Alleine durch die
deutsche Provinz zu tingeln, die obligaten Weinchen mit den Buchhändlern,
furnierte Hotelbetten. Das sind Alpträume für ihn, den weltgewandten
»Wolkentrinker«, der in Paris stets im legendären »Lutetia«, in Berlin
immer im »Kempinsky« und in München im »Vier Jahreszeiten« Logis zu nehmen pflegte,
zumindest in Zeiten, als sein Spesenkonto noch zulasten Rowohlts oder
des »ZEIT«-Verlags ging.
Er muß auch an
jenem Abend 1983 im
Bücherturm der Stadtbibliothek in Offenbach/M gelitten
haben, zu dem
ihn der damals gerade zum Stadtschreiber gekürte Horst Bingel eingeladen
hatte. Raddatz sollte mit ihm über sein Buch »Die Nachgeborenen«
sprechen, das
mit seinen Ansichten zu Autoren wie Böll und Grass, Enzensberger und
Hildesheimer, Walser und Johnson, Hochhuth und Peter Weiss in der
Diskussion war.
Er saß auf dem linken der
beiden eigens zu diesem Anlaß vom Büchereileiter herangeschafften
Sessel. Doch, was heißt sitzen?
Ich kenne kein anderes männliches Wesen, das sich so auf einen Sessel drapieren kann, wie
Fritz J. Raddatz. In feinstem, sandfarbenem Zwirn, farblich abgestimmmter Krawatte, ein Bein
leger über das andere geschlagen, den rechten Arm seitlich weit
ausgestreckt über die Lehne gebreitet, eine Davidoff in der Hand, deren
Rauch versonnen, mit nach hinten geworfenen Kopf ausblasend, so als
denke er bereits über eine Antwort auf die eben von seinem
Gesprächspartner gestellte Frage nach.
Die raumgreifende,
unnachahmliche Pose einer Diva,
sein Markenzeichen: jene einzigartige Kombination aus Nonchalance und
Flegelhaftigkeit. Beispiel für eben
jenen »Flanellradikalismus«, den ihm die ostpreußische Gräfin zeitlebens
krumm genommen
hat und den ihm mißgünstige
Kollegen bis heute gründlich verübeln.
Dabei hat Fritz J.
Raddatz als Lektor
des Rowohlt Verlags, Feuilleton-Chef der
»ZEIT« und Schriftsteller den
deutschsprachigen Literaturbetrieb in den letzten 50 Jahren maßgeblich
mitgestaltet. Sein Qualitätsbegriff hat die Literaturlandschaft eine
Generation lang entscheidend
mitgeprägt,
ihr wichtige
Impulse gegeben, heftige Debatten ausgelöst und bis heute gültige Maßstäbe gesetzt.
Das geschah zwar nicht immer mit kühlem Kopf, dafür aber mit
empathischem Überschwang und einer Kraft, die selbst ein Alphatier wie
Siegfried Unseld in Angst und Schrecken versetzte, dieser frivole
Intelligenzbolzen Raddatz könne ihm womöglich im eigenen Haus die Schau
stehlen.
Daß bei dem rasanten Tempo seiner Gedankengänge, (nein, ich bringe jetzt
keine Porsche-Metapher), gelegentlich die drögen Fakten auf der Strecke
geblieben sind,
und der alte Goethe wegen ihm
um drei Jahre den Zug verpaßt hat,
ein eigentlich läßlicher Lapsus, der aber den intellektuellen
Blockwarten der Nation willkommener Anlaß war,
Raddatz als unhaltbar zu verschreien, kostete
ihn schließlich seinen Chefsessel bei der »ZEIT«.
Die sich dafür allerdings mit einer gewissen Frau Löffler als seine
Nachfolgerin selbst fürchterlich abgestraft hat.
Als dann im
Herbst 2003 seine
Erinnerungen erschienen, gerieten die deutschen Feuilletons noch
einmal in
helle Aufregung. Denn der alte Fritz hatte auf 478 Seiten
ausgeteilt, und durfte fortan einsammeln, was
ihm seine langjährigen Kritiker, Widersacher und Neider schon immer
mal hatten stecken
wollen.
Nun sind auch noch seine bislang persönlichsten Aufzeichnungen erschienen, nicht bei
Ullstein,
sondern bei Rowohlt,
dort, wo er hingehört. Und sein Name prangt tatsächlich in goldenen
Versalien auf dem Umschlag seiner 940 Seiten umfassenden »Tagebücher / 1982-2001«, von denen Frank Schirrmacher
so grossfazig behauptet hat: »Dies ist er endlich,
der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik«.
Nun, bei aller verständlichen Begeisterung für die lebensprallen Seiten:
da irrt der gute Mann sich doch gewaltig, denn ein Roman ist ein Roman
und diese Aufzeichnungen sind Tage- und natürlich Nächtebücher, diktiert
von Freud und Leid einer hypersensiblen
männlichen Diva, und zwar genau soweit ins Intime inszeniert, wie diese es für angebracht hält.
Und es ist schon gar kein »balzacsches Porträt unserer Zeit« wie der
Klappentext uns schwarz auf güldenem Font vollmundig verspricht. Diese
Tagebücher atmen eher die Atmosphäre eines aufgepuderten
Ohnsorg-Theaters, in dem ein zeitvergessenes Stück von und mit
intellektuellen Rentiers gegeben wird. Auf der Besetzungsliste finden
sich die
üblichen Verdächtigen:
Brasch, Fichte, Grass, Hochhuth, Muschg, Walser und diverse
andere sich selbst überschätzende alte Säcke und gelegentlich auch
Schabracken,
die, in ihrer Bedeutungsgeilheit geradezu absurd eitel und eifersüchtig
auftreten, einander Ruhm & Ehre mißgönnen, und sich immer noch für den
geistigen Nabel der Nation halten. Allesamt stichwortsichere Rampensäue,
die nicht wahrhaben wollen, daß die Gipfelstürme ihrer einstmals den
Kulturbetrieb dominierenden Seilschaften zwar Legende sind, aber
inzwischen auch tempi passati.
Die dennoch vorhandene Größe dieser Tagebücher liegt in dem ausgeprägten
Hang zur Selbstentblößung und Rechtfertigung, der Raddatz seit jeher (aus-)gezeichnet
hat. Er hat seinen Garderobenspiegel auf die Bühne gerückt. Seinem Leben
mit Goldrand nachschmeckend, sitzt er coram publico
davor und schminkt sich ab, wissend, daß er, als Strafe für diese
Frechheit, sein letztes Fadenglas Champagner womöglich allein mit dem
Sektquirl aus Platin wird trinken müssen. Herbert Debes
Artikel
online seit 19.09.10
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Fritz J.
Raddatz
Tagebücher 1982-2001
Rowohlt
Hardcover
944 Seiten
34,95 €
978-3-498-05781-7
Leseprobe
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