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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Foto: Center for the Study of Europe Boston University



Ein pulsierendes Wimmelbild

Fiston Mwanza Mujilas fulminanter Debutroman »Tram 83«


Von Gregor Keuschnig

Irgendwo in Afrika, in einem Land, das sich Demokratischen Republik Kongo nennt (und vorher Zaire nannte), vielleicht in einer Stadt in der Provinz Katanga, die hier "Stadtland" heisst, einer Stadt oder einem Gebiet, das sich von "Hinterland" abgespalten hat, denn in Stadtland gibt es Steine und diese Steine beinhalten Erze und vor allem Kupfer und das verspricht Reichtum, aber dieses Versprechen gilt nicht für jeden und am Ende kommt es nur noch darauf an, ob man auf der organisierten oder desorganisierten Seite der Bananenrepublik lebt. Dort gibt es das "Tram 83": Kaschemme, Bar, Imbiss, Jazzclub, Bühne, Tanzpalast, Bordell, Drogenhöhle, Geldwaschanlage, 24 Stunden geöffnet, eine Mischung aus Berghain, Cotton Club, Sodom und Gomorrha, Hieronymus Boschs "Sieben Todsünden" und dem "Weltgericht", Kirche und Moschee, ein Ort, der fasziniert und abstösst, Treffpunkt für Grubenarbeiter, Studenten, "Touristen",  Dealer, Literaten und Verleger, Frauen, die nach "Küken", "Single-Mamas" und "Ex-Single-Mamas" und, vor allem, nach Form und Größe ihrer Brüste unterteilt werden, Geschäftsmänner, Zuhälter, Gläubige und Atheisten, Korrupte und Moralisten. Zu Beginn fällt einem noch eine Goldgräberromantik aus den USA ein, aber das wird einem hier schnell ausgetrieben, denn hier herrschen Sex und Geld und ein Frauenüberschuss, da Bürgerkriege noch nicht lange zurückliegen. 

Zu Beginn kommt Lucien ins "Tram 83", ein Schöngeist mit Notizbuch, der ein Bühnen-Epos nach Paris abliefern soll. Er trifft seinen Freund Requiem, genannt "Negus", einem auf den ersten Blick Kleinkriminellem, der immer unsympathischer wird, sich als Kriegsverbrecher (ein Pleonasmus?), Bandenführer, Plünderer, Vergewaltiger, Erpresser und Schmuggler entpuppt, der Filme mit Jean Gabin und Lino Ventura mag. Irgendwann gibt es noch den Schweizer Verleger Ferdinand, der Gefallen an Luciens Texten findet, aber schließlich von Requiem mit Bildern von ihm und der (minderjährigen) Prostituierten erpresst wird. "Was sagt die Uhr" ist der Standardsatz, den man stellenweise auf fast jeder Seite des Buchs findet. "Was sagt die Uhr" fragt die Meute für die Muße ein Verbrechen ist. Alles ist vulgäres Business (vor allem der Sex), selbst die Kellnerinnen drangsalieren die Gäste zum Trinkgeld und für die Prostituierten gilt die (Schach-)Regel: "berührt-geführt".

Fiston Mwanza Mujilas Roman ist ein pulsierendes Wimmelbild, mal expressiv, mal impressionistisch; Märchen, Moritat, Porno und Burleske - ein mystischer Realismus mit gleichzeitig gnadenlos analytischem Blick, der gut verborgen im Dialogstrom herauslugt. Und als sei das alles noch nicht genug, wird auch noch auf einer Metaebene die Fiktionalität des vorliegenden Textes befragt (Mujila lehrt ja inzwischen über Literatur in Graz) und es könnte momentweise sein, das Luciens Bühnen-Epos eben genau dieses Buch über "Tram 83" ist.

Man kann diese atemlose, fulminante, abstoßende, poetische, vulgäre, assoziative, rhythmische, furchtbare und gleichzeitig herrliche Erzählung (oder ist es ein Gedicht? oder ein Drama?) nicht lesen, ohne an Guillermo Cabrera Infantes "Drei traurige Tiger" zu denken, diesem melancholisch-elegischen Abgesang auf das Nachtleben Havannas im vorrevolutionäre Kuba von 1958. Und doch ist es anders, deftiger, rau, und der sich beim Leser einstellende Exotismus des ersten Augenblicks verschwindet schnell, weil das Leben von Mujilas traurigen Gestalten ein Überlebenskampf ist und eben auch immer ein Todeskampf, aber der "Tod hat keinerlei Bedeutung, weil man noch nie wirklich gelebt hat. Man tut, als würde man leben. Man erfindet ein Scheinleben." "Tram 83" ist eine Chronik dieses Scheinlebens; eine Arena auf der jeder abwechselnd und auch schon mal gleichzeitig Mephisto und Faust ist.

Natürlich kann man "Tram 83" auch als Parabel auf die Welt lesen, den schranken- und grenzenlosen Kapitalismus, aber eben ohne die typischen ideologischen NGO-Verrenkungen oder den Betroffenheitskult Gutmeinender (Mujila sei Dank!) und an einigen Stellen funkelt ein herrlicher Sarkasmus, wenn vom "Lob der Folter", von delikaten Hundespießchen die Rede ist (und deren Zubereitung geschildert wird und das "Tram 83" zum "Symbol einer absolut harmonischen, gemischten, aufgemischten Gesellschaft" mutiert; einer "neuen Welt", einem Dschungel, in dem gilt: "Jeder für sich, Scheiße für alle." Naja, nicht ganz für alle, denn da ist der "abtrünnige General", der das Land beherrscht, die Fäden zieht, die Steine und die Menschen ausbeutet und alles für sich beansprucht und nur Requiem am Ende erlaubt sich ihn zu erpressen und das Ende (falls es eines gibt) soll nicht verraten werden.

Schnell, fast zu schnell, endet das Buch und man bewundert diesen Autor. Aber dann, ein wenig später, bedauert man ihn auch ein wenig. Denn von nun an werden alle seine nachfolgenden Erzählungen und Romane mit diesem beeindruckenden Werk gemessen werden. Aber ich bin zuversichtlich, dass er bestehen wird.

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Artikel online seit 20.09.16
 

Fiston Mwanza Mujila
Tram 83

Roman
übersetzt aus dem Französischen von Katharina Meyer, Lena Müller
208 Seiten
Zsolnay
Fester Einband
20,00 €
ISBN 978-3-552-05797-5
ePUB-Format
ISBN 978-3-552-05809-5

Leseprobe

 


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