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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Karl Mays Inferno

Das denkwürdige Interview von Egon Erwin Kisch mit Karl May am 9. Mai 1910, in der Villa Shatterhand zu Radebeul bei Dresden.

Von Jürgen Seul

Der junge Reporter Egon Erwin Kisch steht an diesem frühen Montagmorgen vor einer Villa in der Kirchstraße 5. An der Vorderseite des noblen Anwesens ranken Glyzinien empor, auf goldenen Lettern prangt der Name des Hauses: »Villa Shatterhand«. Zwei kleine Messingschilder befinden sich am Eingangstor; »May« besagt das eine, während das andere fremden Besuch nur gegen vorausgegangener Vereinbarung gestattet. Kisch ist angemeldet. Dennoch: »Als ich in die Villa Shatterhand, das Haus des Weltreisenden, des Abenteurers von fünf Kontinenten eintrat,« so berichtet der Reporter später, »fand ich mich in einem Wirbel von Erregung. Dienstmädchen liefen hastig hin und her, Koffer wurden getragen, niemand beachtete mich. Als ich mich schließlich bemerkbar machte und fragte, ob ich den Herrn des Hauses sprechen könne, erstarrte man vor Erstaunen: ‚Jetzt? Ja, wissen Sie denn nicht, daß Herr Doktor May heute nach Dresden fährt?’«

Empfangssalon in der Villa Shatterhand
Kisch erinnert daran, daß sein Besuch inklusive Interview-wunsch angekündigt sind. Er wird in den Salon geführt, der mit riesengroßen Zeichnungen des Malers Sascha Schneider ausstaffiert ist. Bric-àbrac aus Wachsstein und chinesisches Porzellan, indianische Holzskulpturen und Vitrinen mit phönizische Steinstatuetten füllen den großen Raum. Die Zimmerdecke schneidet ein geflochtener Wandschirm voll Koransprüche; auf einer Etagere liegen ein rottönernes Kalumet, ein Rosenölfläschchen sowie ein Kranz türkischer Gebetskugeln. Bunte Exotik, wohin das Reporterauge blickt.

Mays Bibliothek
Kisch wird von der Frau des Hauses begrüßt: Klara May fungiert ähnlich wie Katja Mann als Sekretärin, Organisatorin und Vermittlerin zwischen ihrem Schriftstellergatten und der Außenwelt. Sie führt einen Großteil der Korrespondenzen, empfängt die Verehrer, zeigt ihnen einige Reiseschätze des Hauses, erzählt von den weiteren Reise- und Buchplänen ihres Mannes, damit sich dieser ohne allzu viel Störung seiner Arbeit widmen kann.
Für diesen jungen Reporter von der angesehenen deutschsprachigen Zeitung ‚Bohemia’ aus Prag nimmt sich der Meister an diesem Tag selber Zeit. Karl May erscheint; ein nicht sehr großer 68-jähriger, leicht untersetzter Herr mit silbergrauem schütteren Haar und grauem gepflegtem Schnurrbart, soigniert gekleidet mit einem grünschillernden Skarabäus in der Krawatte.

Mays Intimfeind, Rudolf Lebius
Das Interviewthema ist sofort präsent: es geht um den Aufsehen erregenden Charlottenburger Prozess Karl Mays, den der Schriftsteller nur wenige Wochen vorher am 12. April 1910 überraschend verloren hat. Sein Prozessgegner, der Sensationsjournalist Rudolf Lebius, hatte May in einem Brief einen »geborenen Verbrecher« genannt und war deshalb wegen Beleidigung verklagt worden. Die Bezeichnung stützt sich vor allem auf die Vorstrafen des Schriftstellers. Lebius befindet sich seit knapp sechs Jahren auf einem – wie er es in einem Flugblatt selber nennt – »journalistischen Vernichtungsfeldzug« gegen den Schöpfer der berühmten Winnetou-Romane, den er in seinen zahllosen Artikeln als ehemaligen Räuberhauptmann, Gewalttäter, Dieb und Hochstapler bezeichnet, der auch noch im Alter und als etablierter Autor seine kriminellen Pfade nicht verlassen habe. Aus diesem Grunde halte Lebius den Schriftsteller eben für einen »geborenen Verbrecher«, eine Wertung, die das Königliche Amtsgericht in Berlin-Charlottenburg als zulässig erachtet hat.
Der junge Reporter will wissen, was es denn mit all diesen Behauptungen des Rudolf Lebius auf sich hat.
»Ich bin vorbestraft«, bekennt Karl May. »Allerdings habe ich meine Strafen schon vor fünfzig Jahren abgebüßt.«
Das stimmt zeitlich nicht ganz. Die letzte Straftat wegen Amtsanmaßung verbüßte der Schriftsteller 1879. In der Öffentlichkeit äußert er sich nie konkret zu seinen Taten. Er hat bereits Erfolg versprechende Klagen gegen Lebius während der Verhandlung zurückgezogen, als aus seinem Vorstrafenregister vorgelesen wurde. Zu tief wurzelt seine Angst, daß alle Einzelheiten der Vergangenheit ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Und gerade Lebius zerrt gewaltig, reist inkognito durchs Land, um frühere Zeitzeugen auszuhorchen; auch Mays geschiedene erste Ehefrau gehört zu den Informanten. Aus dem Sammelsurium von Gerüchten und Halbwahrheiten braut Mays Intimfeind – gelegentlich unter falschem Namen – regelmäßig ein Sensationssüppchen, von dem die Öffentlichkeit gleichermaßen amüsiert und angewidert ihren Teil löffelt. Das Fatale an Lebius’ Revolverjournalismus ist die Tatsache, daß auch ein Stück Wahrheit hinter allen biografischen Verzerrungen und künstlichen Aufgeregtheiten steckt.

Es sind deutlich über 30 gerichtliche Verfahren, Anzeigen und Klagen, die deswegen im Laufe der Jahre bei den verschiedenen Dresdner und Berliner Justizinstanzen zwischen May und Lebius an und rechtshängig werden. Ein Rattenschwanz von Prozessen, der auch zum Dauerthema in der Presse gehört. Der Urteilsspruch vom 12. April ist der vorläufige Höhepunkt.
»Der Prozeß in Charlottenburg«, erklärt May trotzig, »hat weder zu einer Beweisführung noch zu irgendeiner Feststellung geführt. Ich habe weder etwas eingestanden, noch sind Zeugen einvernommen worden, noch hat man irgendwelche Dokumente vorgelegt. Trotzdem wird in Hunderten von Blättern behauptet, ich hätte alles zugegeben, die Zeugen hätten das alles bestätigt und die Dokumente hätten alles erwiesen, was mir vorgeworfen worden ist. Das sind Lügen, die bei der Verhandlung in zweiter Instanz ans Tageslicht kommen werden. Ich fühle mich keineswegs als Besiegter, sondern bin vollständig davon überzeugt, daß ich aus der ganzen Hetze als Sieger hervorgehen werde.«
Er wird zwar mit dieser Einschätzung in juristischer Hinsicht recht behalten, aber die Verfehlungen der jungen Jahre nie wirklich überwinden können. Die Besonderheit bei Karl May liegt in der Tragik, daß er als junger Mann im Grunde wegen jugendlicher Unbedachtheit und Renommiersucht eine Leichtsinnstat beging, für die er übermäßig hart bestraft wurde (6 Wochen Gefängnis für den angeblichen Diebstahl einer Taschenuhr).
Der Versuch als Lehrer – der May ursprünglich war – arbeiten zu können, war schon nach dieser ersten Bestrafung aufgrund eines Berufsverbots zunichte gemacht worden. Eine ehrliche andere Arbeit hat sich ihm vermutlich wegen der Vorstrafe zunächst nicht mehr geboten. Aus Frustration über die berufliche und gesellschaftliche Ausgrenzung war Karl May anschließend tatsächlich zum Hochstapler und Dieb geworden. Auffällig war vor allem sein Auftreten in verschiedenen hochstaplerischen Rollen als vermeintlicher Arzt, als angeblicher Polizeileutnant und ähnlichen Rollen, in denen er Pelze erschwindelte oder vermeintliches Falschgeld konfiszierte. Gelegentlich wurden auch einfach nur einmal ein Pferd oder Billardbälle gestohlen. Mehrfach wurde monatelang nach May gefahndet.
In der Zeit zwischen 1862 und 1879 wurde Karl May vier Mal zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die ersten drei Male (1862, 1865 und 1870) wegen Diebstahls und mehrfachen Betruges, die er u. a. im gefürchteten Zuchthaus Waldheim abgesessen hat. Aber das ist jetzt lange her.

»Und darf man wissen,« fragt Kisch weiter, »woher Lebius von Ihren Vorstrafen weiß?«
Das hänge, so meint May, mit einem anderen mehrteiligen Mammutprozess zusammen, den er seit 1902 mit der Witwe seines früheren Verlegers Heinrich Gotthold Münchmeyer führe. Bei diesem zusammenhängenden Komplex von Verfahren handelt es sich um eine Auseinandersetzung wegen ausstehendem Honorar für fünf Kolportageromane und einzelne Erzählungen, die May in den 80er Jahren für den Verlag geschrieben hat. Über die vielen Jahre und Instanzen hinweg kommt es immer wieder zum Aufmarsch ganzer Zeugenkolonnen und zur Vorlage zahlreicher Sachverständigengutachten, die sich allesamt mit Mays Honorarforderungen beschäftigen müssen. Der Schriftsteller hat auch seine mündlichen Abmachungen mit dem verstorbenen Verleger bereits beeiden müssen. Dadurch gewann er 1907 vor dem Leipziger Reichsgericht den ersten großen Prozeß.
Doch dieser Sieg hatte wiederum strafrechtliche Verdächtigungen (Meineidsverdacht) seiner Gegnerin ausgelöst und die Dresdner Staatsanwaltschaft in Bewegung gesetzt. Unheilvoller Höhepunkt der Ermittlungen war am 9. November 1907 eine spektakuläre Hausdurchsuchung in der Villa Shatterhand gewesen. Am Ende war alles wie das Hornberger Schießen ausgegangen: die Justiz hatte nichts Belastendes gegen Karl May gefunden, doch dessen Gemüts- und Nervenzustand ist seither arg ramponiert.
Noch immer läuft ein Vollstreckungsverfahren gegen die Münchmeyer-Seite. Es wird erst nach Mays Tod zum Abschluß kommen und der Witwe die Auszahlung von 60.000 Mark bescheren.

»Ich beanspruche von Münchmeyer dreihunderttausend Mark für meinen Roman ‚Das Waldröschen’, die ich übrigens nicht für mich, sondern für eine Witwen- und Waisenstiftung verwenden will,« berichtet der Schriftsteller. »Der Verlag weigert sich, das Geld zu bezahlen, und hat ein Interesse daran, meine Ehrenhaftigkeit in Zweifel zu setzen. Und der Rechtsanwalt des Herrn Lebius ist gleichzeitig der Rechtsanwalt des Münchmeyerschen Verlages.«
Letzteres trifft zwar nicht zu, aber tatsächlich lassen sich später enge Verbindungen – auch der Austausch von Dokumenten – zwischen den May-Gegnern nachweisen. Man hilft sich im unterschiedlich motivierten juristischen Kleinkrieg gegen Old Shatterhand respektive Karl May. Und nachweislich weiß man im Hause Münchmeyer schon seit Jahrzehnten von Mays Vorstrafen. Doch Diskretion gehörte noch nie zu den hervorstechendsten Charaktereigenschaften dieser Verlegerfamilie.
Aber es sind nicht nur Rudolf Lebius und der Münchmeyer-Verlag, die Karl Mays Lebensabend verdunkeln. In der Presse findet ein regelrechtes Kesseltreiben gegen ihn statt.
Während man den Schriftsteller jahrzehntelang entweder ignorierte oder lobte, hat sich seit der Jahrhundertwende vor allem die bürgerliche Presse – an der Spitze die ‚Frankfurter Zeitung’ und die ‚Kölnische Volkszeitung’ – auf May eingeschossen. Vor allem Mays Behauptung, daß seine Reiseerzählungen auf wahren Reiseerlebnissen beruhen würden, wird heftig angegriffen. Diese Mischung aus PR-Gag und Künstler-Tagtraum erhitzt die Journalistengemüter.
Auch gegenüber seinem Prager Interviewpartner verteidigt May seine Vorgehensweise: »Ich sende meinen Kara Ben Nemsi, meinen Old Shatterhand in fremde Länder, um zu zeigen, wie wir als Edelmenschen dort zu handeln haben. Mir stünde es völlig frei, in der Heimat zu bleiben, und wenn ich dann trotzdem behaupten würde, in der Fremde das Erzählte miterlebt zu haben, so ist das keine Lüge. Denn die Ereignisse spielen sich zu Hause ab, die Fremde ist Imagination. Hat nicht auch Dante das ‚Inferno’, das ‚Purgatorio’ in Ich-Form beschrieben, ohne dort gewesen zu sein?«

Benediktinerpater Ansgar Pöllmann

Vor allem die katholische Geistlichkeit sieht das anders und betrachtet Karl May inzwischen als einen Verderber der deutschen Jugend. Vor allem der von Kloster Beuron aus operierende Benediktinerpater Ansgar Pöllmann attackiert den Schriftsteller wegen seiner vermeintlichen literarischen Verfehlungen mit ganzen Artikelserien. Seinen Hauptvorwurf greift Kisch an diesem Morgen ebenfalls auf:
»Man hat auch gegen Sie den Vorwurf des Plagiats erhoben.«
»Ganz unbegründet«, wehrt sich May. »Was nennen Sie ein Plagiat?«
»Ich denke, daß man es als Plagiat bezeichnet, wenn ein Autor Idee und Form eines nicht von ihm stammenden Werkes für sich verwendet und als eigenes Geistesprodukt ausgibt.«
»Das ist nur mit Einschränkungen richtig,« erklärt der Schriftsteller und erläutert die Rechtmäßigkeit literarischer Wiederverwendungen von geistigem Gemeingut. Er verweist auch auf Goethe, Shakespeare und Lessing, die Anleihen bei Kollegen genommen hätten.
»Sogar die vier Evangelisten erzählen das gleiche, also müssen wenigstens drei von ihnen Plagiatoren sein. Das Abschreiben würde mir mehr Schwierigkeiten machen als das eigene Schaffen. Ich habe Phantasie genug. Mehr als siebzig große Romane sind von mir verfasst.«

Noch an diesem heutigen Interviewtag erscheint ein weiterer Angriff Pöllmanns, der von May verklagt werden wird. Wenn auch diese Klage letztlich aus formalen Gründen scheitert, wird der Schriftsteller als moralischer Sieger aus dem Streit hervorgehen, kann er doch den frech gegen ihn agierenden Benediktinerpater als Verbündeten des Revolverjournalisten Rudolf Lebius demaskieren – durchaus eine Peinlichkeit für die fromme Geistlichkeit. Alle anderen Prozesse mit Pressevertretern – stets Beleidigungsklagen – gewinnt May oder er vergleicht sich schiedlich friedlich. Der juristische Aufwand, den er dafür aufbringt, die Kosten für Prozesse und Anwälte sind enorm.
Kisch wagt es auch, ein weiteres heikles Thema anzusprechen: »Darf man, ohne indiskret zu sein, auch fragen, wie es sich mit Ihrer ersten Frau verhält, die in dem (Charlottenburger) Prozess wiederholt erwähnt wurde?«
Auch mit ihr hat es zahlreiche juristische Konflikte nach der Scheidung 1902 gegeben. Der Schriftsteller verbat ihr gerichtlich das Tragen des bisherigen Familiennamens May, es gibt Beleidigungsklagen, aber vor allem juristische Verfahren wegen Rentenzahlungen, die mal gewährt, mal wieder eingestellt werden.
Das Ehescheidungsverfahren hatte neben der Zerrüttung beider Ehepartner vor allem auch die gemeinsame Freundin Klara Plöhn als treibende Kraft offenbart, der später nicht zu Unrecht vorgeworfen wurde, mit Hilfe spiritistischer Tricks und persönlicher Hinterlist den insgesamt reibungslosen Trennungsablauf begünstigt zu haben. Zwei Ehescheidungsbetrugsverfahren mußte May deswegen – allerdings erfolgreich – überstehen, ehe die Trennung von seiner ersten Ehefrau Emma Pollmer endgültig und in jeder Hinsicht zum Abschluss gebracht war.
»Sie hat mir viel angetan«, meint May. »Dokumente, welche ich in einem Prozesse brauchte, hat sie, während ich in Asien war, verbrannt, weil sie in meinen Prozessgegner, den Verleger Münchmeyer, verliebt war. Die Ehe wurde aus ihrem Verschulden vor Gericht geschieden.«

Seit 1903 ist Klara Plöhn die zweite Frau May und sitzt dem jungen Reporter jetzt gegenüber. Bezogen auf ihre Vorgängerin hakt Kisch beim Hausherrn nach: »Es hieß, daß Sie Ihre Frau nicht alimentieren?«
»Das ist erfunden«, protestiert May. »Meine Frau bekam, als sie von mir wegzog, eine ganze Ausstattung, Möbel und eine Summe von dreitausend Mark jährlich. Eines Tages schrieb mir der Schwager des Lebius im Namen meiner geschiedenen Frau, daß sie auf den jährlichen Zuschuss von dreitausend Mark verzichte. Kurze Zeit später gab sie an, daß sie von dieser Verzichtleistung überhaupt nichts wisse. Lebius hatte den Brief schreiben lassen, um sie für sich zu gewinnen, damit sie bei Gericht gegen mich zeuge; er versprach ihr hundert Mark monatlich, solange sie lebe, sie mußte bei seiner Familie wohnen und erhielt im ganzen von ihm zweihundert Mark. Als sie mich bat, ich möge sie wieder aufnehmen, drohte ihr Lebius, er werde sie auf dreihundert Mark verklagen. Jetzt zahle ich meiner Frau freiwillig zweitausendvierhundert Mark jährlich aus, trotzdem sie sich mit Lebius gegen mich verbündet hat.«
Und damit schließt sich wieder der Kreis, der mit dem Prozessgegner des Charlottenburger Verfahrens begonnen hat. Der Name Rudolf Lebius schwebt in diesen Jahren als ständig aktives Feindbild über Karl May.
Für Kisch endet damit das Interview. Er läßt sich noch die berühmten Gewehre Silberbüchse, Henrystutzen und Bärentöter zeigen, die sich Karl May von einem Dresdner Büchsenmacher als romangetreue Nachbildungen hat anfertigen lassen. Anschließend geht es in den großen Garten der Villa. Es regnet. Tropfen glitzern auf den Blättern der zahlreichen Kirchbäume, den gepflegten Kieswegen und den Bänken.

In seinem Artikel, den Egon Erwin Kisch am 15. Mai veröffentlicht, wird über Karl May abschließend zu lesen sein: »Eben schüttelt ihn ein Hustenanfall, und trotzdem er, die Hilfe der Gattin unwirsch abweisend, aufrecht ins Haus zurückgeht, ist nicht zu verkennen, daß sein Lächeln vom hippokratischen Zug erbarmungslos durchstrichen wird.«

Es ist eine Vorahnung.

Zunächst wird das Berufungsgericht zum Fall der Beleidigung als »geborener Verbrecher« am 18. Dezember 1911 in Berlin-Moabit nicht nur das erstinstanzliche Skandalurteil von Charlottenburg korrigieren und Lebius zu 100 Mark Geldstrafe verurteilen, sondern May auch als moralischen Sieger über seinen Intimfeind triumphieren lassen. Doch nur vier Monate später, am 30. März 1912, stirbt der Schriftsteller im Alter von 70 Jahren in seiner Villa Shatterhand an den Folgen einer Lungenentzündung. Geblieben sind bis heute ein häufig belächelter, aber beachtlicher Platz in der deutschen Literaturgeschichte mit einer Weltauflage von ca. 200 Millionen Bücher, eine Karl-May-Gesellschaft mit über 1800 Mitgliedern, eine Karl-May-Stiftung und ein Karl-May-Verlag.
Anders als bei Lebius, Münchmeyer und Pöllmann – Namen, die im Bewusstsein der Öffentlichkeit längst vergessen sind – ist auch Karl Mays Interviewpartner Egon Erwin Kisch noch heute ein Begriff. Der junge Journalist aus Prag gilt als Schöpfer der literarischen Reportage mit exakten und tabulosen Milieuschilderungen, unterhaltsam und informativ geschrieben. Bestseller sind bis heute Bücher wie ‚Aus Prager Gassen und Nächten’, ‚Hetzjagd durch die Zeit’ und ‚Der rasende Reporter’. Dieser Buchtitel gilt noch immer als Synonym für die Person von Egon Erwin Kisch (1885-1948) selbst.
 

Fotografie von Erwin Raupp, 1907









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