Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 





Geist und Macht

Zwei Bücher über Alarmismus und Konformität deutscher Intellektueller nach 1945.

Von Lothar Struck

Immer wenn politische, soziale oder ökonomische Krisen ein Gemeinwesen erschüttern, werden sie gerufen, um Stellung zu beziehen: Die Intellektuellen. In der allgemeinen Meinungskakophonie sollen sie Halt bieten, Auswege aufzeigen, die Unübersichtlichkeit ordnen und repräsentativ für die kritische Masse ihr Wort erheben. Wo früher Pfarrer die Moral vorgaben, sind es heute die Intellektuellen, die als "Gewissen der Nation" agi(ti)eren. Kaum eine "Kulturzeit"-Woche vergeht, in der sie nicht gerufen und um ihre Interventionen gebeten werden.

Zwei neue Bücher spüren nun diesen scheinbar so großen Zeiten nach und beschäftigen sich mit der Rolle der Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist zum einen "Die Unmächtigen", eine Chronologie des 1948 geborenen Politikwissenschaftlers Günther Rüther über "Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945", wie es etwas irreführend im Untertitel heißt, da er sich auf Deutschland und die DDR beschränkt. Eine Erweiterung auf europäischer Ebene oder auch nur auf den deutschsprachigen Raum, hätte das Volumen des Buches gesprengt. Schade allerdings, dass damit auch die Interventionen schweizerischer oder österreichischer Schriftsteller zu deutschen Befindlichkeiten fehlen.  

Das andere Buch ist von Uwe Kolbe und heißt fast ein wenig unschuldig "Brecht". Der 1957 in Ost-Berlin geborene Schriftsteller und Übersetzer beschäftigt mit den Entwicklungen in der Kulturszene der DDR von Brechts Ankunft 1948 an. Kolbe kann hierzu bis 1988, dem Jahr seiner Ausreise, eigene Anschauungen beisteuern.

Gleich zu Beginn fragt Kolbe, ob Brechts Wirken die Existenz der DDR verlängert habe. Die Frage sei zwar "aus faktischen, aus historischen Gründen absurd", so Kolbe, denn nach Brechts Tod existierte der DDR noch mehr als drei Jahrzehnte. Aber er begründet, warum ihn dennoch damit ernst ist. Denn Brecht setzte über seinen Tod hinaus ein Zeichen. Und richtig virulent wird sie, weil Kolbe die "Nachgeborenen" Brechts mit in die imaginäre Haftung nimmt. Hauptsächlich sind dies vier Personen, die nicht nur als intellektuelle Erben Brechts, sondern auch in ihrer politischen Haltung dem Vorbild nahekommen und es Kolbe gemäß sozusagen fortschreiben: Volker Braun, Wolf Biermann, Heiner Müller und Thomas Brasch. So unterschiedlich diese Persönlichkeiten und ihre Dissidenzen mit dem SED-Staat auch waren, so verblüffend zeigen sich Übereinstimmungen.   

Die Zeitreise

Rüthers Titel der "Unmächtigen" ist ein Wort von Hans Joachim Schädlich. Es steht synonym für die Intellektuellen, die, so Rüther, "der Macht kritisch und auf Augenhöhe begegnen", sich "mit ihr auseinander[setzen], sie kritisieren" und anprangern. Das Resultat ihrer Bemühungen wird bei dieser Definition allerdings schon vorweggenommen: Sie bleiben wenn auch nicht unbedingt einfluss- so doch machtlos, reduziert auf Mahnen und Warnen. Während Rüther dies am Ende bedauert, zeigt Kolbe, wie die Vorzeige-"Unmächtigen" in der DDR ihre Rolle in der Affirmation des Sozialismus verstanden und damit, ob sie wollten oder nicht, das SED-Gesellschaftsmodell als sakrosankt in Kauf nahmen.

Mit Rüther geht es auf eine lange Zeitreise. Bereits wenige Monate nach der "Stunde Null" (die als "Chimäre" bezeichnet wird) meldeten sich Schriftsteller und Philosophen zu Wort und redeten der Bevölkerung mit Aufsätzen und Appellen ins Gewissen. Im Buch finden sich Skizzen aus vier Studien, die "in den ersten Nachkriegsjahren in großer Auflage erschienen waren" und sich mit der Schuldfrage der Deutschen beschäftigten: Karl Jaspers Die Schuldfrage, Alexander Abusch "Der Irrweg einer Nation", Friedrich Meinecke Die deutsche Katastrophe und, in diesem Rahmen der heute noch bekannteste Text, Eugen Kogon Der SS-Staat. Der Leser wird migenommen in die "Große Kontroverse" zwischen Exilanten und den Protagonisten der sogenannten "Inneren Emigration". Dabei maßregelt der Autor Thomas Mann, der mit seiner Formulierung, dass "Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos" seien und "alle eingestampft" gehörten als "über das Ziel hinausgeschossen". Und flugs ist man Zaungast beim Ersten Deutschen Schriftstellerkongress, gemäß Rüther "das Medienereignis des Jahres 1947 im besetzten Deutschland".

Und so wechseln Appelle, Streitschriften, Interventionen, Postulate, Tagungsauftritte und Schriftstellertreffen in bunter Reihenfolge ab. Rüther zappt dabei zwischen Ost und West hin und her. Zuweilen wirkt dieses additive Verfahren etwas ermüdend. Dennoch gibt es sehr erhellende Stellen, etwa wenn er den Antikommunismus in Westdeutschland als gesamtgesellschaftliches Phänomen analysiert – ob Ex-Nazis, Liberale oder Sozialdemokraten: alle hatten ihre je unterschiedlichen Motivationen und "Gründe" hierfür und verwendeten im beginnenden Kalten Krieg "Antikommunismus" als plakatives Ressentiment. Rüthers Kommentare sind bis auf wenige oberlehrerhaft daherkommende Ausnahmen eher ausgleichend. Ansonsten pflegt er einen nacherzählenden, zuweilen didaktischen Ton (der durch Marginalien verstärkt wird). Die Endnoten sind zumeist nur Quellenangaben.

Brecht, der Moritatensänger

Kolbes Text ist unkonventionell; ungezähmt. Es gibt keine sichtbar gegliederten Kapitel, nur gelegentlich zeigt ein Asterisk das (vorläufige) Ende eines Gedankens an; erst auf den letzten zehn Seiten am Schluss gibt es einen Anhang mit sechs nummerierten, kleinen Ergänzungskapiteln. Obwohl er keinen neuen Beitrag zur Literaturgeschichte über Brecht und dessen Wirkungsmacht verfassen möchte, macht er am Ende genau dies. Kolbe analysiert einige von Brechts Gedichten (besonders die Baum- und Wald-Metaphern haben es ihm angetan), zitiert aus seinen Aufzeichnungen, nennt seine Vorbilder (unter anderem François Villon, Arthur Rimbaud, Heinrich Heine oder auch Grimmelshausen), findet die Feindobjekte (besonders Stefan George) und setzt sich mit seiner Bewunderung für Ezra Pound auseinander. Er entdeckt die schlichte, grobschlächtige und dabei treffende Direktheit seiner Metaphern, zeigt seine "genial simplen Worthülsen", die ihn längst zu einem Volksdichter gemacht haben und untersucht nebenbei auch ein paar Zeilen aus seinen erotisch-deftigen Gedichten.

Brecht dichtete, so Kolbe, "im Duktus der Menschengeschichten des Alten Testaments" und wird damit für ihn zu einer Art Mischung aus neuzeitlichen Luther und Moritatensänger: "In Brechts Welt stand Schwarz gegen Weiß". Zweifel auf der richtigen Seite zu stehen, hatte er nie. Schon in den 1920er Jahren war er Kanon und Underground zugleich, "inklusive Ideologie".

Mit Interpretationen der Literatur der Intellektuellen beschäftigt sich Rüther kaum (und wenn, wie beispielsweise mit Koeppens "Treibhaus", ist es eher schwach). Manche sachlichen Behauptungen in seinem Text bleiben bei näherer Sicht seltsam vage. Was ist etwa mit den "großen Auflagen" gemeint oder bei wem genau war der Schriftstellerkongress von 1947 ein "Medienereignis"? Rüther schreibt, dass es kaum breite Reaktionen auf die Studien unmittelbar nach dem Krieg gab. Aber wie sahen die Prioritäten für die Bevölkerung in Deutschland unmittelbar nach dem Krieg aus? Max Frisch, der das Land mehrmals in dieser Zeit besuchte, stellte im Tagebuch 1946 fest:  "Solange das Elend sie [die Deutschen] beherrscht, wie sollen sie zur Erkenntnis jenes anderen Elends kommen, das ihr Volk über die halbe Welt gebracht hat?" Frisch versteht dies ausdrücklich nicht als Freibrief für die (später in der Wirtschaftswunderzeit einsetzende) Verdrängung. Aber er zeigt, dass man nicht erwarten konnte, dass die akademischen Debatten verfolgt werden konnten. Etwas, was Rüther nur in einem Halbsatz anerkennt.

Und wenn man sich schon auf die Höhenkammliteratur konzentriert und das Triviale nicht eines Wortes würdigt, so verpasst Rüther den Hinweis auf den 1947 trotz großer Papierknappheit publizierten anspruchsvollen Roman Finale Berlin von Heinz Rein, der mit 80.000 Exemplaren als Beststeller bezeichnet werden muss. Mit etwas Mühe wäre es möglich gewesen auch noch andere Beispiele zu finden, die jenseits des Landserniveaus ein Interesse einer seriösen Auseinandersetzung  mit dem "Dritten Reich" hätten aufgezeigt können (etwa Frischs Theaterstücke, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland aufgeführt wurden). Hierfür wäre es allerdings notwendig gewesen etwas über den Tellerrand des Betriebs, wie der Gruppe 47 und der dort protegierten Literatur hinaus zu blicken.

Luxusprobleme und Alarmismus

Im Vergleich zu den Debatten in Ostdeutschland wirk(t)en die politischen Heimatlosigkeiten der westdeutschen Intelligenzija wie Luxusprobleme. Dabei ist der Begriff der Heimatlosigkeit eigentlich unpräzise, denn was die politische Richtung anging, war man ganz gut versorgt. Präziser formuliert ging es um die parteipolitische Infrastruktur der Bonner Republik, die in der vorliegenden Form lange Zeit beargwöhnt oder gar abgelehnt wurde. Strategisches Denken blieb ihnen fremd, was Rüther sogar versteht: "Dem Intellektuellen bleibt der Raum des Handels von Ausnahmesituationen abgesehen verschlossen. Kompromisse sind ihm suspekt, weil sie der Radikalität und Rationalität seines Denkens entgegenstehen." (Wobei ich gerne den Autor fragen würde, ob nicht "Rationalität" eine Kernkompetenz eines in gesellschaftlichen Kontexten stehenden Denkens sein müsste.)

Und dann leuchtet es plötzlich ein, warum Grass' Einsatz in den 1960ern für die "Espede" bis heute so exotisch wirkt. Denn die Bereitschaft, sich innerhalb des Treibhauses der demokratischen Kultur als Gärtner mit zu betätigen, war nur bei wenigen ausgeprägt. Martin Walser, Heinrich Böll, Peter Weiß oder Hans-Magnus Enzensberger (um nur einige zu nennen) plädierten für die Revolution, sympathisierten mit der SED oder schauten lieber nach Kuba. Diese Form einer Radikalopposition ermöglichte wuchtige Stellungnahmen und verschaffte Aufmerksamkeit. Die Wirkungslosigkeit der rhetorischen Einmischungen konnte dann wieder als Symptom für bzw. gegen die Gesellschaft angeprangert werden. Und es gab noch einen Vorteil: Die Finger blieben sauber; der Schmutz der Tat blieb bei der Exekutive. Immerhin wählten seinerzeit etliche APO-Vertreter der zweiten Reihe den steinigen aber realpolitisch am Ende ziemlich erfolgreichen Marsch durch die Institutionen.

Rüthers Chronologie zeigt wie man im Westen von Beginn an in Hysterie und Alarmismus verfiel: Restauration, Wiederbewaffnung, Spiegel-Affäre, Große Koalition, Notstandsgesetze, APO, Radikalenerlass, RAF, Strauß gegen Schmidt, NATO-Doppelbeschluss, Kohl, Wiedervereinigung – stets war die Demokratie in Gefahr, drohte ein neuer Nationalismus oder gar Faschismus. Diese Stimmungen und Strömungen werden eingehend mit im Nachhinein zweifelhaft bis zuweilen lächerlich anmutenden Original-Aussagen illustriert. Spätestens mit bzw. nach der Wiedervereinigung sieht Rüther die dominierenden linksintellektuellen Meinungsmacher in "von der Realität entblößten, ewig gestrigen Gesinnungen" erstarrt.

"Aufbegehrende Unterwerfung"

Erstarrungen und "ewig gestrige" Gesinnungen gab es ebenso im Osten. Aber der wichtigste Unterschied zwischen Ost und West bestand darin, dass die Intellektuellen der DDR ihrem Staat gegenüber grundsätzlich bejahend eingestellt waren. Aus unterschiedlichen Wegen daherkommend, kommen Rüther und Kolbe zum gleichen Resultat. Die "Symbiose von Geist und Macht" (Rüther) war in der (sozialistischen) DDR lebendiger als in der (demokratischen) BRD. Kolbe wird noch deutlicher und spricht von der "Vereinigung von Geist und Macht", die "im Sozialismus weitestgehend stattgefunden und als staatstragender Dialog funktioniert hatte". Die "ideologischen Prämissen, die das System vorgab" blieben von wenigen Ausnahmen abgesehen, unangetastet. Gab es Kritik, wurde sie nur sehr akzentuiert, in einer Art "aufbegehrenden Unterwerfung" vorgebracht.

Ähnlich hart geht Rüther mit den DDR-Intellektuellen nicht ins Gericht. Er dokumentiert  lieber die unberechenbaren Tauwetter- und Eiszeitenperioden in der Kulturpolitik (dies fehlt bei Kolbe), die sich im Verhältnis zwischen Politik und den Intellektuellen wiederspiegelten und den Kampf mit der perfide installierten, irgendwie numinosen (Selbst-)Zensur mal leichter, mal schwerer machten.

1948 kam mit Bertolt Brecht ein Weltstar in die damalige sowjetisch besetzte Zone. Das Eingewöhnen gelang schnell. "Im Osten waren alle Konditionen so, wie er sie ausgehandelt hatte", so Kolbe. Die Privilegien waren für die damalige Zeit üppig – von den frischen Lebensmitteln bis zum Auto mit Chauffeur. In die Sowjetunion, dem Land, dessen Sozialismus er besang, exilierte Brecht nicht, wie Kolbe süffisant anmerkt. Er zog 1941 die USA vor, die er nicht nur politisch hasste. So landete er dann vor dem McCarthy-Ausschuss für unamerikanische Umtriebe statt vor einem Stalin-Tribunal wegen "Formalismus".

In der DDR traf Brecht viele der Überlebenden der Stalin'schen Säuberungen. Sie, die "Philosophen und Dichter hatten die Modelle entworfen, nach denen hier verfahren wurde." Und er "musste sich kaum ducken, weil er einverstanden war". Brechts Weltbild ist schnell erklärt: Als Ursache für den Faschismus (Brecht trennte Nationalsozialismus und Faschismus nicht) machte er die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus. Solange diese nicht existierte, war der Staat per se antifaschistisch. Und hierin lag seine Legitimation. So "verrottete unter der Banalität des Machterhalts ihrer Erben" die "notwendige und produktive Idee des Kommunismus" des 19. Jahrhunderts, so Kolbe emphatisch. Stalins Verbrechen blieben bis auf ein kleines, "ironisches Gedicht" zu Lebzeiten unkommentiert (sie waren exkulpiert durch die Gegnerschaft und den Sieg über Hitler, wie auch bei der Linken im Westen). "Teilhabe am Verbrechen" sagt Kolbe.

Brecht legitimierte die DDR und festigte den "Machterhalt der Parteielite". Diese stilisierte sich mit ihrem Aushängeschuld B.B. als Hort, in der Kunst und Kultur eine Heimstatt hatten. Johannes R. Bechers Wort, im Westen gebe es einen Literaturbetrieb, im Osten aber eine "Literaturgesellschaft" (dieses Bonmot fehlt bei Rüther), legt Zeugnis davon ab. Das neue Deutschland war das bessere Deutschland, so glaubte man im Osten. Ähnlich wie die Dichter im Westen: "Was sich in der Gruppe 47 versammelte, war das andere, bessere Deutschland, davon waren sie insgeheim überzeugt", so Jörg Magenau in "Princeton 66". 

Während Rüther über den Opportunismus westdeutscher Intellektueller meist großzügig hinwegsieht (wer zum Beispiel substanzielles über die Chamäleonhaftigkeit eines Hans Magnus Enzensberger erfahren will, muss andere Lektüren zur Hand nehmen), thematisiert er manch schwankende Haltungen ostdeutscher Intellektueller, die mal als politische Rebellen und dann wieder als schweigende Mitläufer erscheinen. Kolbe hingegen zeigt, dass dieses Schwanken nicht Ausweis von Dissidenz oder Anpassung ist, sondern von mangelnder Charakterstärke. Irgendwann genoss man als Dichter Privilegien – Kolbe nimmt sich hiervon nicht aus. Diese aufs Spiel zu setzen, war schwierig. 

Die vier Nachfolger Brechts

Kolbe beschäftigt sich schließlich mit den "Nachfolgern" Brechts, empört sich über die Anmaßung eines Volker Braun, der sich 1990 damit brüstete, der DDR "einen Tritt versetzt" zu haben (das waren wahrlich andere als er und die seinen) und demaskiert die Pose Wolf Biermanns, der, wie es giftig heißt, zwölf Jahre in einer "privilegierten Falle" saß (Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR; freilich umso mehr unter "kapitalistischem Label" reüssierte) und seine drohende Ausbürgerung durchaus einkalkulierend, sich im Gestus des Brecht'schen Theaters als DDR-Verteidiger im Westen zeigte. Er rekapituliert seine Theatererlebnisse mit den Inszenierungen von Heiner Müller, diesem "Privilegiengenießer" "mit, durch, anhand von Brecht", der sich seine Arbeiten im Ausland durch Linientreue und Lenin-Lied erkauft hatte. Grandios das Fundstück eines 1992 von Müller übersetzten und ein wenig verbogenen Pound-Gedichts, welches dem abgesetzten Honecker gewidmet war. Eine "Vergöttlichung" des ehemaligen Generalsekretärs nennt Kolbe das. So schließt sich ungeachtet der politischen Differenzen ein Kreis vom Pound-Verehrer Brecht zum Pound-Übersetzer Müller.

Etwas merkwürdig mutet zunächst in dieser Brecht-Epigonen/Nachfolger-Reihe Thomas Brasch an, dessen Gedichte Kolbe als "mit das Beste" bezeichnet, "was lyrisch aus den Verhältnissen in der geschlossenen Gesellschaft hervorging". Daher also auch die Nähe zum Meister. Und dann der Vorfall bei Braschs Weggang aus der DDR, unmittelbar nach der Biermann-Ausbürgerung 1976: Brasch sei kurz vor der Ausreise bei Honecker vorgelassen worden. "Das gefiel ihm, vom Staatschef mit beschränktem Respekt und mit Handschlag verabschiedet zu werden", zitiert Kolbe F. C. Delius. Wie Brasch dann in der Bundesrepublik litt, hätte man allerdings ein wenig deutlicher erzählen können. Die Weltgewandtheit eines Biermann oder Heiner Müller waren ihm fremd.

Auslassungen

Zurück zu Rüther. Erstaunlich was dieser in seiner Chronologie so alles weglässt bzw. kaum gewichtet. Grass' Rubrum der DDR als "kommoder Diktatur" beispielsweise. Vor allem das SS-Abenteuer des Nobelpreisträgers, welches 2006 von ihm mit über 40jähriger Verspätung enthüllt wurde. Es wird nur einmal im Rahmen der Bitburg-Kontroverse kurz thematisiert, als darauf verwiesen wird, dass mit ein wenig Pech auch Grass dort als SS-Mann hätte begraben sein können. Auch die NSDAP-Mitgliedschaften von Persönlichkeiten wie Walter Jens, Dieter Hildebrandt, Dieter Wellershoff oder Erich Loest, die Malte Herwig in seinem Buch "Die Flakhelfer weniger anklagend denn aufklärerisch darlegte, kommen nicht vor. Verschenkt die Möglichkeit einer Darstellung, wie und ob Grass oder die als "Parteimitglieder" derart stigmatisierten in ihren Kreisen hätten reüssieren können, wenn man das gewusst hätte. Aber warum betreibt Rüther diese Schonung?

Weitere Leerstellen: Walsers Paulskirchenrede 1998 nebst dem anschließenden Streit mit Ignatz Bubis. Das Israel-Gedicht von Grass 2012 (und die Rezeption hierauf). Überhaupt: Was geschah eigentlich in den nicht ganz so zahlreichen Fällen, wenn Intellektuelle sich einmal gegen den links-liberalen Meinungsstrom positionierten? Das Kapitel über angebliche oder behauptete "konservative Hegemonie" ist kurz – und schwach. Martin Walser und sein Festhalten an der Einheit wird nur gestreift. Aber welche Auswirkungen hatte dies für Walser im Diskursraum der BRD? Und handelt Rüther die historisierenden Debattenbeiträge zur NS-Zeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausführlich und sehr instruktiv ab, so fehlen die weiterführenden Diskussionen ab den 1990er Jahren fast vollständig. Der Historikerstreit wird noch erwähnt. Aber wichtige Debatten wie die zur Wehrmachtsausstellung (ab 1995) oder Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) fehlen. Über die Stellungnahmen der Intellektuellen zu den Kriegs- und Militäreinsätzen der wiedervereinigten Bundesrepublik findet man ebenso nichts.

Wie war's?

Was haben die "Unmächtigen" politisch, gesellschaftlich und/oder ökonomisch Substanzielles bewirkt? Selbst mit gutem Willen kann man nach der geballten Lektüre der Warnungen und Prognosen nur von einem höchst bescheidenen Ergebnis sprechen, was die westdeutschen Protagonisten angeht. Prognostisch lag man nahezu jedes Mal falsch. Ansonsten? Die Gruppe 47 war in den 1950er Jahren wichtig, um Restaurationstendenzen beizeiten zu domestizieren. Dass dabei weniger auf die ästhetische Qualität als auf die politische Gesinnung geachtet wurde, muss nachträglich als Kollateralschaden subsumiert werden. Die APO-Bewegung ab 1967 mit ihren Verästelungen bis hin zum 70er Jahre-Terrorismus wurde von den meisten Intellektuellen mit am Ende stetig abnehmenden Sympathien nur beobachtet. Die Folgen des Grass'schen Engagements für die sozial-liberale Politik werden übertrieben dargestellt. Die Regierungserklärung von 1969 wurde, so Rüther, "von geübter Hand im Geiste des Feuilletons geschrieben." Tatsächlich wirkte Grass als Formulierungshelfer mit, aber wer den vor einigen Jahren erschienenen Briefwechsel mit ihm und Willy Brandt genau liest, muss erkennen, dass Brandt Grass' "Klugscheissereien" immer distanziert gewichtet hatte und die bohrenden und fordernden Briefe des Schriftstellers nur mit kurzen, meist unverbindlichen Antworten versah. Die Macht bediente sich des Geistes, wenn sie es wollte. Da war auch ein Willy Brandt Realpolitiker. Mit dem gewünschten Politikwechsel 1969ff entstand ein Problem, denn das Feindbild Regierung war abhandengekommen. Spätestens 1982, als Helmut Kohl mit seiner "geistig moralischen Wende" auftrumpfte, hatte man wieder seine bequeme Freund/Feind-Zuschreibung. Die Diskussionen zur Wiedervereinigung 1989/90 zeigte, wie weit die meisten Intellektuellen vom Leben und den Realitäten derer entfernt waren, für die sie Partei nehmen wollten.

Also wirklich nur Maulhelden? Uwe Kolbe kommt in Bezug auf die DDR zu einem leicht anderen Ergebnis: Für ihn waren die Engagements der Nationalpreisträger Brecht, Volker Braun und Heiner Müller staatserhaltend. Sie lieferten anderen die Gründe für das Aushalten; auch und gerade 1953, 1961 und 1976. In anderen kommunistischen Ländern gab es Rebellionen gegen die Staatsmacht bzw. versuchte man, den Sozialismus von den dogmatischen Vorgaben der Sowjetunion zu lösen (Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen 1980/81) – in der DDR geschah nichts. Oder fast nichts; die kleine Aufruhr 1976, als ein paar Dichter eine Berlin-Anthologie selbstständig herausbringen wollten, unterschlägt Kolbe.

Wohltuend allerdings, dass mit den politischen Irrlichtereien nicht auch die dichterischen Qualitäten mit diffamiert werden. Aber es gibt schon Klassenkeile. Heiner Müller etwa nennt er einen "politischen Clown nach Brechts Fasson", dessen sprachliche Gesten so groß wie seine jeweiligen Zigarren gewesen seien. Das ist vielleicht ungerecht, aber immer wieder taucht da ein Wolfgang Hilbig auf, der über die Abwesenheit der Arbeiterklasse im Arbeiterstaat schrieb (und womöglich litt), während sich ein Volker Braun einer "gehobenen Sklavensprache" bediente. Brauns "Wir" seziert Kolbe à la bonne heure.

Sehr instruktiv wie Kolbe aufzeigt, wie die DDR den Freiheitsbegriff, der für den jungen Staat mehr als nur eine Floskel war, sukzessive aus ihren Verlautbarungen tilgte und durch "Frieden" ersetzte. "Frieden" war die neue Staatsräson. Jeder, der den Staat kritisierte, wurde zum Friedens- und damit zum Staatsfeind. Erinnerungen an ähnliche Diskussionen im Westen (und auch später der vereinigten Bundesrepublik) drängen sich schon auf. Konformitäten gab und gibt es hüben wie drüben. Der Unterschied war nur, ob sie existenzbedrohend waren bzw. sind.

Rüthers Diktum ist eindeutig: "Die DDR war ein Unrechtsstaat". Umso erstaunlicher, dass er über die staatserhaltenden Tätigkeiten der Schriftsteller so wenig erzählt. Bei Kolbe braucht es eines solchen Bekenntnisses nicht. Er zeigt, wie die Interdependenzen zwischen "Geist und Macht" in der DDR bis zur Implosion hielten. 1990 sagten sie "einander Adieu. Und nur dem Geist tut es weh" bemerkt Kolbe spitz. Ganz am Ende nennt er den einzigen Text "eines ostdeutschen Schriftstellers, der verdient, populär genannt zu werden": Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." von 1968/72. Und dann noch den Film "Die Legende von Paul und Paula", ebenfalls unter Mitarbeit von Plenzdorf.  Was die Synthese von Popularität und "hoher literarischer Standards" angeht, verneigt sich Kolbe vor Jurek Becker und Klaus Schlesinger. Das war's? Das war's!   

Kolbes Buch ist nicht nur Essay, sondern auch Philippika, Suada, offener Brief und Standpredigt. Ein furioser Text mit zuweilen schneidenden Formulierungen. Er will den Moralisten Brecht und deren literarische Erben mit einer Moral konfrontieren, die zur Attitüde und zum Machterhalt verkommen war. Und Kolbe kämpft gegen die nachträgliche Idealisierung und Verharmlosung des Kommunismus. Jemand wie Pound bliebe auch literarisch geächtet, weil er sich den italienischen Faschisten anbiederte. Brecht dagegen, der Stalinpreisträger von 1954,  sei immer noch eine Art Held.

Und ja, es leuchtet ein, dass Brecht und seine Epigonen die DDR moralisch legitimiert haben. Aber auch hier gilt, dass der Alltag der Menschen zu Zeiten andere Prioritäten hatte als auf die Gedichte und Einlassungen eines Bertolt Brecht, Volker Braun oder auch Wolf Biermann zu reflektieren. Und es ist ebenso unbezweifelbar, dass das Land verhältnismäßig lange eben auch von der Mehrzahl seiner Bürger in einer Mischung aus Loyalität und Gleichgültigkeit anerkannt war. Besonders zu Beginn der 1970er Jahre, während und nach dem Übergang von Ulbricht zu Honecker, keimten (Schein-)Hoffnungen auf. (In Karsten Krampitz' soeben erschienenem Buch "1976" kann man diesen Missverständnissen nachspüren.)

Nach der Lektüre von Rüthers Belegsammlung überrascht sein Klagegesang über die (vermeintliche) Ruhe über den Geistes-Gipfeln. Plötzlich bleiben nur noch Jürgen Habermas und Juli Zeh. Vielleicht schwingt auch der Wunsch nach letztbegründender Autorität mit, wenn fast beschwörend festgestellt wird: "Europa braucht die Stimmen der Intellektuellen". Als sei Gesellschaftskritik ein Imperativ künstlerischen Handelns. Und der Intellektuelle per se der durchblickende Geist.

Die Elegie auf den Intellektuellen hat natürlich auch einen biologisch-demographischen Grund: Er stirbt im fast wörtlichen Sinn aus. Aber Abhilfe naht. Es winkt Ersatz durch eine Art "Lightversion", den "Prominenten". Quantitativ gewinnt man dadurch enorm. Ob Fußballspieler, Sänger, Tatort-Kommissar, Klatschreporter, Fernsehkoch oder Wettermoderator (alles auch gerne in der weiblichen Form) – sie beanspruchen eine profunde Weisheit, die ihnen fast alleine aufgrund ihrer öffentliche Bekanntheit zugewiesen wird. Und auch die sogenannten Engagements sehen heute einfach nur anders aus als sie Rüther dokumentiert hat und wünscht. Mit einem Ergebenheitsbrief und einem Strauß roter Rosen zum Weltfrauentag bedankten sich einhundert "Kulturschaffende" vulgo: Prominente bei der Bundeskanzlerin für deren Politik. So ändern sich die Zeiten halt. Oder auch nicht. 

Artikel online seit 18.04.16

 

Uwe Kolbe
Brecht
Rollenmodell eines Dichters
S.Fischer
176 Seiten
18,99 €
978-3-10-001457-3

Leseprobe

Günther Rüther
Die Unmächtigen

Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945
Wallstein Verlag
350 Seiten
24,90 €
978-3-8353-1838-0

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten