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Ach, so kleine Geister

»Machtverfall« Robin Alexanders ernüchternder Report
über
Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik

Von Lothar Struck
 

Robin Alexander war 2017 mit "Die Getriebenen", der Chronik der Flüchtlingskrise 2015, ein Bestseller gelungen, der später sogar verfilmt wurde. Außer bei einigen politischen Wirrköpfen, die, je nach Färbung, Merkelhass oder Merkelergebenheit nachweisen wollten, gibt es bis heute keinen sachlichen Widerspruch zu den akribischen Rekonstruktionen des Autors. Alexander dokumentierte nicht nur die Überforderungen der deutschen Entscheidungsträger in jenem Herbst 2015, sondern auch ihre Eitelkeiten und bisweilen fahrlässigen Handlungsweisen aufgrund partei- oder machtstrategischer Erwägungen. Am Ende bleibt die triviale Erkenntnis: Man wurde damals mehr oder weniger von den Ereignissen überrumpelt. Aber im Buch wurde auch gezeigt, wie man vorher durch Ignoranz (oder auch Arroganz) in diese am Ende eskalierende Situation kam.

Inzwischen ist Robin Alexander zum stellvertretenden Chefredakteur der "Welt" befördert worden und tritt als sachkundiger Analytiker und auch Kommentator des Berliner Politikgeschehens auf. Umso neugieriger war man, als im Januar vom Siedler-Verlag das neue Buch von ihm für Publikation im Mai avisiert wurde. Derartige Vorankündigungen sind normal. Ungewöhnlicher ist, dass sich im Laufe der Monate der Buchtitel ändert. Aus "Machtwechsel" (der Titel erinnert an Arnulf Barings gleichnamiges Buch von 1982 zur Ära Brandt-Scheel) wurde jetzt "Machtverfall". Aus einem Cover mit Merkel, Spahn, Laschet und Söder wurde eines mit Merkel und Laschet. Die Ereignisse hatten sich, wie es scheint, dramatisch verändert.

"Machtverfall" beginnt mit dem 16. März 2017, dem Tag, an dem Angela Merkel Donald Trump das erste Mal besucht. Sie hatte sich akribisch vorbereitet. Im November 2016, knapp drei Wochen nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl, aus der Trump als Sieger hervorging, gab Merkel ihre erneute Kandidatur bekannt. Die Geschichte, so Alexander pathetisch, ließ ihr keine andere Wahl. (Immerhin, so denkt sich der Leser, ist es kein "Mantel der Geschichte".) Die Weltpresse und Barack Obama hatten sie bestärkt. Zwar ist ihre Gesundheit angeschlagen, die "Seele…strapaziert", aber sie fügt sich einer Mischung aus Pflicht und Opfer.

Aus der "historischen Mission" als letzte Sachwalterin der freien Welt wurde die Regierungschefin, die aufgrund einer Pandemie vier Jahre später zwar die größter Machtfülle aller Kanzler auf sich vereinigen konnte, aber doch irgendwie das Gefühl vermittelte, gescheitert zu sein. Das Wort vom "Staatsversagen" taucht auf Seite 20 auf. Eben war man noch bei Merkels umjubelter Rede vor Studenten in Cambridge. Zwei Jahre später schlägt sich eine Kanzlerin mit 16 Ministerpräsidenten herum und diskutiert, wie viele Menschen sich wann in einem Innenraum treffen dürfen. In Anspielung auf Söders Äußerung gegenüber Olaf Scholz spricht Alexander vom "Schlumpfhausen". Wie ist der Absturz der Union zu erklären? Warum haben inzwischen sogar die Unions-Anhänger das Gefühl, dass die Pandemie mehr als deutlich zeigt, wie schlecht dieses Land regiert wurde?

Nachfolgerinnen

Das Zentrum der Rekonstruktionen des Buches liegt zwischen dem Herbst 2018 und der Kanzlerkandidatenkür der Union im April 2021. Merkels letzte Kanzlerschaft sollte nicht nur ein Gegenpol zu Trump werden, sondern auch ihre Nachfolge vorbereiten. Der Höhepunkt war dann die EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020. Alexander weist zwar darauf hin, dass Merkel von einer Art "Erbmonarchie" nichts hält. Dennoch hat sie klare Vorstellungen, wer für diese Position geeignet ist. Ihre Nachfolge sollte eine Frau übernehmen. Merkels Favoritin war Ursula von der Leyen. Die hält sich bedeckt. Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK genannt), die Ministerpräsidentin des Saarlands, ist ebenfalls nicht frei von Ambitionen. Sie stuft Merkels "Zeitgeistpolitik" (R. A.) als zu progressiv ein. Nach der Wahl 2017 bietet Merkel Kramp-Karrenbauer dennoch einen Platz im Kabinett an. Von der Leyen sitzt dort schon; sie bleibt Verteidigungsministerin. Die Saarländerin lehnt überraschend ab, entschließt sich, als Generalsekretärin anzutreten. Dieser Wunsch ist, wie Alexander erläutert, ungewöhnlich, weil der Verzicht auf das Ministerpräsidentenamt hin zu einem Parteiamt nicht zuletzt finanzielle Einbußen bringt. Aber Kramp-Karrenbauer will die Partei programmatisch neu ausrichten, was im Kabinett schwieriger wäre. Aber auch so scheint das Verhältnis früh nicht ungetrübt zu sein. Nach der Schlappe der Landtagswahl in Hessen 2018 lässt Merkel ihre Generalsekretärin bei "Anne Will" am Sonntag noch sagen, dass sie gedenkt, Parteivorsitzende zu bleiben, um dann einen Tag später zu erklären, dass sie nicht mehr auf dem Parteitag kandidiere.

AKK ergreift die Initiative und wirft ihren Hut in den Ring. Als Friedrich Merz und Jens Spahn ebenfalls kandidieren, ist klar, wen Merkel unterstützt. Spahn hatte sie nur widerwillig ins Kabinett geholt; mit ihm sollten die konservativen Kräfte in der Union, die unter anderem Merkels Flüchtlingspolitik kritisch sahen, eingebunden werden. Merz ist ihr Intimfeind. Er soll in jedem Fall verhindert werden. Kramp-Karrenbauer gewann auf dem Parteitag im Dezember 2018 die Stichwahl gegen Merz und begann "eine ausgedehnte Tournee durch Hunderte CDU-Ortsvereine", ihre "Zuhörtour". Sie will wie einst Heiner Geißler aus einer "Honoratiorenpartei" eine "streitende, lebendige politische Kraft" mit scharfem Profil machen. Sie vergisst, das Geißler irgendwann bei Kohl in Ungnade fiel. Und Angela Merkel beäugte die Bemühungen zu einer Rückkehr der CDU als konservative Partei ebenfalls mit Argwohn. Sie ahnt, dass AKK mit dem vorzeitigen Ende der Großen Koalition rechnet. Zu stark scheint der Einfluss der Linken in der SPD zum Austritt aus dem ungeliebten Bündnis zu sein. Dann würde sie als Parteivorsitzende fast automatisch Kanzlerkandidatin. Merkel will jedoch die Große Koalition um, wie sich später herausstellt, wirklich jeden Preis erhalten. Geschickt arrangiert sie sich beispielsweise mit der eigentlich skeptischen neuen SPD-Co-Vorsitzenden Saskia Esken. Merkel sorgt sich, so legen Alexanders Ausführungen nahe, um ihre Mission und um ihr Bild in der Geschichte. In einem persönlichen Gespräch warnt Merkel AKK vor einer Revolte. Diese gibt nach; in einem Interview unterwirft sie sich der Kanzlerin.

Abstieg, Überforderung – und ein letzter Coup

Anfang 2019 steht AKK in der Partei dennoch auf dem Höhepunkt ihres Ansehens. Die Tournee ist ein Erfolg, mobilisiert die über Jahre eingeschläferte Basis, die Merkel nie interessiert hatte. Dann kommt ein Karnevalsauftritt von AKK als Putzfrau mit frechem Mundwerk und ein Witz über Toiletten des Dritten Geschlechts. Von da an ging es bergab. Alexander listet den Absturz Punkt für Punkt auf: Der Shitstorm, weil sie den "Gesslerhut der politischen Korrektheit" ignorierte, Ziemiaks Greta-Tweet (der Merkel verärgerte), Rezo-"Zerstörungsvideo" nebst der unsouveränen Behandlung, Laschets Sticheleien (er ist Merkelianer). Alexander erkennt in Kramp-Karrenbauers Scheitern Parallelen zu Kurt Becks Episode als SPD-Vorsitzender. Der war einst in der Provinz ein kluger Ministerpräsident, aber im Haifischbecken Berlin schnell aufgerieben.

Als Merkel nach der Europawahl ihre Verteidigungsministerin nach Brüssel "verliert" (die genauen Umstände wie dies eingefädelt und warum der EVP-Kandidat Weber ausgebootet wurde, werden ebenfalls erläutert, inklusive Ziemiaks Reise zu Kaczyński), steht Jens Spahn, bisher Gesundheitsminister, vor der Beförderung. Merkel möchte ihn belohnen für seine fleißige Gesetzesarbeit und das bei allen Gegensätzen trotzdem loyale Verhalten. Plötzlich drängt Kramp-Karrenbauer doch noch ins Kabinett. Strategisch ist dieser Schritt unverständlich, weil sie sich als Vorsitzende der Kanzlerin nun in der Regierung unterzuordnen hat.     

Die Differenzen sind auch in der Öffentlichkeit nicht mehr zu verbergen. Etwa als Merkel und Kramp-Karrenbauer in getrennten Maschinen in die USA fliegen. Das Verhältnis der beiden Frauen ist zerrüttet. Die ultimative Demütigung erfährt AKK in der Abwicklung der Regierungskrise in Thüringen. Dort hatte die CDU bei der Wahl des Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD einen FDP-Mann gewählt. Die Beschlusslage der Partei ist eindeutig: Man stimmt nicht mit AfD. Aber – und das macht es kompliziert – man stimmt auch nicht für einen Kandidaten der Linken. Kramp-Karrenbauer zögert mit der Fahrt nach Erfurt, um den abtrünnigen Vorsitzenden Mohring zu maßregeln. Die beiden treffen sich zunächst auf "neutralem" Boden an einer Autobahnraststätte (der Leser denkt sich, dass man einen Film, in dem so etwas erzählt wird, als unrealistisch ablehnen würde). Als Mohring AKK zusichert, dass die Fraktion Neuwahlen zustimme, kommt sie nach Erfurt. Dort stellt sie das Gegenteil fest: empörte Abgeordnete, die sich jede Einmischung verbitten. "Die Sitzung nimmt Züge einer entgleisenden Familientherapie an", schreibt Alexander kühl.

Die CDU steht unter massivem Beschuss in der Öffentlichkeit. Wie verlässlich ist die Partei in Hinsicht auf eine Nichtzusammenarbeit mit der AfD? Jetzt schaltet sich auch noch die Nicht-mehr-Vorsitzende Angela Merkel aus Südafrika ein. Die Botschaft: Die neue CDU-Vorsitzende ist nicht einmal in der Lage, den aus den Fugen geratenen thüringischen Landesverband auf Linie zu bringen. Die Schilderungen im Buch bestätigen diese Annahme.

Entnervt tritt Kramp-Karrenbauer im 10. Februar 2020 als Vorsitzende zurück. Sie ist den Intrigen und Herabsetzungen nicht mehr gewachsen. Ihren Plan, Kanzlerin zu werden, hat sie aufgegeben. Als sie nichts mehr zu verlieren hat, trifft sie sich 14 Tage später mit fünf stellvertretenden Vorsitzenden - Armin Laschet, Schäubles Schwiegersohn Thomas Strobl, Volker Bouffier, Julia Klöckner und Silvia Breher – und holt zum letzten Schlag aus. Kramp-Karrenbauer glaubte, Signale von Friedrich Merz vernommen zu haben, sich einbinden zu lassen. Der Plan: Merkel soll gezwungen werden, Merz zum Wirtschaftsminister zu machen. Laschet soll dafür CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat werden. Ihr Landsmann Altmaier, der aktuelle Wirtschaftsminister,  wird nicht gefragt. Die sechs sind sich einig. Jetzt nur noch die Zustimmung von Friedrich Merz. Man ruft ihn an – alle hören mit. Das Resultat ist ernüchternd: Merz lehnt sofort ab. Der Plan scheitert. Allen wird schlagartig klar: Merz geht es weder um die Partei noch um Gestaltung von Politik. Es geht um private Rache an Angela Merkel für 2002, als sie Merz als Fraktionsvorsitzenden ausschaltete. Dies wird sich elf Monate später bestätigen, als der gewählte Vorsitzende Laschet Merz anbietet, ins Präsidium gewählt zu werden. Auch jetzt lehnt er ab - er will Wirtschaftsminister werden.

Merkels Lehrling

Pandemiebedingt bleibt AKK noch elf Monate kommissarisch im Amt. Die CDU taumelt in diesem Interregnum, was mehr als deutlich wird. Liegt hierin die Ursache für den Machtverfall? Ob Armin Laschet oder Markus Söder, Friedrich Merz oder Norbert Röttgen: Niemand kommt gut dabei weg. Es zeigt sich, dass es sich bei den Spitzenleuten der Union um eine intrigante, opportunistische und machtversessene Truppe handelt. Markus Söder, vor zwei Jahren noch scharfer Kritiker der Kanzlerin, der sogar ein Auseinanderfallen der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU riskierte, buhlt um sie jetzt. Ursache sei, so wird verbreitet, ein "politischen Nahtoderlebnis". Interessant, dass Alexander gleich drei verschiedene, nicht miteinander konvertierbare Versionen dieses "Erlebnisses" nennt.

Der Kampf von Söder um die Kanzlerkandidatur beginnt, so legt es Alexander nah, bei einer Tagung der Unionspitzen in Dresden am 26. August 2019. AKK ist noch Vorsitzende, aber Laschet und Söder nehmen sie nicht ernst. Nach außen beruhigen sie sich gegenseitig: Nein, sie wollen nicht Kanzlerkandidat werden. NRW bzw. Bayern sind doch so schön. Der Unsicherheitsfaktor ist Merz – der eine möchte ihn einbinden, der andere lehnt dies ab.

Zum ersten Mal tritt der Kanzler der Bundesrepublik nicht mehr zur Wahl an. Was macht man mit den Merkel-Wählern, das sie nicht zu den Grünen abwandern oder zu Hause bleiben? Wie "geht" Kanzler? Die Pandemie eröffnet für Söder überraschende Möglichkeiten. Er sucht die Nähe von Merkel, wird während der unzähligen Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten zu ihrem "Lehrling", inszeniert sich als Nachfolger. Er empfängt im Juli 2020 die Kanzlerin wie eine Königin am Schloss Herrenchiemsee. Und in Bayern macht Söder den Grünen Avancen.

Armin Laschet, der Merkel in der Flüchtlingspolitik beistand, agiert hingegen eher zurückhaltend. Er unterschätzt lange Zeit das Ausmaß der Pandemie, delegiert Entscheidungen an andere, zögert, beruhigt; entscheidet nicht gerne schnell. Als Berater holt er sich neben einem Virologen (Henrik Streeck) auch andere Wissenschaftler ins Team. Als alle die Grenzen schließen, lässt Laschet sie zu den Niederlanden geöffnet.

Ausgerechnet der Mann, den er zwei Mal erfolgreich bekämpfte, wird Söders Verbündeter: Innenminister Horst Seehofer. Auch er ist alarmiert; ein Papier aus seinem Ministerium malt die düstersten Szenarien, sollte man nicht eingreifen. Kanzleramtsminister Helge Braun, selber Arzt, ist ebenso besorgt. Aber Söder versteht sich von Anfang an als Taktgeber, macht den Musterschüler, prescht als "Team Vorsicht" vor. Winfried Kretschmann, der für die Kanzlerin während der Flüchtlingskrise betete, schließt sich Söder an. Laschet tappt von einem Fettnäpfchen ins Andere. Dabei sind die Zahlen in Bayern und NRW lange gleich – gleich schlecht. Aber die Presse ist auf Seiten von Söder.

Zu Beginn zögert auch Merkel: Kann das Problem mit einer "Durchseuchung" (später findet man den freundlicheren Begriff "Herdenimmunität") gelöst werden? Die Hochrechnungen sagen etwas anderes. Es gäbe weder genug Intensivbetten noch ausreichend Personal, um die mögliche Zahl der Schwerstkranken behandeln zu können. Das Gesundheitssystem wäre überlastet und würde irgendwann zusammenbrechen. Die "Triage" droht dann – Ärzte entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Schnell entschließt man sich zum "Lockdown" – und es ist Söder, der Vorreiter ist und in Bayern schon mal etwas früher damit anfängt. Merkel begrüßt Söders offensives Engagement.

Als im Winter 2020 die 2. Welle und kurz darauf eine neue, zunächst als tödlicher und aggressiver eingestufte Mutation droht, liebäugeln Söder und Merkel zwischenzeitlich sogar mit der "No Covid"-Strategie, die strenge Lockdowns und lokale Zonen mit Zugangsbeschränkungen vorsieht. In der Ministerpräsidentenkonferenz, die im Grundgesetz nicht vorkommt und nun über massive Grundrechtseinschränkungen berät, wird heftig darüber diskutiert. In einigen Bundesländern ist die neue Welle noch nicht angekommen. Hier reagiert man ablehnend. Die Virologinnen, die den Ministerpräsidenten das "No Covid"-Projekt vorstellen, seien aggressiv und "respektlos" gegenüber der Politik vorgeprescht, so Alexander.

Besonders Laschet will davon nichts wissen. Als Merkels Osterlockdown-Pläne 2021 scheitern, triumphiert er im Stillen, denn er war in diese Entscheidung nicht eingebunden; er wartete Stunden auf Bescheid aus Berlin und stimmte dann übermüdet und widerwillig zu. Jetzt greift er auf ein Papier von Jens Spahn zurück, das einen "Brückenlockdown" vorsieht. Aber auch hier gelingt Laschet keine Profilierung – in den sozialen Netzwerken wird er dafür verspottet. Dass die Spötter häufig diejenigen sind, die ökonomisch am wenigsten unter Lockdowns zu leiden haben, geht dabei häufig unter.

"Besessen vom Corona-Virus"

Angela Merkel wird von Alexander zwar als machtbewusst, aber schwach beschrieben; auch physisch. Da ist die Vorsicht, mit der sie ihre Masken handhabt (die sie anfangs ablehnte, weil die Leute dann keinen Abstand mehr einhalten würden) und regelmäßig austauscht. Söder hingegen inszeniert das öffentlich. Merkel hat Angst. Wenige Monate vor der Ausbreitung der Pandemie war sie noch in Wuhan auf Staatsbesuch. Sie ist "besessen vom Corona-Virus" und gefangen von den Modellierungen und Urteilen der Virologen, die bisweilen rasch ihre Schlussfolgerungen ändern oder so schwammig formulieren, dass die Politik sich am Ende schwerlich auf sie berufen kann. Konkretes gibt es kaum. Wie Söder lehnt es Merkel lange ab, sich von Wissenschaftlern aus anderen Bereichen beraten zu lassen. Auch bei den Virologen werden Außenseiter kaum gehört.

Merkwürdig genug, dass es dabei kaum Kritik an Merkel gibt. Während es bei den Grünen ein Kalkül ist, versagen hier insbesondere die Medien. Desaströse Impfstoffbeschaffung? Die überdimensionierten und teuren Impfzentren, die Alexander "potemkinsche Dörfer" nennt? Fehlende Tests? Eine nicht funktionierende App? Die im Februar noch nicht ausbezahlten "Novemberhilfen"? Fehlende Einreisekontrollen im Herbst 2020? Überall ist Merkel als Regierungschefin letztzuständig. Aber ausgerechnet sie wird geschont, ja als "Opfer" der starrsinnigen Ministerpräsidenten gesehen.

Als Spahn sah, dass die EU mit dem Einkauf der Impfstoffe zögerte bzw. andere, weltweite Projekte verfolgte und die Osteuropäer blockierten, schmiedete er mit Frankreich, Italien und den Niederlanden einen Pakt, die Vakzine auf Viererebene einzukaufen. Merkel unterband das – sie mussten dies in einem demütigen Brief an die Kommission anerkennen. Der Bundeskanzlerin ist das politische Signal wichtiger als die Versorgung. Sie will keinen "Impfnationalismus". Es wirkt nach, als man im März 2020 kurzzeitig die Maskenexporte aussetzte – ausgerechnet in dem Moment, als Italien und Frankreich dringend darauf angewiesen waren. 

Auf den ersten Seiten dachte man, Robin Alexander schreibt eine Eloge auf Angela Merkel. Dann wechselt er in seinen Berichtsstil, dessen Duktus bisweilen an den Jargon des "Spiegel" aus den 1990er Jahren erinnert. Selten geht es um Grundsätzliches, wie beispielsweise Merkels Politikstil. Für sie "ist Politik ein Funktionssystem der modernen Gesellschaft neben anderen. In ihrem Sinne fällt eine Kanzlerin Entscheidungen – so wie eben ein Wissenschaftler forscht, ein Arzt operiert, ein Bankvorstand Kredite vergibt. Als Profi unter Profis versteht sie sich, nicht als Identifikationsfigur einer Gemeinschaft." Direkte Ansprachen meidet sie (die langweiligen Neujahrsansprachen sind ungeliebte Pflichtaufgaben). Bisweilen lässt sie sich von Anne Will einladen.

Zu Monika Grütters und Anette Schavan unterhält sie ein freundschaftliches Verhältnis. Im alltäglichen Geschäft vertraut sie ihrer Bürochefin Beate Baumann und dem Regierungssprecher Steffen Seibert. Sie pflege, so Alexander, ein "sozialdarwinistisches Verständnis von Politik": "Wer sich im Kampf um höchste Ämter nicht durchbeißen kann, hat sie ihrer Meinung nach auch nicht verdient. 'Ich bringe Leute in Position', hat die Kanzlerin Jens Spahn einmal gesagt. 'Laufen müssen sie selber'." Im Gegenzug verlangt sie Loyalität. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten zu Helmut Kohl. Ein großer Unterschied: die Partei hat Merkel nie besonders gepflegt. Es genügte ihr, dass sie regelmäßig wiedergewählt wurde. Im Gegensatz zu Kohl brauchte sie sich allerdings nie in der Partei hochzuarbeiten. "Alle wesentlichen Entscheidungen Merkels […] sind gegen das christdemokratische Bauchgefühl getroffen worden und widersprechen dazu noch dem Parteiprogramm", so Alexander. Liegt hierin der Grund für die Orientierungslosigkeit der Union?

Alexander verortet Merkels "innen- und wirtschaftspolitischen Wendungen" als "legendär". Aber auch außenpolitisch hat die Kanzlerin im Laufe ihrer Amtszeit Positionen dramatisch revidiert." Sie begann als Transatlantikern und vertrat eine "werteorientierte Außenpolitik", unter anderem auch zu China. Sie empfing 2007 den Dalai Lama im Kanzleramt in Berlin. Proteste konterte sie trotzig: "Ich entscheide selbst, wen ich empfange und wo." Nach der Finanzkrise 2008/2009 änderte sie ihre Schwerpunkte. Sie pflegte jetzt ausgiebig die Wirtschaftsbeziehungen zum Reich der Mitte. Die Folge: "Die enorme chinesische Nachfrage nach Maschinen und ­Autos aus der Bundesrepublik [befeuerte] das deutsche Wachstum" und "ermöglichte Merkel zehn goldene Jahre, in denen Steuereinnahmen sprudelten und die Arbeitslosigkeit sank. Die Kanzlerin hat diese Entwicklung politisch flankiert, indem sie Deutschland aus Handelskonflikten anderer westlicher Staaten mit China heraushielt." Am Ende wird sie in ihrer Amtszeit dreizehn Mal China besucht haben; mehr als die USA oder Russland.

Derartige Seitenblicke bleiben die Ausnahme. "Machtverfall" ist kein Buch über die sechzehnjährige Kanzlerschaft Merkels. Alexander fokussiert sich auf die Entwicklungen zur Nachfolge innerhalb der Union. Zwei Ausnahmen gibt es. Zum einen schiebt er ein Kapitel über die Grünen ein (hier wird aus der Assistenz vom taz-Korrespondenten Peter Unfried kein Hehl gemacht). Und schließlich beschäftigt er sich mit der SPD und deren "Casting" zur Besetzung des Parteivorsitzes im Dezember 2019. Besonders dieses Kapitel hat Helmut-Dietl-Potential. Aber leider ist es keine Posse, sondern das Agieren einer aktuellen Regierungspartei. Passend dazu Alexanders kleine Charakterstudie zu Olaf Scholz, dem Kanzlerkandidaten der SPD, der mit der unausgesprochenen Devise "Ich mach euch den Merkel" ins Rennen zu gehen scheint. "Wäre Scholz eine Frau, würde er wahrscheinlich auch Merkels Hosenanzüge übernehmen."

Das Kapitel über die Grünen enttäuscht, was vermutlich daran liegt, dass es hier keine Insiderinformationen zu verarbeiten gibt. Es ist schon auffällig, dass eine Partei, die einst unter anderem mit größtmöglicher Transparenz angetreten war, die Besetzung des Kanzlerkandidaten unter sich auskungelt und die Medien dies als "störungsfrei" auch noch goutieren. Selbst Robin Alexander fällt auf, wie beflissen sich manche JournalistInnen in den Dienst der grünen Sache stellen, wie beispielsweise Tina Hassel. Wie Baerbock und Habeck, deren Eintracht mindestens zu Beginn ein Mythos darstellt, die in "Fundis" und "Realos" gespaltene Partei befriedet haben, bleibt trotz einiger Erklärungsversuche (gemeinsames Büro; "Grundsatzabteilung"; Habecks Zurückhaltung) eher unklar.

Am Anfang bestand die Gefahr, dass Teile der Grünen die Corona-Pandemie als Beginn der Überwindung des kapitalistischen Systems instrumentalisieren könnten. Alexander zitiert Ralf Fücks, den langjährigen Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, der die Partei aufrüttelte und eindringlich davor warnte. Dann wiederum überlegte man, während der Pandemie als Anwalt der Grundrechte aufzutreten. Aber das hätte Opposition zu Angela Merkel bedeutet, was den Interessen der Führung widerspricht. Alexander erwähnt noch Baerbocks auffallend hohen Anteil an Stimmenthaltungen im Bundestag zu nahezu allen wichtigen Gesetzesmaßnahmen der Regierung. "Enthaltung statt Haltung"? Kann jemand, der nicht eindeutig Farbe bekennt, Kanzler werden? Der Autor vergisst, dass es sich bei diesem Abstimmungsverhalten sicherlich um eine taktische Maßnahme handelt. Und die Fraktion macht – bis auf seltene Ausnahmen – brav mit.

"Möchtegernheiland" gegen Zauderer

Die letzten 150 Seiten bilden das furiose Finale: Söder gegen Laschet, ein "Möchtegernheiland" mit "Schmutzeleien" gegen das "Weichei", den Zauderer. Alexander bietet alles auf: Drama, Intrigen, Pokerspiele. Wer wählt den Kanzlerkandidaten in der Union? Ein fest geschriebenes Verfahren gibt es nicht. Und was passiert, wenn man sich nicht einigen kann? Ein gefundenes Fressen für die Medien; Indiskretionen über Twitter (schon bekannt von den Ministerpräsidentenkonferenzen). Zwischenzeitlich sieht es sogar einmal nach einem Kompromisskandidaten in Form von Ralph Brinkhaus, dem Unionsfraktionsvorsitzenden, aus. Söder wischt das vom Tisch. Am Ende schaltet sich Wolfgang Schäuble ein – der Mann, der Laschet nicht wollte, sondern Merz. Auch er kann die Streithähne nicht zu einer einheitlichen Lösung überreden. Schließlich gibt es doch eine Abstimmung, wobei zunächst nur darüber abgestimmt wird, wie man abstimmt und wer überhaupt abstimmen darf. Schon dieses Prozedere überfordert einige Teilnehmer, etwa wenn sie Berechtigungsmails aus dem Spam-Ordner fischen sollen, diesen aber nicht finden. Schließlich steht fest: Laschet wird zum Kanzlerkandidaten gewählt. 31 Stimmen für ihn. 9 Stimmen für Söder. 6 Enthaltungen. Darunter auch Angela Merkel, die während der gesamten Diskussion kein Wort sprach. Laschet hat nicht einmal die Unterstützung der Kanzlerin.

Hier endet das Buch. Es ist Ende Mai 2021 und bis zur Bundestagswahl sind es noch knapp vier Monate. Die Regierungspartei CDU hat noch nicht einmal ein Wahlprogramm verabschiedet. Stattdessen häufen sich in CDU und CSU Korruptionsvorwürfe und Ungereimtheiten. Droht der CDU das Schicksal anderer konservativer Parteien in Europa? Angela Merkel, die scheidende Kanzlerin, war lange der "kleinste, gemeinsame Nenner einer entpolitisierten, risikoscheuen Gesellschaft". Sehen wir jetzt das Resultat?

Die Lektüre von "Machtverfall" birgt ein großes Risiko. Zunächst möchte man sich danach von der aktuellen Politik eigentlich abwenden. Aber man darf nicht vergessen, dass die geschilderten Kabale, die Machtbesessenheit und auch Konfusion nicht nur Merkmale der aktuellen Politik sind. Wie war beispielsweise die Situation 1974 in der sozial-liberalen Koalition vor dem Rücktritt Brandts? Oder die Wende der FDP 1982 hin zu Helmut Kohl. Später dann Kohls Vorgehen während der Wiedervereinigung. Diese Zusammenhänge hat man auch erfahren und auch hier ging es nicht zimperlich zu. Allerdings, und das ist der Unterschied: die Informationen erreichten einem erst Jahre oder Jahrzehnte später. Und zumeist aus unterschiedlichen Quellen – von den Akteuren selber, von ehemaligen Mitarbeitern oder von Biographen. Bisweilen divergierende Deutungen konnten durch den zeitlichen Abstand entsprechend bewertet werden.

Hingegen erlebt man die Erosion der Union mit Alexanders Buch praktisch in Echtzeit. Hinzu kommt die Verunsicherung in diesen Pandemie-Zeiten. Es macht kein Vergnügen zu lesen, dass die führenden Politiker des Landes mehr mit dem Abstecken ihrer eigenen Claims beschäftigt sind als mit der Sorge um das Gemeinwesen Bundesrepublik. Es ist die Unmittelbarkeit, die schockiert. Schon klar: Es bedarf eines großen Vertrauensvorschusses an  Robin Alexander. Er wird aus mehreren Quellen seine Informationen haben – die er natürlich nicht nennt. Ihm obliegt es nun diese miteinander in ein schlüssiges Bild zu überführen und gegebenenfalls richtig von falsch zu scheiden.

Wie schon in "Die Getriebenen" versucht Alexander nicht, den Leser in eine Deutung zu überführen. Er bleibt auch jetzt fast immer Berichterstatter, Augen- und Ohrenzeuge. Schon jetzt dürfte "Machtverfall" ein Steinbruch für spätere, weitergehende Auseinandersetzungen mit der Politik der letzten Jahre in Deutschland. Für den Politikinteressierten ist es fast eine Pflichtlektüre.

Artikel online seit 30.05.21
 

Robin Alexander
Machtverfall
Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report
Siedler
384 Seiten
22,00 €
978-3-8275-0141-7

 

 


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