Termine Autoren Literatur Krimi Quellen Politik Geschichte Philosophie Zeitkritik Sachbuch Bilderbuch Filme |
|||
|
|||
|
Entlang
den Gräben |
||
I.
II. Schon in den ersten Tagen seiner Reise besucht er Auschwitz und erinnert (ohne dies explizit zu erwähnen) an das Buch »Was von Auschwitz bleibt« des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, wenn er schreibt: »Wer immer Auschwitz überlebte, hat das tiefste Schwarz nicht selbst geschaut.« Nie, so Kermani, habe er sich mehr als Deutscher gefühlt als während der Führung durch das KZ, das ihn, unterstrichen durch ein Schild am Revers, auch als »Deutschen« identifiziert. So schrecklich der Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers ist – erst in der Todesfabrik Birkenau zeigt sich die ganze Barbarei. Der eigene Kiefer presst sich zusammen, so dass selbst der Schriftsteller nach Worten für die eigene Sprachlosigkeit suchen muss. Angesichts dessen sieht Kermani eine »deutsche Leitkultur« nicht in den universalen Menschenrechten grundgelegt, sondern vielmehr in dem Bewusstsein der Schuld, »das Deutschland nach und nach gelernt und auch rituell eingeübt hat.« Heute ist Auschwitz ein Top-Besucherziel, an dem fleißig Selfies geschossen werden: Am Ende kommen Touristen...
III. Zur Kultur der Tabuisierung im heutigen Polen passt eine ganz aktuelle Diskussion: Derzeit wird ein Gesetz vorbereitet, das die Rede über polnische Todesfabriken im Zweiten Weltkrieg unter Strafe stellen will. Damit sollen vor allem polnische Historiker mundtot gemacht werden. Auch die These, dass Polen Mittäter bei der Judenverfolgung waren, soll in Zukunft bestraft werden, obwohl eine nicht geringe Anzahl Polen an der Verfolgung und Ermordung von Juden nachweislich beteiligt waren. In Weißrussland streitet Kermani sodann auch mit dem weißrussischen Schriftsteller Valentin Akudowitsch, der in »Der Abwesenheitscode« (Suhrkamp 2013) das Wesen der Weißrussen erforscht und die historischen Brüche markiert hat, denen Weißrussland von der Oktoberrevolution bis zur Epochenschwelle 1989/90 ausgesetzt war. Ein Resultat dieser Geschichte ist das unbändige Bedürfnis nach sozialer Sicherheit der Weißrussen.
IV. Es geht schließlich um jene Gräben, die durch die Familien gehen, gerade an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland – ein Gebiet, das Kermani mit dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder als »Bloodlands« bezeichnet. Zu den »Bloodlands« zählt Snyder den wesentlichen Teil Polens in den Grenzen von heute, die baltischen Staaten, Weißrussland und die Ukraine sowie den Westrand Russlands, sprich: das Gebiet von Sankt Petersburg bis Odessa und von Posen bis Kursk. In Anbetracht der historischen Gräuel in diesem Gebiet sei »Europas Epoche des Massenmords übertheoretisiert und missverstanden«. Denn allein derjenige, der bereit sei, die Ähnlichkeiten zwischen den Diktaturen Hitlers und Stalins anzuerkennen, könne auch ihre Differenzen verstehen. Und nur das Zusammenspiel von Nazismus und Stalinismus habe für das Elend und den Tod von etlichen Millionen Menschen, in der Hauptsache Zivilisten, in den »Bloodlands« gesorgt. Eine Interaktion der beiden menschenverachtenden Systeme sowie der kriegerische Zusammenstoß der deutschen und sowjetischen Gesellschaft seien maßgeblich verantwortlich für die Barbarei und den Vernichtungswahn, der bereits Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat. Snyder berichtet über den Antisemitismus beider Systeme, rekapituliert die Gewalt an Kindern und Säuglingen, den Großer Terror von 1937/38, den Generalplan Ost und die Ausweglosigkeit im Warschauer Ghetto. »Bloodlands« meint die Todesfabriken und Massengräber, die Verbrechen der Soldaten und der Einsatzgruppen im Osten Europas. Da sind die Häutungen, Erschießungen, Vergewaltigungen, Verbrennungen, Vernichtungen und Vergasungen; der Kannibalismus und das Blut, die Exkremente, die schwarzen Gesichter, das Urin der ineinander verkeilten Leichen in den Gaskammern, die Desinfektionen für die nächste Gruppe von Juden, die nicht wissen soll, dass nichts als ein grausamer Tod auf sie wartet. Es ist das immer noch kaum Verstehbare: Treblinka, Auschwitz und Babi Jar. Kermani spart Babi Jar aus Zeitgründen aus und fährt zur Gedenkstätte Chatyn. Dort brennt in einem großen Steinblock aus schwarzem Granit die »ewige Flamme«, Todes- und Erinnerungssymbol an die zahlreichen Einwohner Weißrusslands, die im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen. In den Boden eingelassene Betonbalken deuten auf die ehemaligen Standorte der Häuser des Dorfes Chatyn, symbolische Schornsteine ragen in die Luft, Glockengeläut ist zu hören. Kermani schreibt: »Alle dreißig Sekunden läuten die kleinen Glocken, allerdings zeitlich minimal versetzt, so daß ein langgezogenes, helles kindliches Wimmern entsteht, das die Seele durchdringt. Unmöglich die Vorstellung, daß hier jemand herumlaufen könne wie im Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin, Verstecken spielen oder so. Noch nie bin ich durch eine Gedenkstätte gelaufen ..., in der die Gewalt, die Trauer, die Leere so physisch erfahrbar werden. Und das gelingt nicht etwa mit ... dem Turm der Stille im Jüdischen Museum Berlin, nicht durch Einfühlung, Originalaufnahmen oder Simulation des Schreckens. Es gelingt allein durch die Kraft der künstlerischen Abstraktion.«
V. In der Sperrzone von Tschernobyl ist er mit einem Geigerzähler unterwegs, begibt sich in das grelle Nachtleben von Kiew und die Kaffeebars der Unterstadt, besucht Odessa mit seinen Palais und Bürgerhausbalkonen, seinen prächtigen Salons und den kunstvoll angelegten Parks. Sodann geht es auf die Krim, die bei Regen aussehe wie das Siegerland, sprich: trostlos und grau. Immer wieder tauchen Plattenbauten auf, Appartmentblocks, Shoppingmalls und Trabantenstädte. Kermani spricht mit Politikern, Kollegen und einfachen Menschen – Bäuerinnen mit tiefen Furchen im Gesicht –, die ihm unterwegs begegnen. Eine Geisteshaltung der russischen Bevölkerung fällt ihm auf: »Die Haltung, die im Westen der Rechtspopulismus vertritt, zum Primat der Nation und abendländischer Identität, zu autoritärer Demokratie und Islam, zu Homosexualität und Genderwahn, zur Weltherrschaft Amerikas und zur Brüsseler Diktatur, scheint mindestens in der russischen Mittelklasse Mainstream zu sein.« Dann gelangt er nach Grosny, das 2001 praktisch ausgelöscht war und heute wie ein »kaukasisches Metropolis« wirkt: Wolkenkratzer, Phantasiegebäude, Theater, Präsidentenpalast, Moschee, achtspurige Straßen, Villen, unerschwingliche Wohnungen. Wie schon bei Geert Mak prallen Geschichte und Gegenwart hier besonders hart aufeinander. Immer wieder kommen seine Dialogpartner auf das Heldentum zu sprechen, das im Osten Europas großen Stellenwert zu haben scheint. Nicht nur in Tiflis, wohin Kermani weiterreist, sondern auch in den Krisen- und Kriegsgebieten. So hat der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan eine besondere Tragweite. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Gespräche mit den Frontsoldaten auch in seine Staatspreisrede vom November 2017 eingeflossen sind.
VI. Die letzten 40 Seiten gehören der Stadt Isfahan, die man auch »Hälfte der Welt« oder »die paradiesische Hälfte des Universums« nennt. Der Weg dorthin war jedoch nicht allein vom Blut der Geschichte getränkt, sondern auch beseelt von einer herzlichen Gastfreundschaft auf nahezu allen Stationen – gleich, wie arm die Menschen waren. Nun, am Ende seiner Reisen, blickt Kermani auf den ausgetrockneten Fluss in Isfahan, atmet die staubtrockene Luft und wundert sich über die Shoppingmalls, die Obstplantagen und Freizeitparks, die hier entstanden sind. Das Ziel dieser Reise in die alte Heimat? »Daß auch die jüngere Tochter einmal ihre eigene Kindheitserinnerung an Iran hat, war der wichtigste Grund, vier Wochen in Isfahan zu sein – daß sie die Sprache besser versteht, andere Kinder kennenlernt, schöne Erlebnisse mitnimmt. Sie soll nicht nur wissen, sondern erfahren, daß ihr ein zweites Land gehört (keinem Land sie).« Von Siegen nach Isfahan sind es – laut Google Maps – mehr als 5000 Kilometer. Kaum zu glauben, dass die Familie Kermani in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts diesen Weg mit dem Auto auf sich genommen hat, um die Sommer dort zu verbringen: Die alten Autos – so viel unbequemer als die hochmodernen Wagen der Gegenwart; die Grenzen – bestückt mit Schlagbäumen; die Straßen – wohl noch schlimmer zu befahren als heute. Allein der Verkehr auf den Autobahnen dürfte angenehmer gewesen sein.
Navid Kermani ist über Umwege erneut nach Isfahan gereist, um dem Leben – jedem
Leben – mit Würde zu begegnen. Er hat seine Leser mitgenommen auf eine
abenteuerliche Reise, blutig, und doch voller Hoffnung. Ich bin ihm, einmal mehr
fasziniert von seiner zauberhaften Sprache, gerne durch das östliche Europa bis
nach Isfahan gefolgt, gleichwohl froh, nun wieder mit Herz und Kopf in Köln am
Schreibtisch zu sitzen, doch ebenso bewusst, dass auch hier die Menschen ab und
an wieder zu vergessen scheinen, wie wichtig Freiheit, Demokratie und
Menschenwürde weiterhin sind.
|
Navid
Kermani |
||
|
|||