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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Umkurvungen

Leopold Federmairs lesenswerte Annäherungen an Peter Handke »Die Apfelbäume von Chaville«

Von Lothar Struck

"Annäherungen an Peter Handke" untertitelt Leopold Federmair sein Buch "Die Apfelbäume von Chaville". Und an einer Stelle beschreibt er Handkes Erzählen als ein "Umkurven": es verbindet die Fortbewegungsweise des Gehens mit der literarischen Tätigkeit des Umschreibens. Diese Beschreibung kann man auch für Federmairs Vorgehen verwenden. Die acht Essays dieses Buches sind Wort gewordene "Umkurvungen", Selbstvergewisserungen eines Lesers, geschrieben als Angebote für andere (suchende, offene) Leser. Als Kronzeugen werden neben Adalbert Stifter und Ferdinand Raimund, auf die sich Handke immer wieder selbst bezieht, Heimito von Doderer, Klassiker wie Goethe und Novalis, natürlich auch die beiden "Figuren der Umwertung" Nietzsche und Genet, Thomas Bernhard, Rainer Maria Rilke und Michael Ende herangezogen (die Aufzählung ist nicht vollständig). Diese Parallelführungen werden ergänzt durch zum Teil sehr persönliche Leseeindrücke des Autors. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten, Unterschiede und Brüche im Werk Peter Handkes gegenübergestellt. Das wird präzise und flüssig vorgebracht und hat Tiefe, ohne den Leser zu überladen.

Wunderbar dieser Aufsatz über den Besuch Federmairs und seiner kleinen Tochter bei Handke: die vibrierende Spannung, die zwischen dem gastfreundlichen, aber zuweilen stichelnden Dichter und dem besuchenden Leser entsteht und dann das grandios erzählte Schlussbild (welches hier nicht verraten wird). Instruktiv sind die Ausführungen über den "Bildverlust", dieses kryptisch-düstere Werk, das Federmair mit einigem Grund als barockes Epos charakterisiert. Seine Fundstücke, Eindrücke und Einwürfe bringen es plötzlich wieder zum Leuchten, sowohl als friedliebende Hommage an Cervantes und seinen komischen Krieger als auch in Verbindung mit einer gesellschaftlichen Autarkie-Utopie, die so oft in Handkes Werk durchschimmert; vor allem im dramatischen Werk, von "Über die Dörfer" bis zur Reisegesellschaft im "Spiel vom Fragen" oder dem "Lusthaben auf Macht" des "guten Königs" in "Zurüstungen für die Unsterblichkeit", dessen menschenfreundliches Projekt am Ende von (Selbst-)Zweifeln und "Raumverdrängern" bedroht wird. 

Die hier über die Jahre angedeutete, schließlich immer weiter verfeinerte Enklavenphilosophie Handkes, so Federmair pointiert, beruht auf der Idee und, zuvor noch, dem Bedürfnis nach einer Autarkie, einer Selbstbestimmung und Selbstgenügsamkeit, die im Notfall der Monopolwelt Widerstand bieten oder zumindest neben dieser durchhalten kann - einer der wichtigen Punkte, die das Jugoslawien-Engagement Handkes und seine vielgeschmähten Betrachtungen vom Belgrader Markt in der "Winterlichen Reise" begründen. Hierzu passt dann das Liebäugeln mit dem Dichter als Erlöserfigur, als Stifter des Bleibenden wider die Frivolitäten der Massenkultur und Federmair zeigt Handkes Sehnsucht, ja Vision einer anderen, zwanglosen, nicht aber verantwortungslosen Gemeinschaft, die sich einst an einem "Volk der Leser" festmachte und dann später in Jugoslawien die "Vereinzelten" im Pathos der Distanz erkannte (und bisweilen idealisierte). Am Ende wird Federmair selber zum Poeten: Sehnsucht nach dem Dorf, ja; Sehnsucht nach Heimkehr. Wissen, dass es keine Heimkehr mehr gibt. Kälte, neue Kälte. Und trotzdem, wider das Wissen, Sehnsucht des Träumers nach dem Neunten Land. Treffender kann man Handkes Movens nicht ausdrücken.

"Kunst der Indirektheit"

Dabei ist Handkes Erzählweise…im Lauf der Jahre zu einer Kunst der Indirektheit geworden, die sich im Modus von Umschreibung und Abschweifung vollzieht, welche sich dann besonders im "Bildverlust" als schier ausufernde Fragemanier zeigt, ein unsichere[s] Erzählen, welches eben auch eine fortschreitende, oft fröhlich anmutende Unsicherheit ausdrückt, die zuweilen inzwischen sogar selbstironisch daherkommt.

Der in den frühen Werken hervorbrechende und -tretende Weltekel (der Figuren) weicht mit der Wende zur positiven Ästhetik einer Weltfrömmigkeit, in der die mystischen Augenblicke Aussicht auf eine poetisch erzeugte, sich zeitigende Dauer bekommen. Hierin zeigt sich vor allem Handkes "Wende" zum "Klassischen" (Hans Höller), die mit der "Langsamen Heimkehr" Mitte der 70er Jahre einsetzte und das sprachkritische Element zu Gunsten des Epischen in den Hintergrund drängte. (Dass diese Entwicklung durch die Jugoslawien-Bücher 1995-2006 mindestens teilweise umgekehrt wird, wird nicht thematisiert.) Plötzlich wird ein In-der-Welt-sein als Geborgenheit und Bergung möglich. Nicht nur hier "heideggert" Federmair, womit er demonstriert, wie eng Handkes existentialistisches Denken, jenes Weltwerden der Welt zu beschwören, an Heidegger wenn nicht ausgerichtet so doch immerhin angelehnt ist. Etwa, wenn der Apotheker aus Taxham ("In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus") als Figur ohne religiöse oder ideologische Perspektive, allein auf das menschliche Dasein als Wahrnehmung des Seienden bezogen definiert wird. Wobei Federmair eine kleine Schwäche zeigt, in dem er die religiösen (oder, vielleicht treffender, sakralen) Konnotationen Handkes ein bisschen vernachlässigt. Aber dafür gibt es ja Harry Balochs präzise Studie "Ob Gott oder nicht Gott".  

Die epiphanischen Augenblicke sind bei Handke immer wieder bedroht durch Krieg und Gewalt. Sie führen zur Relativierung dieses "geglückten Moments", jenes "nunc stans", des "Daseinszwecks" (um es pathetisch zu formulieren). Und vielleicht ist in der Dualität von Frieden und Krieg, von Gewalt und Sanftmut erst die Friedenssehnsucht möglich - das kommt einem zuweilen in den Sinn. Die Gewalt-Affekte - sei es als Hintergrund oder sogar als direkte Gewaltausbrüche der Protagonisten Handkes -  sind jedenfalls ein Kontinuum im Werk des Schriftstellers. Auch nach der Wende in den 70ern gibt es immer eine gewisse Neigung zur Gewalt in der Prosa, was zugespitzt einmal als ein Pendeln zwischen Amokläufer und Flaneur beschrieben wird. Souverän verknüpft Federmair diese Stellen in Handkes Werk miteinander, etwa wenn er Blochs Mord an der Kassiererin, Losers Tötung des Hakenkreuzschmierers und Gregor Keuschnigs gerade noch unterdrückte Mordlust untersucht. Alle Wege führen hier am Ende zu Valentin Sorger aus der "Langsamen Heimkehr", der zum Spielball der Daseinsdramatik und Opfer innerer Unruhe und somit zum Alter ego Handkes wird. Es ist diese Grundwut, auf die Federmair immer wieder hinweist und die in Handke stetig weiterglimmt. Sie dürfte ein wesentlicher (weiterer?) Antrieb für Handkes Schreiben sein.

Der Tangram-Spieler

Wie ein Tangram-Spieler findet Federmair immer neue, überraschende Kombinationen, Parallelen und Assoziationen, die zuweilen zu überraschenden Schlüssen führen und außergewöhnliche Perspektiven eröffnen. So entdeckt er ein Dreigestirn in Handkes Werk, das sich nicht in einem einzigen Augenblick zeigt, sondern aus einer inzwischen fernen, entschieden provinziellen Kindheit, gleichsam aus der Vorgeschichte des Autors uns seiner Figuren, bewahrt und immer wieder neu gestaltet wird: Bombentrichter, Milchstand und Seesack (aber was ist mit dem Schuhband oder den Spatzen?). In einem anderen Text wird über die Aufgabe der Erzählung im Sinne von Handke referiert. Sie besteht darin die Wirklichkeit des Unscheinbaren zu behaupten und seine Strahlkraft zu sichern. Und so wird ein Bogen zur "Lehre der Sainte-Victoire" und zu Cézanne, dem "Menschheitslehrer" des Protagonisten, geschlagen: Über die Wirklichkeit eines Phänomens entscheidet der, der es durch seine besondere Wahrnehmung oder Verwandlungskunst zu steigern, zu bestätigen, zu kräftigen versteht. Was dann zur Handkeschen Definition des Synästhetischen führt (die Überlagerung von gegenwärtigen Empfindungen und Wahrnehmungen mit Vorstellungsbildern, die sich auf ferne Orte beziehen). Und so springen die Gedanken in diesem Buch nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen, sondern vom Hölzchen aufs Hölzchen.

Federmairs letzter Essay über "Handke als Erzieher" versucht einerseits die (private) Rolle als Vater, andererseits dessen eigene Erziehung durch die Literatur und den hieraus auf den Leser ausstrahlenden Einfluss zu bestimmen. Handke sei, so Federmair, im wesentlichen Autodidakt, der sich ohne brauchbare Lehrer (was ist mit Reinhard Musar [der in der "Wiederholung" fiktionalisiert erscheint]?) am eigenen Schopf  durch die Literatur aus dem Sumpf gezogen hat. Ein Verfahren, dass er womöglich seinen eigenen Lesern an die Hand geben möchte (womit nicht gesagt ist, dass sich Handke als einzige Referenz sieht). Hier zeigt sich die H-Maxime (auch als "Handke-Maxime" zu lesen), jener Bezug auf Goethes Gebot, sich "bildsam" zu erhalten - ein immer wieder auftauchender Topos Handkes, der zu seinem Imperativ geworden ist. Und wieder ist es sehr aufschlussreich, wenn Federmair aus seiner ureigenen Lesersicht erzählt, wie Handkes Ethik, in der Beispiele, Vorbilder, Praktiken und Erfahrungen eine größere Rolle spielen als Vorschriften und Regeln in die Gestaltung des eigenen Lebens als "persönliches Kunstwerk" einsickert. Hier zeigt sich, wie der Leser von Handke "erzogen" werden könnte (freilich ein Erziehen bar jeder Pädagogik).

Federmair reflektiert auch auf gängige Einwände gegen Handkes Prosa, konzediert die Möglichkeit, dass die oft zwanghafte Suche nach Bedeutsamkeit als überkandidelt wahrgenommen werden könnte. Diese Prosa sei angreifbar, verwundbar, zerbrechlich, ihre Sprache zittert. Handke verzichtet tunlich auf sprachliche Versatzstücke und schafft damit neue Bedeutungen für scheinbar  abgegriffene Wendungen. Man kann dies ermüdend oder abgehoben finden, aber eben nur dann, wenn man, wie Handke zuweilen böse schimpft, ein "Lesefutterknecht" ist, der Sprache eigentlich nur als profanes Transportmittel ansieht.

Alle Essays dieses Buches sind auch unabhängig voneinander les- und sehr gut verstehbar. Sie sind für jeden ambitionierten Handke-Leser eine Fundgrube; es würde den Rahmen dieser kleinen Besprechung sprengen, wollte man alle Facetten, die Federmair anspricht, auch nur andeuten. Auf den narrativ-schwungvollen Stil wurde bereits hingewiesen. Bis auf den (sehr erhellenden) Aufsatz über die Funktion(en) der Konjunktionen UND, ALS und ODER im Werk von Peter Handke, der schon 2009 im "Profile"-Band erschien, sind die Texte sehr aktuell und beziehen Neuerscheinungen bis zum Frühjahr 2012 in die Betrachtungen ein. Man hat am Ende das Gefühl ein Buch in der Hand zu halten, das man immer wieder, noch nach vielen Jahren, als Referenz zu Peter Handkes Werk heranziehen wird.
Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. Von Lothar Struck ist soeben im Verlag Ille & Riemer das Buch "'Der mit seinem Jugoslawien' - Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik erschienen.


 








Leopold Federmair
Die Apfelbäume von Chaville
Jung und Jung
Annäherungen an Peter Handke
280 Seiten, gebunden
€ 22,- / Sfr 29,90
978-3-99027-029-5

 


Glanz & Elend
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