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Einstieg ins Denken des 20. Jahrhunderts |
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Wir heutigen können nur staunen, mit welcher Unversöhnlichkeit und unter welch großer Anteilnahme der Öffentlichkeit in früheren Zeiten geisteswissenschaftliche Debatten ausgetragen wurden. Zwischen der Ritter-Schule und der Frankfurter Schule herrschte eine Fehde von shakespearschen Dimensionen, die umso seltsamer wirkt, nun da einige akademische Generationen später die einst unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den Großdenkern des 20. Jahrhunderts gar nicht mehr so groß erscheinen. Das gilt auch für Wittgenstein und Heidegger, die längst nicht mehr als die Antipoden gelesen werden, für die sie ihre jeweiligen Anhänger zu Lebzeiten hielten. Manfred Geier ist ein versierter Wissenschaftsjournalist, der nach Büchern über Kant, Popper, Leibniz und andere nun eine Doppelbiografie über Wittgenstein und Heidegger vorgelegt hat. Seine Versiertheit erschöpft sich aber nicht darin, mit der Wahl seines Gegenstands einen vermeintlich Tabubruch gewagt oder die Zahl der möglichen Interessierten verdoppelt zu haben – und derer gibt es nicht wenige: Heidegger dürfte dank der Debatte um seinen Privatnationalsozialismus, die 2014 der Veröffentlichung seiner Notizen aus den 1930ern folgte, auch jenseits der Institute als umstrittener und darum attraktiver Denker zu neuem, übers bloß Ikonenhafte hinausgehenden Ruhm gefunden haben. Wittgenstein wiederum darf als fest in der Popkultur verankert gelten, seit Homer in der »Akte X«-Folge der »Simpsons« den FBI-Agenten Mulder und Scully großtuerisch vorlügt, sich am Abend seiner Begegnung der dritten Art im Herrenclub bei einer Partie Backgammon über Wittgenstein ausgetauscht zu haben... Geier zeigt sich versiert bei seinem interessanten Unterfangen, die parallelen und diametralen Lebens- und Denkläufe dieser beiden »letzten Philosophen« nebeneinander zu stellen, die er darum als solche bezeichnet, weil die Zeiten solcher Solitäre vorbei sind: Interdisziplinarität und Vernetzung haben diesen Typus unmöglich gemacht, aber auch eine Scheu vor allzu radikalem Denken, das als philosophisches ein fragendes ist. Heidegger und Wittgenstein gingen ganz darin auf und waren zeitlebens Eremiten aus unterschiedlichen Gründen und mit noch unterschiedlicherer Herkunft: Hier der weltläufige Industriellensohn, da das provinzielle Handwerkerkind mit schwerstem Katholizismus.
Geiers Doppelbiografie gibt einen gelungenen Einblick in das Denken des 20. Jahrhunderts, indem er zwei Lebenswege nachzeichnet, die im selben Jahr begannen, in dem auch Charlie Chaplin und Adolf Hitler zur Welt kamen. Wittgensteins und Heideggers Leben und Denken blieb immer von ihrer jeweiligen Herkunft geprägt, in die 1911 die Philosophie einschlug, und Geier kann die denkerische Entwicklung und die jeweiligen Hauptwerke für Laien verständlich erklären, auch wenn ihm das bei Wittgenstein leichter fällt als bei Heidegger: Dessen »Sein und Zeit« gibt Geier nur schlaglichtartig und im in seiner Verkürzung noch befremdlicheren O-Ton wieder, was »der Dunkelheit der Sache« und der Kürze des gut 400 Seiten umfassenden Buches geschuldet ist. Wittgensteins
Auseinandersetzung mit Russells Typentheorie und die Bildtheorie des Tractatus
entspringen seiner lebenslangen Suche nach Klarheit und Reinheit, die Geier
eindrücklich zu vermitteln versteht. Die abgeschiedene Sozialisation Heideggers
dagegen und der Einsatz seines jugendlichen Übermuts für die erzkatholische
Sache dürfte heute nur noch wenigen nachvollziehbar sein. Die Ehe mit Elfride
befreite ihn vom Katholizismus des Elternhauses und die Mentorschaft Husserls
brachte ihn in die soliden akademischen Verhältnisse, in denen er seiner
barocken Religiösität eine neue Richtung, nämlich hin zum Sein geben konnte. Im
Zentrum seiner Phänomenologie stand fortan das Leben als existentielle Erfahrung
vor aller rationalen Erkenntnis, was sie nicht eben zugänglich macht – selbst im
(gleichfalls befremdlichen) biografischen Kontext.
Zwei gegensätzliche Denkwege kreuzen sich Wittgenstein und Heidegger nahmen in ihren Werken nie Bezug aufeinander, wurden aber im »Kampf um die Metaphysik«, der auch ein politischer war, ab 1929 unfreiwillig gegen einander in Stellung gebracht. Tatsächlich hat Heidegger den Tractatus schon früh gelesen und war ausgerechnet mit dem Schlusssatz unzufrieden, wonach man von dem schweigen muss, worüber man nicht sprechen kann. Wittgenstein wiederum versuchte nach dem Erscheinen von »Sein und Zeit« den zu ungeheurer Popularität gelangten Heidegger zu verstehen. Sein besonderes Interesse galt dem metaphysischen Versuch, über die Sprache hinauszugelangen, und dem Begriff der Sorge, dem ausgerechnet Heidegger durch strikte Formalisierung jeden Bezug zur Ethik austrieb, während der in seiner ernsten Sachlichkeit so kühl wirkende Wittgenstein sich sein Leben lang mit Selbstvorwürfen zum Anstand hinquälte. Mitte der 1930er wendeten
sich beide der Alltagspraxis des Menschen und es kam zu einer »Kreuzung ihrer
Denkwege, bevor sie in entgegengesetzter Richtung weiterliefen« (S. 310). Hier
wird auch die Unvereinbarkeit ihres Denkens klar, diejenige ihres jeweiligen
Eremitenlebens ohnehin. Wittgenstein litt als Volksschullehrer auf dem Land
unter der Schlichtheit seiner Mitmenschen, die Heidegger genau dafür schätzte.
Dieser jedoch entfernte sich bei seinem Abstieg in den Abgrund des
Fragwürdigsten so weit von den Menschen, dass nicht einmal mehr geringste
ethische Skrupel in seinem Denken übrig blieben. Wittgensteins allzu- bis
übermenschliches Ringen mit sich selbst, mit der Logik und dem Mystischen lässt
den Leser mehr als einmal die seufzende Bitte seiner Lieblingsschwester
wiederholen, er solle es sich doch bitte nicht so schwer machen und nicht so
ungerecht gegen sich selbst sein (oder – das wäre der Rat unter uns Heutigen,
denen nach den »letzten Philosophen« – »sich professionelle Hilfe suchen«). Das Liebesleben der beiden Protagonisten – Heideggers lebenslange Untreue hier, die Spekulationen über Wittgensteins Homosexualität da – verbannt Geier mit den guten Gründen in einen kurzen Anhang, die für manch andere Fehlstelle nicht angegeben werden. Wittgensteins Familie und Freunde haben eine Randstellung, die allem Einzelgängertum zum Trotz unangemessen ist. Zwar kann Geier alle Freunde von tragischen Familiensagas nach dem Muster der Manns/Buddenbrooks oder der Kennedys an Alexander Waughs »Das Haus Wittgenstein« (2010) verweisen. Aber Wittgensteins Brüder gar nicht zu erwähnen und auch nicht die schwierigen Freundschaften etwa mit Russell, Moore oder Keynes – als sei der früh verstorbene David Pinsent wirklich der einzige engere soziale Bezugspunkt gewesen, als den der junge Wittgenstein ihn gegenüber Pinsents Mutter bezeichnete – lässt ihn isolierter erscheinen als er faktisch war. Erstaunen muss Geiers unentschiedene Haltung zu Heideggers Antisemitismus. Er gibt die Positionen wieder, die in der Debatte um die Schwarzen Hefte bezogen worden sind, und enthält sich selbst hier eines Urteils, das ihm allerdings abzulauschen ist. Denn der vielsagende Besuch des Holocaust-Überlebenden Paul Celan in der Todtnauberger Hütte und seine enttäuschte »Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen« vor 50 Jahren fehlen in dem Buch. Stattdessen zitiert Geier ausführlich aus dem SPIEGEL-Interview, das Heidegger ausgiebig zu seiner Selbstmystifizierung nutzte. Richtig ärgerlich ist, wie Geier in einem Kapitel Heideggers jahrelanges Engagement für den Nationalsozialismus der zweiwöchigen Reise Wittgensteins in die Sowjetunion gegenüberstellt, die dieser ohne Ahnung von oder Interesse an der dortigen Politik unternahm, sondern nur um Land und Leute Tolstois kennenzulernen – des Schriftstellers, der den Vordenker der (inzwischen nicht mehr ganz so nüchternen) analytischen Philosophie am meisten geprägt haben dürfte. Manfred Geier trägt in seiner
Doppelbiografie weitgehend Bekanntes zusammen, um daraus ein auch für
interessierte Laien spannendes Buch zu machen – ein Erfolg, für den die
außergewöhnlichen Protagonisten kaum geringere Bedeutung gehabt haben dürften
als die Versiertheit des Autors. |
Manfred Geier |
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