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Glanz&Elend
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Artikel online seit 07.05.13

Störung der Gemütlichkeit

In seinem neuen Buch zeigt Malte Herwig,
wie
aus der Generation der Flakhelfer Deutschlands
führende Demokraten wurden.

Von Lothar Struck



 

Seit vielen Jahren treibt Malte Herwig ein Thema um: Die Verstrickungen der sogenannten Flakhelfer-Generation in das NS-Regime. Ob im Spiegel, dem Zeit-Magazin, im stern oder in Deutschlandradio Kultur – immer wieder überraschte Herwig mit Funden aus Archiven, die das scheinbar Undenkbare doch belegen: Etliche derjenigen, die man (vollkommen zu Recht) als die Säulen der neuen, demokratischen und pluralistischen Bundesrepublik bezeichnet, wurden mit 17 oder 18 Jahren, also 1944 und auch noch 1945 Mitglied in der NSDAP. Das Buch »Die Flakhelfer« ist die Bilanz von Herwigs umfangreichen Recherchen, Begegnungen und Gesprächen.

Zu Beginn von Herwigs Publikationen vor einigen Jahren dachte ich, dass altgedienten und fast immer verdienstvollen Herren (es sind nur Herren) ein bisschen Schmutz hinterher geworfen werden soll. Aber darum geht es dem Autor nicht; er wehrt sich sogar gegen voreilige Vereinnahmungen – seien es wohlfeil-moralinsaure Empörungs- und/oder Distanzierungsgesten oder skandalisierende Schlagzeilenrhetorik. Herwig möchte verstehen, nicht anklagen. Im Prolog zu diesem Buch wird er, Jahrgang 1972, persönlich, erzählt von seinem Großvater (1880-1944), dessen Nazismus in der Familie in einer Mischung aus Geheimniskrämerei, Abscheu und Scham behandelt wurde. Dem gegenüber stellt er seinen Vater (Jahrgang 1927; lauter späte Väter), der sich in Hermann-Lenz-hafter Manier dem System mit sanfter Trägheit entgegenstemmte. Dies sei zwar unheroisch gewesen, aber mit lauter faulen Volksgenossen wie ihm wäre deutlich weniger Staat zu machen gewesen, erst recht kein »Tausendjähriges Reich«, so Herwig. Es ist dieses Bild der sanften Subversion, die an Brechts Parabel von den Maßnahmen gegen die Gewalt erinnert und einem bei der Lektüre des Buches nicht mehr so schnell loslässt.

Nicht ohne eigenhändige Unterschrift

Die NSDAP war, so Herwig im Buchtrailer, populärer als man heute denke. Dennoch waren nur rund 15% der Bevölkerung Mitglieder (am Ende waren es 8,5 Millionen; die Kartei umfasst mehr als 10 Millionen Karten). Es bestand auch kein direkter Zwang zur Mitgliedschaft. Im Gegenteil: Nicht jeder wurde aufgenommen; teilweise gab es Aufnahmestopps. Und dennoch muss es 1944/45 einen gewissen Druck auf die »Hitlerjungen« gegeben haben: Herwig berichtet, dass nur etwas mehr als ein Drittel der Hitlerjungen des Jahrgangs 1927 in die NSDAP gegangen waren. Und ergänzt: Von den 18 Millionen Jugendlichen, die seit dem 30. Januar 1933 die HJ bis zum 18. Lebensjahr durchliefen, wurden insgesamt gar nur 6 bis 7 Prozent in die Partei aufgenommen. Statt 6-7% also immerhin mehr als 33% eines Jahrgangs. Es könnte damit zu tun haben, dass der Jahrgang 1927 praktisch von Kindesbeinen indoktriniert wurde; die Jahrgänge davor wuchsen zum Teil noch in einem anderen politischen und sozialen Umfeld auf.

Worin lag die Motivation der jungen Männer (und Frauen), jener »Generation Flakhelfer«, für einen Parteieintritt? Herwig spricht diese Frage nur am Rande an. War es politischer Fanatismus (ein LTI-Wort)? Oder könnte sich hinter einem Mitgliedsantrag (und das wird überdeutlich: ohne eigenhändig unterschriebenem Antrag ging nichts) ein banaler Opportunismus verbergen - wer ahnte denn schon, wann das Regime zusammenbricht? Welche Vorteile im Alltag brachte das Parteiabzeichen? Es hätte auch ein Akt der Schwäche von seit ihrer Geburt massiv manipulierten Menschen sein können. Jungen Menschen, die irgendwie auf der sicheren Seite stehen wollten. Dass sich aus diesen Schwachen im Laufe eines Lebens starke Persönlichkeiten entwickelt haben - das wäre doch keine schlechte Entwicklung, die man da erzählen könnte. Herwig versucht, diese Geschichten in Erinnerung zu rufen.

Aber warum leugnen die meisten der Betroffenen noch heute die Mitgliedschaft mit großer Vehemenz, sprechen von eigenmächtigen Aktionen profilierungssüchtiger NS-Provinzgenossen, obwohl dies allen Forschungen widerspricht, wie Herwig nicht müde wird zu betonen und zu zitieren? Zwar wurden zu speziellen »Gedenktagen« (wie dem 20. April) Sammelmitgliedschaften ausgesprochen, aber niemand kam vorher um die eigenhändige Unterschrift auf dem Mitgliedsantrag herum – ansonsten gab es keine Bearbeitung.

Die Empörung der Bewunderer 

So verständlich die Leugnung der Betroffenen ist, so überraschend ist der Abwehrreflex auch der Jüngeren gegen die Diskussion, die ihre Idole (scheinbar? warum eigentlich?) ins Wanken gebracht sehen. Herwig sieht hier eine neue Schlussstrich-Debatte, mit der auch nur der leiseste Zweifel an der biografischen Gradlinigkeit ihrer Vorbilder vom Tisch gewischt werden soll. Es kann nicht sein, was nicht sein darf und damit wird jegliche Kritik als Majestätsbeleidigung aufgefasst, die potentielle Parteimitgliedschaft als Petitesse abgetan oder als falsche Aktenhörigkeit (fehl-)interpretiert. Aber Herwig stellt vollkommen richtig fest: Die Bedeutung der aufklärerischen Selbstemanzipation einer verführten Generation erkennt man aber erst, wenn man ihren prekären Ausgangspunkt nicht mehr leugnet. Ihre Leistung besteht ja gerade darin, sich am eigenen Schopf aus dem ideologischen Sumpf ihrer Jugend gezogen zu haben. Diese Leistung kann nicht gewürdigt werden, wenn die Lebensläufe der Betroffenen zu Biografien bruchloser Rechtschaffenheit geglättet werden… Diesem Anspruch steht womöglich so etwas wie Scham entgegen. Oder auch, wie Dieter Wellershoff mutmaßt, eine mit der Zeit gewachsene Form von Verdrängungshybris: »Dieses gute Gefühl, nein, wir sind ganz andere Menschen, das ist doch auch ein Verdrängungsmechanismus«. Und die zum Teil hochmoralisch bis verletzend geführte Diskussion um Grass' »Geständnis« von 2006 mag auch nicht als besonderer »Anreiz« für das Anerkennen des Verführt-Worden-Seins dienen. 

Aber die Erinnerung ist »kein Wunschkonzert«. Wenn eine Frau Klarsfeld ihre Reputation in der Öffentlichkeit noch heute weitgehend aus einer Ohrfeige für das Bundeskanzler gewordene Ex-Parteimitglied Kiesinger zieht, so hätte sie in der Bundesrepublik auf Minister- und Staatssekretärsebene genau so wie in der ehemaligen DDR fleißig Maulschellen verteilen können. Letzteres dokumentiert Herwig ausführlich: Auch in der Sowjetischen Administration galt schon 1947 die reine Parteimitgliedschaft nicht als alleiniger Exklusionsgrund für öffentliche Ämter. Es musste zusätzlich eine »persönliche Schuld« anderer Qualität vorhanden sein, um ausgeschlossen zu werden. Die westlichen Besatzungsmächte hatten schon vorher ihre Entnazifizierungsstrategien pragmatisch den Gegebenheiten angepasst.

Also alles wie damals: »Schwamm drüber« und sich jetzt rüstig empören? Herwigs Impetus ist glücklicherweise nicht moralisierend: Als 17- oder 18jährige waren sie in Hitlers Partei eingetreten – zu jung, um Täter zu werden, aber zu alt, um dem Schuldzusammenhang des Dritten Reichs zu entkommen. Generation »hoffnungslos dazwischen« könnte man die 1926-1928 geborenen nennen (obwohl es eigentlich zu wenige sind, um eine »Generation« zu begründen). Aber wie konnten aus verblendeten Jugendlichen vorbildliche Demokraten werden, fragt Herwig. Erklärt sich mit dieser Situation der dann später oft so übertrieben daherkommende moralische Rigorismus just dieser Protagonisten? Man sagt religiösen oder politischen Konvertiten nach, dass sie oftmals besonders prinzipientreu daherkommen. Dabei fällt einem sofort Günter Grass ein (der ja nicht Parteimitglied war, sondern in einer Armeeeinheit diente, die der Waffen-SS zugeordnet war). Die Unnachgiebigkeit, mit der wir Deutschen moralische Urteile fällen, sucht Ihresgleichen, so Herwig. Ein Kollateralschaden des vermeintlich empfundenen Versagens in Anbetracht der fürchterlichen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts?

Und ist das bei diesen Vorbildern ein Wunder? Die Liste derer, über die eine Mitglieds-Karteikarte vorliegt, liest sich wie das Who is Who des westdeutschen Nachkriegs-Intellektualismus: Dieter Hildebrandt, Dieter Wellershoff, Walter Jens, Erich Loest, Martin Walser, Hilmar Hofmann, Peter Wapnewski, Hans Werner Henze. Und die Liste der Politiker ist überhaupt nicht beschränkt auf die üblichen Verdächtigen (die Globkes und Mendes, die, da hat Herwig Recht, für die 68er und folgende zu Fetischen wurden), sondern besteht aus illustren Persönlichkeiten wie Hans-Dietrich Genscher, Erhard Eppler und Horst Ehmke, sowie den älteren, nach dem Krieg ebenfalls reüssierenden Karl Carstens, Karl Schiller und Gerhard Schröder (der freilich 1941 austrat, wenn die Quellen korrekt sind).

Jugend ohne Gott

Herwig nennt viele prominente Namen im Buch, trennt jedoch nicht immer fein säuberlich zwischen Flakhelfer-Generation und früher geborenen. Die Unterschiede waren durchaus signifikant: die älteren dürften sich durch die Parteimitgliedschaft Vorteile während und vor allem nach dem Studium für die weitere Karriere versprochen haben. Mehrfach wird erwähnt, dass die Mitgliedschaft bei einer Einberufung zur Wehrmacht »ruhte« - was einige nach dem Krieg als »Ausstieg« ausgaben. Dabei empfanden die Jahrgänge zwischen 1910 und 1925 nach dem Krieg die Parteimitgliedschaft durchaus als Stigma - und sahen sich zu entsprechenden »Eiertänzen« mit den Besatzungsbehörden genötigt (am Fall des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Nollau wird dies exemplarisch ausgebreitet). Vielleicht unterschätzt der Autor die elementare Kraft des informell-faktischen, die die Flakhelfer-Generation vor einem Eingeständnis zurückschrecken ließ. Irgendwann war der optimale Zeitpunkt verpasst: Je länger die Angelegenheit verheimlicht wurde, desto blamabler wäre eine Enthüllung gewesen. Gerade hatten sich die Protagonisten einen gewissen moralischen Status auch jenseits der politischen Lager erarbeitet.

Man erinnere sich beispielsweise, mit welcher Verve Hans-Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929) 1963 im Dokumentarfilm von Sebastian Haffner die Gruppe 47 als eine Formation definierte, in der sich niemand befinde, der ein Hitler-Gedicht geschrieben habe. Dies war eine Anspielung auf Leute wie Gottfried Benn, Gerd Gaiser oder Ernst Jünger. Dass mindestens ein Waffen-SS- und ein NSDAP-Mitglied unter ihnen regelmäßige Gäste waren, wusste er damals nicht. Und das Günter Eichs Antrag aus dem Jahr 1933 nur aufgrund einer Aufnahmesperre nicht bearbeitet wurde, kam auch erst später heraus. Welche Entrüstung hätte es gegeben, wenn Grass damals reinen Tisch gemacht hätte? Was wäre gewesen, wenn die Karteikarte von Walter Jens schon in den 60ern aufgetaucht wäre?

Warum dieses »Nein« heute noch? Ist es denkbar, dass es sich nicht um ein bewusstes Lügen, sondern um einen »psychopathologischen Reflex« handelt, wie Herwig Hans Dieter Schäfer zitiert? Vielleicht im Einzelfall. Aber derart kollektiv? Oder kommt man mit Roger Willemsens feiner Studie über den »Knacks«, der das Leben für immer verändert, der Erklärung näher? Herwig besuchte etliche der Karteigenossen (wie er sie dann doch ein bisschen salopp nennt) und redete mit ihnen. Manche Gespräche sind verblüffend unergiebig, weil die Personen unnachgiebig und verschlossen bleiben. Aber einige zeigen mindestens Bedenklichkeit, wie Dieter Wellershoff. Oder, die Ausnahme, Erich Loest: er konzediert sein Vergessen, nimmt die Fakten hin (und an), erzählt von seiner Faszination für die »Rund-um-Betreuung« in den nationalsozialistischen Organisationen. Von Korruption der Jugend schreibt Herwig und man fühlt sich schlagartig hineinversetzt in Ödön von Horváths »Jugend ohne Gott« von 1937. So nannte der Erzähler in Horváths Buch, ein Lehrer, diese Generation und veranschaulicht die schleichenden, aber wirkungsvollen Indoktrinationen des Nazitums in Jugend und Gesellschaft. Die humanistischen Ideale verschwinden sukzessive; der Lehrer verzweifelt, vereinzelt und erhält keinen Rückhalt mehr - weder bei den Eltern der Kinder noch im Kollegium. Er verlässt das Land Richtung Afrika; der »Neger fährt zu den Negern«, so lautet der letzte Satz dieses Romans (der womöglich längst nicht mehr der letzte Satz ist).

Das wissende Werk

Bei Grass und Martin Walser versucht Herwig das »wissende Werk« als Kronzeugen heranzuziehen (Das Werk bekundet, was der Autor verschweigt). Grass' eher weniger beachtetes Buch »Hundejahre« und die Novelle «Im Krebsgang« werden Belege für seine Zerrissenheit zwischen Schweigen und Sprechen. Und auch bei Martin Walser, der bis heute die Mitgliedschaft leugnet, wird das Wechselspiel zwischen Entblößung und Verhüllung entdeckt. Herwig untersucht das Zerbrechen der jahrzehntelangen Freundschaft zu Ruth Klüger nach »Tod eines Kritikers«, dreht Walsers Wörter im Interview mit Rudolf Augstein wie Steine um, unter denen sich höchst seltene Insekten zeigen, seziert Passagen aus dem »Springenden Brunnen«, widmet sich dem Subtext des Stückes Der Schwarze Schwan und analysiert die so oft kritisierte Paulskirchen-Rede, in der er einen Sühnestolz bei Walser ausmacht. Kommt Grass bei Herwig noch mit (vielleicht unverdienter) Milde weg (er nennt ihn einen Versehrten und berichtet von seinen Angstträumen), so beißt er bei Walser stärker zu.

Die Interpretationen Herwigs sind stimmig und mit Virtuosität vorgebracht; die Methode kennt man aus seiner Handke-Biographie »Meister der Dämmerung«, in der er auch wie ein Philip Marlowe das Werk nach biographischen Verwundungen und versteckten Bekenntnissen absucht. Das ist gelegentlich vielleicht ein bisschen zu sehr zurechtgerückt, vermittelt aber à la longue höchst interessante Deutungen und offenbart verblüffende Perspektiven. Walser möchte uns, so die These, nicht direkt mit der eigentlich unverdrängbaren Wahrheit, die wie eine chronische Krankheit die Persönlichkeit dauerhaft deformiert hat, belästigen. Stattdessen wird die Antwort in das Werk verlagert. Ob Herwig die beiden mit seinen Erkundungen direkt konfrontiert hat? Irgendwann wird es Walser zu ungemütlich mit dem Besucher Herwig. Und am Ende haben Walsers Anwälte das Sagen. Man darf nicht mehr sagen, Walser sei NSDAP-Mitglied gewesen, weil nicht belegbar sei, ob ihm jemals die Mitgliedskarte überreicht worden war. Die Frage nach dem eigenhändig unterschriebenen Mitgliedsantrag stellt das Gericht nicht.

Ein ganzes Kapitel widmet Herwig der ominösen Mitgliederkartei, die im »Berlin Document Centre« von den Amerikanern bis 1994 verwaltet wurde. Frühere Übergaben an westdeutsche Behörden scheiterten zumeist daran, dass kaum ein großes Interesse an dieser Kartei bestand. Die Ausnahme bildete das DDR-Ministerium für Staatssicherheit. Der ehemalige MfS-Offizier Dieter Skiba kommt ausführlich zu Wort, wenn es um den Mythos der antifaschistischen DDR und der Instrumentalisierung der Mitgliederkartei geht. Immerhin reichte es 1965 für ein »Braunbuch« – als »Propagandawerk« der DDR im Westen abqualifiziert. Herwig betont, dass 99% der Angaben stimmten, aber ausgerechnet die Vorwürfe gegen den damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke trafen nicht zu. 1981 erschien dann im Westen ein »Braunbuch DDR«. Insgesamt kann man sagen, dass die nationalsozialistische Vergangenheit von Politikern, Künstlern und Intellektuellen jede Seite nur so lange interessierte, wie man hieraus Munition für den jeweiligen Gegner gewinnen konnte. Das galt sowohl für die Parteien des Kalten Krieges als auch innerhalb der jeweiligen Parteien in Ost und West, wie man an vereinzelten, gezielten Indiskretionen über Parteimitgliedschaften Prominenter (Genscher, Carstens) sah.

Störung der Gemütlichkeit

Inzwischen haben es sich alle längst gemütlich gemacht. Malte Herwigs Buch stört diese Grabesruhe der Lebenden und selbsternannten Denkmalschützer, die schon vor Jahrzehnten ihre Übereinkünfte getroffen hatten, wer der Gute und wer der Böse ist. Es wäre ja so schön einfach gewesen. Obwohl weder Anklage noch Ausforschung, lässt sich Herwig gelegentlich von seinem Entdeckungsfuror mitreißen und verwendet dann doch die Vokabel der »Schuld«. Vielleicht ist es aber auch das hartnäckige wie kindische Leugnen der Protagonisten, was dann manchmal die Sprache spitzer werden lässt. Vereinzelte Redundanzen im Buch sind womöglich weniger ein Versehen als der Ambition geschuldet, bei Lesern nur einzelner Kapitel keine falschen Schlussfolgerungen zu produzieren.

Was in der Betrachtung vor allem der »gefallenen« Schriftsteller nicht artikuliert wird, ist die zuweilen grenzenlose Überschätzung politisch-moralischer Urteile dieser Persönlichkeiten. Es ist ein Überbleibsel aus der aufkommenden Moderne Ende des 19. Jahrhunderts, welches insbesondere von Hans-Werner Richter mit seiner »Gruppe 47« nach dem Krieg wieder hervorgezaubert wurde, zu glauben, dass Dichter (und Künstler) ein besseres politisches Gespür, eine reinere, unverdorbene Sicht der Dinge haben. Richters Tagebücher, die unlängst veröffentlicht wurden, zeigen, dass er dies am Ende selber gänzlich anders sah. Und tatsächlich: Oft, zu oft, war das Gegenteil der Fall - und das nicht nur bei den üblichen Verdächtigen (aus allen politischen wie kulturellen Richtungen). Auch Martin Walser wechselte das politische Mäntelchen mehrmals (Herwig weist darauf hin). Und wie es um die politische Potenz von Grass' bestellt ist, erschließt sich spätestens nach der Lektüre seiner Tagebücher von 1990. Es wäre an der Zeit, die politische Urteilskraft nicht nur aber auch der Flakhelfer-Generation auf den Boden der Realität zurückzuführen. Täte man dies konsequenter, bräuchte man sie von den Thronen nicht zu stoßen, auf die man sie im Überschwang Jahre zuvor gesetzt hatte.

Man lernt aus diesem Buch, dass die Sehnsucht nach der heilen Welt nicht nur in Kreisen sogenannter bürgerlicher Spießer verbreitet, sondern auch in der scheinbar so intellektuellen Elite derart tief verwurzelt ist und dass man auch dort Tatsachen lieber leugnet, als sie anzunehmen. Man lernt, dass auch Vorbilder Menschen mit Brüchen, Schwächen und unauflösbaren Widersprüchen sind. Nicht trotz, sondern gerade deswegen sollte man sie und ihre Leistungen schätzen und entsprechend einordnen. Diese Erkenntnis ist kein kleines Verdienst dieses aufschlussreichen, packend geschriebenen Buches. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

 

Malte Herwig
Die Flakhelfer
Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden
DVA
320 Seiten
€ 22,99
978-3-421-04556-0

 


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