebin«

Andere Essays hingegen widmen sich aktuellen Büchern Handkes wie u. a. Das zweite Schwert, Mein Tag im andern Land oder dem Zwiegespräch. Reizvoll ist die Rezension (eigentlich wollte er keine mehr schreiben) über Die Obstdiebin, in der Lob und Tadel dialektisch gespiegelt werden. Da ist zunächst der »großartige« Beginn des Buches mit dem Stich von der Biene, die den »Wanderer-Erzähler« zum Aufbruch scheucht, dieses »Feuerwerk der Phantasie« und der subkutan spürbaren Sehnsucht nach Versöhnung. Dann jedoch entdeckt Federmair Schwächen bei den Figuren, insbesondere den jungen, auch und vor allem der Titelfigur, der Obstdiebin, die nicht die Erzählerin ist, und in die er Handkes Tochter Léocadie zu erkennen glaubt, die der Dichter »losgeschickt« habe. Da dürfte es auch wenig helfen, dass Handke diese Deutung ablehnt. Ja, sagte er mir unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches, ungewöhnlich erregt, da sei »ein Ellenbogen« von ihr dabei, aber insgesamt sei dies doch alles Fiktion. Er hätte auch »Verwandlung« sagen können.

Federmair erkennt in den zahlreichen Referenzen Handkes auf sein Werk, die dieses Buch durchziehen, eine Selbstmusealisierung, kritisiert den »Bedeutungsüberschwang« der Sprache durch häufigen Gebrauch von »Superlativen« und stellt »schrankenlose Subjektivität« fest. Als er das Buch nach der Lektüre aus der Hand legt, stellt sich überraschenderweise nach einiger Zeit »Phantomvorfreude« ein, »genauer gesagt, ein stilles Bedürfnis nach mehr, noch mehr Dahinstolpern, noch mehr Abstrusitäten, noch mehr gefederten, gefiederten, locker ausschwingenden Sätzen, nach Gefühlsschwankungen und Übertreibungen, Zufallsbegegnungen auf der Wanderschaft, kauzigem Personal, das sich bald als dies, bald als jenes entpuppt.« Der Versuch Federmairs, den Ausgleich mit seinen konträren Standpunkten herbeizuführen, scheitert schließlich, wenigstens offiziell, denn in Wirklichkeit ist es klar.

Immer wieder kommt er auf die Fragilität, die drohende Gewalt, oder, neutraler formuliert, die »Hypersensibilität der wahrnehmenden Instanz« der Handke'schen Hauptfiguren zu sprechen. Bloch, der Tormann, ist ein schizophrener Mörder. Keuschnig, der Botschaftsangestellte aus Paris, Hauptfigur der Die Stunde der wahren Empfindung ist zeitweise eine tickende Zeitbombe (die aber weder im- noch explodiert). Auch nach der »Kehre« gibt es diese Kippfiguren. Loser tötet in Der Chinese des Schmerzes den Hakenkreuz-Schmierer im Bewusstsein der guten Tat (eine erschreckend aktuelle Figur). Zwischenzeitlich hat man beim Schauspieler im Großen Fall die Befürchtung, dass er droht, ein Amokläufer zu werden und diesen nicht nur für einen Film zu spielen. Was es genau mit dem »Großen Fall« auf sich hat, bleibt diffus. Einiges in dieser Erzählung erinnert an die Vorbereitungen, die Handke 1967 in Ratschläge für einen Amoklauf an unscheinbarer Stelle im Experimentallyrikbändchen Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt platziert hatte. Ein Text, der heute noch verstört.

Die friedlichen Figuren

Dagegen ist die »Rache« des altersmilden Dichters in Das zweite Schwert ein Klacks. Gerächt werden soll die Mutter, die als Nazi-Anhängerin verunglimpft wurde. Die Denunziation gab es tatsächlich – in einer Theaterinszenierung von Wunschloses Unglück. Dort wurde in einer Bühnencollage ein Bild mit Hitler zujubelnden Massen gezeigt, worunter auch Handkes Mutter zu sehen gewesen sein soll. Handke war tatsächlich verletzt. Dennoch wird früh klar, dass die fiktive Rache nicht physischer Natur sein wird. Sie zeigt sich in der Erzählung selber und dem Verschweigen des Denunzianten. Die Rache ist eine Mischung aus Bann und Verachtung.

Wenn man genau schaut, dürften die friedfertigen, gewalt- und (weitgehend) zorneslosen Figuren Handkes, in der Überzahl sein. Allen voran ist da Filip Kobal zu nennen, der nach seiner vergeblichen Brudersuche viele Jahre später in Mein Jahr in der Niemandsbucht auf den zum Schriftsteller und Spurensucher gewendeten, sesshaft gewordenen Gregor Keuschnig trifft. Der von einem friedlichen, multikulturellen Zusammenleben in Jugoslawien desillusionierte Kobal (das Buch erschien 1994) schafft es immerhin, Keuschnig zu überreden, für sein »Volk« einzutreten. Die Folgen sind bekannt und stehen in den Regalen. Abermals Jahre später, in Die morawische Nacht, will der namenlos bleibende, selbstkritische wie selbstironische »Ex-Autor« unter anderem diese beiden Freunde aufsuchen. Kobal ist ein dicklich gewordener Regisseur von belanglosen Filmen geworden und Keuschnig ist verschollen.

Vor allem sind in diesem Zusammenhang die Frauen-Figuren Handkes zu erwähnen. Da ist zunächst Marianne, die Linkshändige Frau, die sich von ihrem patriarchalischen Mann emanzipiert. Schließlich und vor allem Nova aus Über die Dörfer, diese Hohepriesterin mit ihrem sanften, eindringlichen Weltpathos, auf die Federmair mehrmals zu sprechen kommt. Dabei findet er wenn nicht Parallelen so doch Ähnlichkeiten mit Nietzsches Zarathustra, die auf den ersten Blick überzeugen. Aber Nova verkündet keinen Übermenschen, eher im Gegenteil. Die von ihr beschworene »neue Zeit« steht jedem offen, der bereit ist, zu schauen und zu hören. In Die Geschichte des Bleistifts schreibt Handke: »Am Schluß des Dramas wird es zur Apotheose der Kunst kommen (und mit ihr der Menschen); eine Göttin soll erscheinen und den Trost verkünden…«. Jahre später wird die Priesterin in Kali ihrer Generation fast wörtlich die »Leviten« lesen, bis schließlich die Bankfrau im Bildverlust auf der Suche nach den verlorenen Bildern ist und dafür in der spanischen Sierra de Gredos eine jugoslawische Landschaft durchquert oder gelegentlich auch durchirrt.  

Handke und der Philosoph

Wie wichtig Novas Schlussmonolog für Handke ist, zeigt sich daran, dass in seiner Nobelpreisrede von 2019 vier der zehn Seiten aus Zitaten aus Über die Dörfer bestehen. Karl Wagner hat darin unlängst einen »apodiktische[n] Heidegger-Ton« festgestellt, der »nach bald vierzig Jahren durch Altern nicht einnehmender geworden« sei. Auch Federmair setzt sich mit den Spuren von Heidegger in Handkes Werk auseinander, thematisiert sehr ausführlich und instruktiv dessen »Dingwelt« und vergleicht: »Die Dingwelt Handkes ist eine eigentümliche Mischung von Konkretem, das sich über die sprachliche Benennung hinaus […] kaum auf übergeordnete Kategorien beziehen läßt und ein bloßes Vergnügen am je Besonderen ausdrückt und mitteilt, von Sinnbildern, die auf reale Dinge in einem raum-zeitlichen Koordinatensystem verweisen […] und beim Leser, der diesen Zeitraum durchlebt hat, recht genaue Wiedererkennungseffekte bewirken, und von Archetypen (oder ›Ideen‹ […]), die derlei Konkretionen überwinden, ohne zu Begriffen jenseits der Anschaulichkeit zu werden.«

Die Dinge, die das verschüttete Ich, das »Man«, entbergen, den »Wahrnehmenden entrücken« und in die Welt bringen kann, sind bei Heidegger nicht sehr zahlreich: »Krug, Schuhe, Tempel, Steg, Pflug«; elementare Dinge. Bei Handke sind es bis auf den Krug (der auch in Rund um das Große Tribunal eine kleine Rolle spielt), andere Dinge, wie der Milchstand, ein Bombentrichter, ein sauber gefegter Hof oder ein Heuharpfen. Gemein ist ihnen, dass sie in eine ursprüngliche, archaische Welt, der Kindheit oder Jugend zurückweisen, eine Welt, die nahezu vergangen ist. Man könnte hier einen schwelenden Antimodernismus sehen und viele Handke-Forscher lehnen die hier gefundenen Referenzen zwischen Handke und Heidegger schlichtweg ab; vor allem natürlich aus politischen Gründen. Sie attestieren zwar Handkes Lektüre des Philosophen, spielen jedoch den Einfluss herunter. Und tatsächlich ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass sich Handke an Heidegger ausgerichtet hat. Es dürfte sich eher um eine Ähnlichkeit, eine partielle Einmütigkeit, handeln.

Möglich ist auch, dass sich Handke eher an seinem Landsmann Hugo von Hofmannsthal und dessen Briefe des Zurückgekehrten (1907/08 verfasst) orientiert hat (einem Briefroman, den Handke mehrmals zitiert). Dessen Protagonist kehrt 1901 nach 18 Jahren Aufenthalt in Südamerika als Handelskaufmann nach Europa, genauer: nach Deutschland zurück und findet nichts mehr so vor, wie er es verlassen hatte bzw. in Erinnerung hatte. »Jene alte Welt war frommer, erhabener, milder, kühner, einsamer«, schreibt der Protagonist, der eine Form von Dominanz der allesbeherrschenden Perspektive des Tauschwertes eines jeweiligen Gegenstands erlebt. Diese Profanisierung verhindert die Hervorbringung der ursprünglichen Intention und Bedeutung des »Dings als Ding« und führt zum Verschwinden von Welt. Hofmannsthals Protagonist findet später Zuflucht oder, wenn man pathetisch werden möchte, Heilung, in den Bildern von Vincent van Gogh – wie Handke in den 1980ern (vorübergehend?) bei Paul Cézanne.

Große Spannbreite

Diese kleine Besser- oder Schlechterwisserei meinerseits soll die Leistung und die Findigkeit von Federmairs Essay nicht schmälern. Insgesamt ist die Spannbreite der Texte enorm. Einmal beschäftigt er sich mit Handkes Film Chronik der laufenden Ereignisse von 1971 und entdeckt dabei Verblüffendes aus der Zeit des »provozierfreudigen Pop-Genies«, der »fallweise [zum] ausrastenden Nörgler im Elfenbeinturm« wurde und hier einen der »Hauptfeinde der elementaren, vom Aussterben bedrohten Dinge, das verhasste Fernsehen« mit Medienkritik überzogen hatte. So etwas war damals möglich. Er macht in gewiefter Manier den Kärntner Handke zum »Oberösterreicher« und analysiert Handkes »Luftschlösser« als Bestandteil seiner »ätherischen« Ästhetik (im Gegensatz zur »mineralischen«). Dabei wird konzise belegt, dass Handkes scheinbar abgelegene oder peripheren Orte nicht wirklichkeitsabgewandt, sondern, das Gegenteil, weltzugewandt sind. Sie sind Zeugen der »Euphorie über die eigene Gegenwärtigkeit« des Subjekts, welches Dinge, Orte, Menschen (Ahnen) verwandeln kann. Federmair nennt dies Handkes »emphatische Diesseitigkeit«.

Aufschlussreich die Gegenüberstellung von Das Gewicht der Welt (1977) und Innere Dialoge an den Rändern (2022), dem ersten und dem (vorerst) letzten Band der »Journal«-Gattung. Grandios, dass Federmair für diese Extrakte von Handkes Notizbüchern den Begriff »Florilegium« findet, eine Blütenlese also, wobei die Grundlagen dieser Lese die »Aufzeichnungsbücher« sind. Nach der Lektüre von Die Zeit und die Räume fragt man sich allerdings, ob die Florilegien nicht wiederum eine neue Gattung darstellen könnten. Müsste man die »Journale« bei vollständiger Lektüre der »Aufzeichnungsbücher« gegebenenfalls neu bewerten? Handkes Auswahl, seine Veränderungen und Ergänzungen könnten einen weiteren Zweig dieses Werk-Waldes begründen.

Zwei Essays in diesem Band beschäftigen sich mit den (freundlich ausgedrückt) Diskussionen um die Nobelpreisvergabe 2019. In Peter Handkes Antifaschismus widerlegt Federmair die haltlosen und diffamierenden Vorwürfe der Feuilletonclowns und Zitatefälscher (keine Namen; diese Ehre soll ihnen nicht zuteilwerden), die aus lauter Verzweiflung um ihre Deutungshoheit Handke in die »rechte Ecke« stellen wollten. Der letzte Text, Der schwarze Peter, erstmals erschienen im österreichischen Handke-Haupthetzblatt, ist eine gelungene Mischung aus Ironie und Zorn, in der beispielsweise erläutert wird, "daß aus vagen Empörungen über Dinge, von denen die Empörten wenig oder gar nichts wissen, leicht eine Vernichtungslust werden kann" oder wie einfach sich mittlerweile der "der ungebildete Mob" auf ein Opfer stürzen kann. Die Causa zeigt allerdings, dass hier nicht nur Unbildung alleine die Ursache ist. Was bleibt sind – bei aller Kritik in Details - Handkes »Hinterfragungen der oft ideologisch bedingten und in parolenhafte Sprache gegossenen Gewißheiten, wie sie ein Großteil der Massenmedien und heute vor allem die ›Sozialen Medien‹ verbreiten.« Spätestens hier zeigen sich, so Federmair in einem anderen Aufsatz, die beiden Desillusionierungen in Handkes Leben: Justiz und Journalismus.  

Statt also die jetzt vermutlich quälenden Geburtstagstexte aus den platonischen Höhlen des Kulturjournalismus über sich ergehen zu lassen, sollte man seine Zeit besser nutzen und wenn es schon Sekundärliteratur sein soll, dann zu Federmairs Buch greifen. Es klärt nicht nur hier und dort auf, sondern könnte Lust bereiten, das ein oder andere Buch (wieder) zu lesen.  


Artikel online seit 04.12.22
 

Peter Handke
Die Zeit und die Räume
Notizbuch. 24. April – 26. August 1978
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor, unter Mitarbeit von Vanessa Hannesschläger
Suhrkamp
311 Seiten
34,00 €
978-3-518-43075-0

Leseprobe & Infos

Peter Handke
Kleine Fabel der Esche von München
Mit Fotos von Isolde Ohlbaum und einem Nachwort von Michael Krüger
Wallstein
Reihe: Edition Petrarca
79 S., 15 Abb., geb.,
20,00 €
978-3-8353-5247-6


Leopold Federmair
Elfenbeinturm, Niemandsland, Luftschlösser
Streifzüge im anderen Land. Essays zu Peter Handke
Klever Verlag
208 Seiten
20,00
978-3-903110-93-9

 


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