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Meine Jahre mit Willy Brandt

Lothar Struck
über die uneitlen Erinnerungen des Persönlichen Referenten von Willy Brandt im Kanzleramt, Reinhard Wilke.
 

Dr. jur. Reinhard Wilke, Jahrgang 1929 (er starb im vergangenen Jahr), war von 1960-1966 Richter am Verwaltungsgericht Köln und 1970 Referent im Bundesjustizministerium. Horst Ehmke, damals Chef des Bundeskanzleramts, bot ihm 1970 die Position des Persönlichen Referenten von Willy Brandt im Kanzleramt an. Als Büroleiter würde er zweifellos einen Karrieresprung machen, vor allem reizte es aber für einen Mann wie Willy Brandt zu arbeiten, den er wie keinen anderen Politiker verehrte. Wilke nahm an und wurde von Sommer 1970 an zunächst Vertreter des Persönlichen Referenten. Zwei Abteilungen mussten noch zusammengelegt und die aktuellen Stelleninhaber auf andere Positionen verbracht werden. Was für ein mörderischer Job schrieb Wilke schon nach einigen Wochen; den ruhigen Referatsposten gab er zu Gunsten eines hektischen Arbeitsplatzes auf. In den nächsten vier Jahre sollten ihn Intrigen, Einmischungen, Kompetenzgerangel, persönliche Animositäten und Empfindlichkeiten aus der Umgebung des Apparates nicht mehr verlassen. Während der Lektüre dieses Buches hat man das Gefühl, dass das "friendly fire" oft schlimmer war als die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner.

"Meine Jahre mit Willy Brandt" protokolliert vor allem die Zeit von 1970 bis 1974 sehr ausführlich. Auf lediglich drei Seiten beschäftigt sich Wilke mit seiner Arbeit als Büroleiter für den "einfachen" Abgeordneten Brandt von 1974-1976. Danach ging er zu Katharina Focke ins Familienministerium und nahm dort eine Abteilungsleiterposition an.

Mit Erläuterungen zu Struktur und Gliederung des Bundeskanzleramts hält sich Wilke nicht lange auf. Zumindest gewisse Grundkenntnisse der Infrastruktur und Organisationselemente einer solchen Behörde werden vorausgesetzt; auch die Hauptakteure der damaligen Politik sollten einigermaßen bekannt sein.(*) Bescheiden heißt es, dass die Aufzeichnungen nur ein Mosaikstein im Gesamtbild von Person und Wirken Willy Brandts darstellen. Interessant am Rande, dass er in seinem Vorwort ausdrücklich betont, Brandt nicht als Denkmal verehrt, sondern als Menschen erlebt und geachtet zu haben, während zu Beginn seiner chronologischen (nicht laufend datierten) Aufzeichnungen von einer Verehrung zu Brandt durchaus die Rede und sogar Anlass für die Übernahme dieser Position ist. Mag sein, dass sich in der Arbeit und durch die zeitliche Distanz dieses Urteil verändert hat, was sich auch in der Vorbemerkung zeigt er habe die damaligen Jahre aus größter Nähe zu Willy Brandt erlebt und manchmal erlitten.

Staubtrocken und uneitel

Tatsächlich bietet Wilke oberflächlich betrachtet nichts Sensationelles. Viele Begebenheiten sind in anderen Memoiren-Büchern längst berichtet oder verklärt worden. Einiges hat man in anderer Erinnerung (beispielsweise die Mitteilung zum Friedensnobelpreis, die Wilke Brandt überbracht haben will, während man sich an die Unterbrechung der Bundestagssitzung erinnert, als Kai-Uwe von Hassel die Nachricht aus Oslo vorliest). Auch im historisch-wissenschaftlichem Kontext wurde das Bundeskanzleramt unter Willy Brandt eingehend analysiert (u. a. bei Thomas Knoll in seinem Buch "Das Bonner Bundeskanzleramt", Seite 173ff; bzw. Seite 178ff.) Allenfalls einige rustikale Äußerungen Brandts über andere Politiker dürften so noch nicht bekannt gewesen sein. Ulrich Wickert betont in einem kurzen Vorwort, dass er Wilke ermutigt hat, diese Ausfälle nicht zu streichen – mit Erfolg. Brandt nannte im kleinen Kreis Günter Grass einen Besserwisser (und ging, wenn möglich, Grass immer aus dem Weg) und bezeichnet den damaligen Verteidigungsminister Georg Leber einen netten Kerl, aber politisch einen Schafskopf. (Die Attribute zu Hans-Dietrich Genscher und Helmut Schmidt soll der geneigte Leser selber nachleen.) Und einmal soll Brandt sein Büro mit der Bemerkung "Ich kann dieses Scheißhaus nicht mehr sehen" verlassen haben (nach Guillaume, wie Wilke schreibt).

Trotzdem ist das weder ein "Enthüllungsbuch" noch werden die ach so goldenen SPD-Zeiten verklärt oder nachträglich diskreditiert. Wilke ist einerseits das, was man einen staubtrockenen Beamten nennt. Die Passagen aus seinen unmittelbaren, zeitnahen Notizen sind sehr präzise in unprätentiösem Stil geschrieben. Andererseits würzt er diese Eindrücke mit scharfen, manchmal drastischen persönlichen Urteilen, die im Einzelfall durchaus das Zeug haben, Kratzer auf einigen Denkmälern zu hinterlassen. Dabei ist es von großem Vorteil, dass wir das Buch eines Autors lesen, der im Gegensatz zu vielen Memoirenschreibern, die oft genug auf ihre (vermeintliche) historische Bedeutung zielen und daher die Ereignisse gerne auch einmal in ihrem Sinne zurechtbiegen, vollkommen uneitel ob seiner eigenen Person ist. 

Dabei bleibt seine Ergebenheit zu Willy Brandt immer Dreh- und Angelpunkt des Handelns und auch des Buches. Wilke übt zwar Kritik am allzu laxen Führungsstil des Bundeskanzlers, lässt jedoch nie einen Zweifel an seiner Loyalität, die, so scheint es, auch heute noch andauert. Dennoch geht er in den Beschreibungen von Brandts gesundheitlicher Verfassung deutlich weiter als beispielsweise Egon Bahr in seinem Buch "Zu meiner Zeit" von 1996. Lediglich über die angeblichen "Frauenkontakte" Brandts, die in der sogenannte[n] Guillaume-Affäre eine Rolle gespielt haben (Wilke erwähnt die Nollau-Notiz, die von Klaus Kinkel, damals Genschers Persönlicher Referent überbracht wurde), schweigt auch er. Kurz nach Brandts Rücktritt als Kanzler schrieb Klaus Harpprecht an Wilke, dieser wäre "auf eine (ich sage es respektvoll) 'beamtenhafte' Bindung an die 'Sache'" ausgerichtet gewesen. Eine gespreizte, aber zutreffende Charaktersierung Wilkes, denn nach dem Rücktritt setzte sich die Entourage von ihrer Lichtgestalt ab, denn schließlich galt es, neue Machtpflöcke einzuschlagen. Nur sehr wenige standen Brandt in diesem kurzen Interregnum (Rücktritt als Bundeskanzler, aber noch kein neuer Kanzler) zur Seite; Harpprecht und Wilke gehörten – bei allen Differenzen – dazu.

Zeitreisen in die 70er

Es ist während der Lektüre nicht immer ganz eindeutig, ob das gerade Gelesene unmittelbar aus seinen tagebuchartigen, zeitnahen Aufzeichnungen stammt oder aus den von Wilke in den 80er Jahren zusammengestellten Reflexionen (die er "Aufzeichnungen" nennt). Manchmal hat er sein "Tagebuch" für längere Zeit unterbrochen (beispielsweise von Juli 1970 bis 19.11.1972, dem Tag der Bundestagswahl und auch von Ende 1973 bis Mai 1974) und behilft sich mit Erinnerungen. Die "Aufzeichnungen" erscheinen meist in kursiver Schrift, wobei unklar bleibt, ob es sich bei einigen dieser Kursivsetzungen auch um aktuellere Bewertungen handelt. Immer wieder konzediert er, sich im Überschwang der Ereignisse auch geirrt zu haben und korrigiert sich selber. Er betont, dass es sich bei den Urteilen um eigene Einschätzungen handelt, die nicht unbedingt allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Schon im Vorwort ist von der sehr subjektive[n] Darstellung[en] eines Beamten, der – vermutlich berechtigtes Understatement - nicht zu den Hauptakteuren des politischen Geschehens gehörte die Rede.

Dennoch ist man schon nach wenigen Seiten gefangen von diesem Sog, der hier entsteht. Verblüffend, wie die eher protokollarische Sprache Wilkes zu Zeitreisen im Kopf verführt; die Protagonisten erscheinen sofort vor dem geistigen Auge und Ereignisse und Koinzidenzen werden wiederbelebt (das gescheiterte Misstrauensvotum; die vergiftete Atmosphäre im Parlament; Ölkrise; der Streik im öffentlichen Dienst). Dabei darf die Nüchternheit, mit der Wilke berichtet nicht mit mangelnder Empathie verwechselt werden: oft genug brodelt es in ihm schon – und mit ihm dann auch plötzlich beim Leser, der sich manchmal neben den Protagonisten stehend wähnt.

Als Wilke ins Bundeskanzleramt (offizielle Abkürzung "BK"; Wilke nennt es BKA, was anfangs zur Verwirrung führen kann) kam, ist Horst Ehmke als ChefBKA Bundesminister für besondere Aufgaben. Schön wird beschrieben, wie Ehmke Brandt abschirmte, in dem er öffentliche Angriffe auf den Kanzler auf sich lenkte. Schon nach wenigen Wochen erkannte Wilke die internen Defizite. Die Scharniere zwischen Bundeskanzleramt, den Ressorts und Fraktion funktionierten nicht. Ehmke war herrisch, konnte schlecht mit Menschen umgehen und fehlte der Sinn für Organisation des Politischen auf unterer Ebene. Immerhin erfährt man auch, dass er ein guter Entertainer war und die besten Witze erzählen konnte.

Chaos, Depression, Eitelkeiten und die "Brandtsche Taktik"
Es gab noch andere Schwachstellen: Conrad Ahlers, Regierungssprecher und Redenschreiber, dessen Entwürfe jedoch oft zu spät kamen oder fachlich unbrauchbar waren. Willy Brandt war dann sauer, aber seinem Freund Conny sagte er nichts davon. Indiskretionen waren an der Tagesordnung, der Informationsfluss innerhalb des BK schlecht. Wilke eckte mit seinen administrativ-organisatorischen Vorschlägen an. Für ihn ist Bürokratie eine Form der Arbeits- und Lebenserleichterung. Organisationsfragen sind letztlich Machtfragen, schreibt er, der für diese Erkenntnis wenig Unterstützung fand. Die zahlreichen Berater im Umfeld ließen sich nur widerwillig in eine Organisationsstruktur einbinden. Sie hatten es schlichtweg nicht gelernt.

Sehr schlecht kommt Helmut Schmidt weg, dessen arrogante, herablassende Art ihn früh abstieß. Wenn in Kabinettsitzungen "Geheimsachen" verhandelt wurden, verlangte Schmidt (und dies mehrmals, wie betont wird), dass die BK-Mitarbeiter den Raum verlassen sollten: "Schickt die Domestiken raus!". Die fachlichen Leistungen und Schmidts Redetalent stellt er nicht in Abrede. Seine cholerisch-aggressiven Ausfälle schiebt er teilweise einer Schilddrüsenstörung zu. Zu Schmidt als Nachfolger von Brandt findet sich von ihm kein Wort.

Rainer Barzel, der in Wahrheit Brandt verehrt[e] (Wilkes Urteil über Barzel ist vernichtend: er habe einfach kein Format), wagte im Sommer 1972 ein konstruktives Misstrauensvotum. Alle saßen auf gepackten Koffern, aber das Misstrauensvotum scheiterte unverhofft (wenige Monate später sickerte schon durch, dass Ehmke wenigstens eine Stimme "gekauft" haben soll). Brandt hatte jedoch auf Dauer keine sichere Mehrheit im Bundestag und erzwang mit einem parlamentarischen Trick Neuwahlen. Der Wahlkampf war sehr anstrengend, aber die SPD erzielte das bis heute beste Wahlergebnis ihrer Geschichte; die sozial-liberale Koalition war mit einer für ihre Verhältnisse komfortablen Mehrheit ausgestattet worden.

Wer jetzt glaubte, es werde einfacher, täuschte sich. Das Geschacher und Gezerre hinter den Kulissen begann erst recht. Schmidt stellte Forderungen für seine erneute Kabinettsteilnahme; er wollte "Superminister" bleiben (wurde dann "nur" Finanzminister). Scheel mit seinen naßforsch-fröhlichen Frechheiten (die FDP nutzte das Chaos in der SPD weidlich aus; taktisch brillant auch später, als es um die Nachfolge des Bundespräsidenten ging – Scheel wurde es und die FDP behielt dennoch Außen- und Innenministerium). Ehmkes Abgang hinterließ ein Vakuum. Auch Conrad Ahlers demissionierte - genauer: Brandt ließ ihn fallen. Wilke macht interessante Erläuterungen zu Brandts Methode, Menschen abzuschaffen. Aus dem Beschriebenen kann man schlussfolgern, dass man Brandt durchaus auch einen guten Freund "ausreden" konnte, der dann schlichtweg nicht mehr "vorkam". Dabei scheute Brandt die direkte Konfrontation; er hegte eine fast physische Scheu vor Konflikten. Dies zeigte sich insbesondere beim Bruch mit Herbert Wehner 1974: "Ich nehme den Namen dieses Mannes nicht mehr in den Mund. In meiner ganzen politischen Laufbahn hat mir niemand so viel angetan wie er.".

Einher ging die Furcht Brandts, eine Seite durch eine allzu deutliche Festlegung zu verprellen. Die neumodische Vokabel "harmoniesüchtig" trifft es nicht vollständig. Wilke schildert Brandts "bewährten" Modus: Er läßt die Ressortchefs streiten, ohne einzugreifen, beobachtet, wie Fronten und Konflikte sich bilden, unterbricht die Sitzung, bittet zu Einzelgesprächen, danach weiter das alte Spiel. Quälend für den Beobachter, wirksam im Ergebnis. Auf Dauer jedoch für alle Beteiligten extrem nerven- und vor allem zeitaufreibend. Mehrfach versprach Brandt, die Zügel anzuziehen, was dann jedoch unterblieb. Man könne doch erwachsene Menschen nicht maßregeln - so Brandts Ausflucht. Wilke preist dieses Vorgehen rückwirkend als Teil einer Brandtschen Taktik: der/die Störer demontieren sich im Laufe der Zeit selber. Dieses Nichteinmischen funktionierte allerdings nur, wenn Brandt das Heft fest in der Hand hatte und gelassen bleiben konnte. Das geschah jedoch immer seltener.

Von Freunden umzingelt, aber ohne Freund
Es wäre interessant zu erforschen, inwiefern spätere Kanzler Brandts Methode übernommen und verfeinert haben. Vor allem denkt man an Helmut Kohl, der in seiner Kanzlerzeit als "Aussitzer" bezeichnet wurde und an die aktuelle Kanzlerin Angela Merkel, der ebenfalls von den Medien das Etikett des Zauderns zugewiesen wird. Brandts Nachfolger Helmut Schmidt und auch Gerhard Schröder gelten dagegen als sogenannte "Alphatiere", wobei zumindest bei Schröder in dessen Anfangszeit die Bereitschaft zur diskursiven Kanzlerschaft durchaus vorhanden war. Später galt er dann als "Basta"-Kanzler, was insofern bemerkenswert ist, da man dreißig Jahre vorher bei Brandt exakt das Gegenteil monierte. 

Es dauerte Wochen, bis in Günter Grabert ein Nachfolger als Chef des Bundeskanzleramts gefunden war, der jedoch nicht mehr im Range eines Ministers die Behörde leitete, sondern als Parlamentarischer Staatsekretär. Parallel wurde Egon Bahr Minister für besondere Aufgaben. Der Kompetenzwirrwarr war vorprogrammiert, rühmte sich doch Bahr - berechtigterweise - eines besonderen Verhältnisses zu Brandt. Grabert war fleißig und loyal aber chancenlos. Auch er war starken Stimmungsschwankungen ausgeliefert und pflegte einen kooperativen Führungsstil; in dieser Situation eher fatal. Nach nur drei Monaten im Amt schien er schon verbraucht, fasste aber dann wieder Fuß. Monatelang gab es in einzelnen Abteilungen bis in die Leitungsfunktion hinein unbesetzte Positionen. Daneben jedoch zahlreiche informelle Berater, die nicht in die Struktur eingebunden waren. Es gab zu viele Köpfe, aber keinen Koordinator, wie es damals die SZ formulierte. Wibke Bruhns, eine Journalistin, die durchaus dem sozialliberalen Lager zugeneigt war, erregte Aufsehen mit einem Artikel im "Stern" in dem sie hellsichtig schrieb: "Er hat viele Freunde, ob er einen Freund hat, ist nicht bekannt". (Holger Börner bemerkte dazu an Brandt in unerträglich altväterlichem Stil und in Verkennung der Realität: "Hat dieses Mädchen" [Bruhns war damals 35 Jahre alt!] "nicht bedacht, wie ein solcher Bericht gerade durch sie Dich kränken muß, ohne der SPD zu nützen?".)

Brandt war von Freunden umzingelt, die sich direkten Zugang zu "ihrem" Bundeskanzler verschafften und mit der Ministerialbürokratie nichts im Sinn hatten. Immer wieder kreierte man neue Treffen, Gesprächsrunden, Abendessen um die Kommunikation untereinander zu verbessern – und immer wieder blieben entscheidende Köpfe fern oder hielten sich nicht an die Absprachen. Hinzu kamen Brandts gefürchtete Improvisationen in der Öffentlichkeit, bei denen er mühsam gefundene, "offizielle" Sprachregelungen unter Verkennung der zu erwartenden Reaktionen einfach ignorierte und munter drauflos erzählte; "gefundene Fressen" für die Journalisten. Wenig schmeichelhaftes fällr Wilke zu Günter Gaus ein, den er auch als Besserwisser bezeichnet und dessen politische Entwürfe reaktionär waren. Auch an Egon Bahr lässt er kein gutes Haar; er sei ein Geheimniskrämer gewesen, ohne Organisationstalent, setzte sich ständig über Dienstwege hinweg und war unfähig zur Teamarbeit.

Koalitionsverhandlungen 1973: Eine "tragische Komödie"
Sofort nach der erfolgreichen Wahl musste Willy Brandt eine Operation der Stimmbänder vornehmen lassen. Wilke raunt, Brandt sei danach nicht mehr derselbe wie zuvor gewesen; irgendetwas mit der Narkose hätte nicht geklappt. Dem von Zigaretten abhängig[en] Brandt war das Rauchen strengstens verboten, was seine depressiven Schübe noch beförderte. Herbert Wehner hatte einen Brief von Brandt mit wichtigen taktischen Instruktionen für die Koalitionsverhandlungen neun Tage ungelesen in seiner Tasche gelassen und nicht weitergeleitet (Brandt war später der Überzeugung, Wehner habe dies absichtlich gemacht, wofür im Nachhinein betrachtet einiges spricht). Stattdessen trumpfte die FDP auf und setzte etliche ihrer Forderungen - vor allem personeller Art - durch. Eine tragische Komödie nennt Wilke Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung. Als Brandt wiederkam, "regierte" das Chaos. Und wie die Regierungserklärung 1973 zustande kam (das wird detailliert geschildert), ist exemplarisch für den Organisationsgrad der Desorganisation.

Jeder, der Sympathien für Brandt hegte, glaubte, mitreden zu können und zu müssen. Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler, Journalisten - alle stellten ihre "Forderungen". Im Zentrum der Macht, dem Bundeskanzleramt, blühten die Eitelkeiten. Ehmke, der ehemalige BK-Chef, gegen Bahr. Bahr und Gaus gegen Grabert (Bahr blieb den vereinbarten Lagebesprechungen meistens fern). Gaus gegen Harpprecht, der Brandt die Reden schrieb, sich dabei jedoch als Literat sah und Redeentwürfe vorlegte, die vor sentimentale[m] Sozialliberalismus trieften und in nächtelanger Arbeit umgeschrieben werden mussten (bis zum Schluss hatte man für Harpprecht keinen adäquaten Titel gefunden; "Redenschreiber" oder "Chefredenschreiber" gefiel ihm nicht bzw. hätte dann wieder andere brüskiert). Harpprechts Alleingänge, mit denen er alle gegen sich aufbrachte. Ahlers, der ausgebootete Regierungssprecher, schoss publizistisch quer. Außerdem gab es undichte Stellen; viele Interna kamen an die Öffentlichkeit. Zwischenzeitlich glaubte man resignierend, nur die "Frankfurter Rundschau" sei noch "für" sie.

Überall herrschte Unsicherheit und Mißtrauen. Wilke mittendrin - u. a. als Terminkoordinator von Brandt, der sich einerseits über die ganzen Termine beschwerte und dann selber keinen absagte, wenn man ihn direkt ansprach. Für Wilke ist die Sache klar: Der Kardinalfehler war, dass man Ehmke hatte gehenlassen (der als Postminister schwach war).

Die Phasen, in den Brandt lustlos, angewidert oder aufgebracht war, nahmen zu. Selbst fünf Urlaube in einem Jahr halfen nicht (wobei sich in den Urlauben die BK-Mitarbeiter die Klinke in die Hand gaben; hier musste auf Proporz geachtet werden, wer wann nach wem kommt und wieviel Zeit zur Verfügung steht, was Wilke als Besuchskomödie verspottet). Exemplarisch: Nach einem solchen Urlaub kam Brandt zurück und hat Wilke die schlaffe Hand zur Begrüßung gereicht, ohne einen anzusehen. Schon Anfang 1973 sagte Brandt "Wahlkampf war schöner". Die außenpolitischen Pflöcke waren eingeschlagen; die Ostpolitik "lief". Für Ökonomie interessierte sich Brandt wenig, jedoch häuften sich gerade dort die Probleme: Dollarkrise, Ölkrise und der Streik im Öffentlichen Dienst mit einer 15%-Forderung seitens der Gewerkschaften. Wehner appellierte an das soziale Gewissen der Partei. Scheel wurde überheblich, verfiel in Großmannssucht. Das Verhältnis zu Scheel wurde distanzierter. Brandt fürchtete sogar ernsthaft einen Koalitionswechsel der FDP zur CDU/CSU (das passierte erst neun Jahre später). Dem sozial-liberalen Lager war "das Projekt" verloren gegangen; im Sommer 1973 starb auch noch der FDP-Vordenker Karl-Hermann Flach.

Die bereits angesprochenen Urteile Wilkes sind nicht ausschließlich negativ. Karl Ravens, der später Minister unter Helmut Schmidt wurde, attestiert er ein Parsifal-Gemüt. Der Journalist Dagobert Lindlau war ein sehr guter Freund und Antipode zum Klugscheißer Grass in der sozialdemokratischen Wählerinitiative. Gut spricht er auch von Karl Carstens (CDU; später Bundespräsident) und dem späteren SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel; respektvoll über Franz-Josef Strauß (Welch ein Unterschied der geistig-politischen Potenz zu Barzel! Es ist ein Jammer, daß Strauß einen solchen Webfehler im Charakter hat). Wie die SPD mit Friedrich Nowottny umsprang, ist für ihn skandalös. Herbert Wehner wird überraschend positiv gesehen. Wilke bezeichnet ihn als Patrioten, dem von der Opposition aus durchsichtigen Gründen böse mitgespielt wurde. Wehners Ausfälle seien teils auf seine Zuckerkrankheit zurückzuführen gewesen.

Genschers Korrekturen
Verhältnismäßig wenig Raum widmet Wilke der Guillaume-Affäre, die für ihn eine sogenannte Affäre war. Er beklagt seinen Fehler, seinen Stellvertreter Schilling nicht eingeweiht zu haben. Dieser war es, der – vollkommen ahnungslos - die ominösen Fernschreiben mit teilweise als geheim eingestuften Informationen zu Brandts Urlaubsdomizil nach Norwegen schickte, wo Guillaume sie entgegen nahm. Brandt hatte Wilke Ende Mai 1973, also fast zwölf Monate vor Guillaumes Enttarnung über Ermittlungen des Verfassungsschutzes informiert. So wurde es ihm von Genscher (damals Innenminister) mitgeteilt. Dieser habe aber keine konkreten Verdachtsgründe genannt, die über die hinausgingen, die damals bekannt waren: Guillaume kam aus der DDR und wurde seinerzeit routinemäßig überprüft. Eine erneute Überprüfung, als er als Verbindungsmann der SPD zu den Gewerkschaften ernannt wurde, unterblieb jedoch. Ehrenberg und Leber hatten sich für Guillaume eingesetzt, der im Kanzleramt allgemein und bei Wilke speziell unbeliebt war. Ganz Beamter weist Wilke darauf hin, dass Guillaume entgegen der auch heute noch gängigen Sprachreglung nicht Persönlicher Referent Brandts war. Das war er bzw. sein Stellvertreter Schilling. Demzufolge dürfte Guillaume im Büroalltag keine Kenntnis von geheimen Vorgängen bekommen haben. Wilke bezeichnet Guillaume als Intrigant[en], der seinen demonstrativen Antikommunismus wie ein Politkommissar postuliert. Als er bei einem Urlaub von Brandt nicht als Begleitung eingeteilt war, nahm er selber Urlaub und reist ihm auf eigene Kosten nach.

Diese Übereifrigkeit erregte erstaunlicherweise kein Misstrauen. Niemand konnte sich vorstellen, dass Guillaume ein Spion war. Nur kursorisch beteiligt sich Wilke an Spekulationen, inwiefern man Brandt ins offene Messer laufen ließ. Auch als Guillaume schon verhaftet war, ging Brandt die ganze Tragweite des Falles noch nicht auf. Die von Wilke formulierte Erklärung, die Brandt abgeben wollte, änderte Genscher dahingehend, daß der Bundeskanzler seit längerer Zeit von dem Verdacht unterrichtet gewesen sei und der Observation zugestimmt habe. Mehr noch, es wurde nun der Eindruck erweckt, als habe Willy Brandt bei der Observation mitgewirkt. Tatsächlich stimmte letzteres nicht, weil Brandt die Dimension des Verdachtes gegen Guillaume bis zur Enttarnung nicht bekannt gewesen sein dürfte. Später stellte sich zudem heraus, dass es im Urlaub gar keine "Observation" gab; Norwegen war ja "Ausland". Dennoch stuft Wilke Genscher bis zum Schluss als loyal zu Brandt ein. Sicher ist, dass Wehner aktiv Brandts Ablösung betrieb und die Äffare um Guillaume als Aufhänger benutzte. Für ihn war Brandt als Kanzler zu weich geworden, zu zaudernd; er wollte den starken Helmut Schmidt implementieren. Bahr war aus dem engeren Kreis der einzige, der erkannte, dass Brandt die öffentliche Hetze auf Dauer nicht durchstehen würde und arrangierte sich früh mit dem Rücktritt. Wilke stimmt Bahrs Einschätzung nachträglich zu.

Nach seinem Rücktritt schien Brandt zwar wie von einer Last befreit, aber der Ärger über andere und vielleicht noch mehr über sich saß tief und ließ ihn lange nicht los. Sein internationales Engagement begann, die realistische Verwirklichung seiner großen Vision schritt voran. Wilke berichtet hierüber nichts; vielleicht wäre gerade dies interessant gewesen: Endlich schien sich diese Sehnsucht nach Zärtlichkeit, derer Brandt so bedürftig war und die ihm in seiner zweiten Amtszeit als Bundeskanzler nicht zuteil wurde, zu erfüllen.

Wilke liefert mit seinem Buch keinen Kolportageklatsch aus längst vergangenen Zeiten. Persönliches lässt er weg; man erfährt von Strandspaziergängen mit Brandt, aber nicht mehr. Der Leser erfährt en passant von Brandts Ansichten beispielsweise zum sogenannten Radikalenerlass und zur Demokratie. Vor allem jedoch über einen mehr oder weniger chaotischen Regierungsapparat. Und tatsächlich: Nach der Lektüre dieses Buches kann man Willy Brandt viel besser verstehen.
Lothar Struck

(*) Diese Besprechung verzichtet aus Gründen der besseren Lesbarkeit ebenfalls auf entsprechende Verlinkungen. Viele Lebensläufe der entsprechenden Protagonisten sind im Netz auch nur äußerst lückenhaft vorhanden. Für umfassende Auseinandersetzungen mit der der Politik der 70er Jahre sollte der Leser einschlägige Literatur konsultieren. 

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Reinhard Wilke
Meine Jahre mit Willy Brandt
Die ganz persönlichen Erinnerungen
seines engsten Mitarbeiters
Mit einem Vorwort von Ulrich Wickert
Hohenheim Verlag
Ca. 250 Seiten mit ca. 20 Abbildungen
13,5 x 20,5 cm
Gebunden mit Schutzumschlag
Ca. 19,90 € / 36.00 Fr.
ISBN 978-3-89850-198-9


 


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