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Nichts ist hier sicher

Judith Hermanns neuer Roman
»Daheim«

Von Lothar Struck
 

Ich habe es versucht. Aber ich scheitere. Ich kann über Judith Hermann keine Rezension schreiben, in dem nicht irgendwann auf ihr Debut, den Erzählband "Sommerhaus, später" von 1998, Bezug genommen wird. Denn man kann nicht umhin, Hermann als Pionierin zu bezeichnen. Denn bis dahin war selten bis gar nicht derart wirksam das Lebensgefühl der um 1970 geborenen literarisch verarbeitet worden. Hermann wurde vom Feuilleton als Inspiration eines sogenannten "Fräuleinwunders" gesehen, weil auch andere Schriftstellerinnen eine neue Form von Befindlichkeitsprosa schrieben, die, im Gegensatz zu Hermanns Texten selber, die dies nicht brauchte, feministisch inspiriert war.

Hermanns Erfolg von 1998 wurde maßgeblich durch die Lobeshymnen im Literarischen Quartett angestoßen. Denn Erzählbände haben im deutschsprachigen Buchmarkt einen eher schweren Stand; die Branche präferiert – warum auch immer – Romane. Hermann blieb sich treu, legte in längeren Abständen weitere Erzählbände vor. Fast erwartungsgemäß wurde der Zweitling ("Nichts als Gespenster", 2003) eher zurückhaltend besprochen. In "Alice" von 2009 versammelte sie kürzere Erzählungen als im Vorgängerbuch, in dem Themen wie das Sterben und der Tod in den Vordergrund rückten. Die Suche einer Generation nach Verankerung in der Gesellschaft, nach Akzeptanz, nach Glück, wich einem melancholischen Blick auf Lebensläufe von Menschen (insbesondere Männern), die bereits weit vor ihrem Ableben nur mehr existiert, maximal einer gewissen luxuriösen Lebensmüdigkeit anheim gefallen waren, aber eben nicht mehr "gelebt" zu haben schienen. Hermann versuchte mit nüchterner Beschreibungsprosa diese Stimmungen einzufangen ohne ihre Protagonisten bloßzustellen.

Ihren ersten Roman ("Aller Liebe Anfang", 2014) hatte ich nicht gelesen, lediglich der Vernichtungsversuch eines Kritikerwürstchens war mir unangenehm aufgefallen. Zwei Jahre danach erschien mit "Lettipark" ein neuer Erzählband von ihr und nun, abermals in größerem Abstand, mit "Daheim", ihr zweiter Roman, der sofort ein lebhaftes, meist positives Echo fand. Vielleicht bemühen sich die Rezensenten, demnächst auf der Rückseite eines Buches von Judith Hermann verewigt zu werden. Bei "Daheim" steht dort ein Zitat einer dänischen Zeitung.

Im Roman erzählt eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin vom Leben in einem Haus "am Polder" in einem kleinen Dorf irgendwo an der Nordsee, in der Nähe ein Kurort "mit Konzertmuschel". Die Region lebt von Landwirtschaft oder Tourismus. In der Saison arbeitet sie bei ihrem Bruder Sascha in einem Touristenlokal mit dem Namen "Shell". Das Verhältnis zwischen den Geschwistern ist nicht besonders herzlich, eher geschäftsmäßig. Während sie in den Arbeitspausen Doderer, Turgenjew oder Yates liest, ist Sascha, der im Lokal wie "ein müder und zerrupfter Vogel" aussieht, der 21jährigen Nike und ihren kryptischen Handynachrichten verfallen. Nike ist fast Analphabetin, ihr fehlen Zähne, erinnert im Schlaf an eine Muräne und wirkt wie eine Figur aus einer RTL2-Dokusoap. Bis zu ihrem 12. Lebensjahr wurde sie oft tagelang von ihren Eltern für nichtige Vergehen in eine Kiste gesperrt. Sie ist launisch und kommandiert den verständnisvollen und liebestollen Sascha wie einen Hund. Dieser sammelt ihre Zeichnungen auf wie seltene Kunstschätze.

Im nächsten Haus (in beruhigender Entfernung) wohnt Mimi, Bildhauerin und Malerin, "nach Teebaumöl duftend", die vor längerer Zeit mit Sascha eine kurze Affäre hatte. Die beiden Frauen werden Freundinnen. Mimis Bruder Arild hat den Hof der Eltern, unter anderem mit über 900 Schweinen, vor einiger Zeit übernommen. Die Erzählerin lernt Arild kennen, der als Urbegriff eines knorrigen, norddeutschen Schweigebauern geschildert wird. Unregelmässig werden die Eltern Mimis und Arilds, Amke und Onno, auf ihrem "Altensitz" besucht.

Brieflich steht sie mit ihrem Ex-Mann Otis in Kontakt, ein "Sammler", eher: eine Mischung aus Messie und Prepper mit Hang zu Endzeitvisionen. Die Tochter Ann ist auf großer Weltreise und schickt ab und zu Koordinaten ihres Aufenthaltsortes. Einmal gelingt ihr ein Skype-Ruf mit ihrer Mutter.

"Daheim" beginnt mit einer Erinnerung an ein Ereignis vor "fast" 30 Jahren. Die Erzählerin war Arbeiterin am Fließband in einer Zigarettenfabrik und lebte in einer kleinen Wohnung mit Balkon. Eines Tages wird sie von einem Zauberer angesprochen, der mit ihr auf Kreuzfahrttournee nach Singapur fahren wollte. Sie hätte die richtigen Körpermaße für die Nummer als "zersägte Jungfrau". Sie besucht den Mann, um die Nummer zu probieren. Sie wäre geeignet und sagt zu. Schließlich geht sie doch nicht zur vereinbarten Abfahrtstelle.

Otis wird ihr viel später in einem Brief eine ganz andere Version der Geschichte mit dem Zauberer erzählen. Danach stand sie nicht ausschließlich am Band in der Fabrik, sondern kümmerte sich um Besucher, organisierte Führungen. Den Zauberer hätte sie, so Otis' Erzählung, unter anderen Umständen kennengelernt. Da die Erzählerin mehrmals bekundet, ein eher schlechtes Gedächtnis zu haben, wird sie durch die Version ihres Ex-Manns nicht besonders verunsichert. "Ich würde gerne sagen, kann ich mir nicht vorstellen, Otis. Hast du dir ausgedacht. Kaum was von dem, was du sagst, ist wahr."

Die Unzuverlässigkeit der Erzählerin durchzieht den Roman. Nichts ist hier sicher. Wahrnehmungen stehen nebeneinander; bisweilen fehlt der kausale Zusammenhang oder es gibt Sprünge. So betont sie an einer Stelle, 47 Jahre alt zu sein. Dann wiederum, sie sei Anfang 20 gewesen, als der Zauberer sie angesprochen hatte. Der Bruder soll 60 Jahre alt sein, ist aber, wie er sagt, nur "Mitte fünfzig".

Neben ausgiebigen Beschreibungen gibt es lückenhafte Erzählungen. Als sie Arild das erste Mal besucht, zeigt dieser ihr am Ende wie selbstverständlich das Schlafzimmer. Sie entkleidet sich und legt sich ins Bett. Später kommt er dazu, das "Geschlecht" ist "selbstbewusst". Am nächsten Morgen wachen beide nebeneinander auf, frühstücken (in gediegener Wortkargheit) und gehen ihrer Wege. Was sich ereignet hat, zeigt sich einiges später an den Gerüchen, die sie von sich wahrnimmt: "Sperma, Aftershave, Ammonik".

Es ist der bekannte, reduktionistische Erzählstil Hermanns, diese staubtrockene Lakonik, die auch diesen Roman grundiert. Als Gewürze werden kleine, dystopisch angehauchte Rätsel eingestreut. Etwa, dass es nicht mehr regnen scheint. Dann gibt es urplötzlich keinen Fisch mehr im Supermarkt. Die Rosen, die die Erzählerin gepflegt hatte, werden plötzlich, da ist sie sicher, "in diesem Leben" nicht mehr von ihr geschnitten, denn "irgendetwas ist vorüber und vorbei". Kurz darauf trifft man sich jedoch wieder in ihrem Haus. Und als die Erzählerin endlich Otis' zweites Paket öffnet, zeigt sich ein sowjetischer Weltempfänger, der auf die Frequenz 4.625 kHz eingestellt ist. Hier sind seit Jahrzehnten von einem ein russischen Militär- oder Spionagesender unheimlich anmutende Signale zu empfangen.

Passend auch das Motiv der Marderfalle. Als sie ein Gepolter im Gebälk des Hauses vernimmt, stellt Arild eine Marderfalle auf. Den gefangenen Eindringling will er dann "massakrieren". Den ersten Fang, den die beiden machen, ist allerdings eine Katze. Dann eine verschreckte Amsel. Das Neuaufstellen der Falle wird für sie durch die Betrachtung von Arilds Arbeit eher zum Ereignis als das Fangen des Tieres selber. Ganz am Ende, als die Störgeräusche nahezu vergessen sind, schnappt die Falle erneut zu. Der Leser wird nie erfahren, wer diesmal gefangen wurde. Die Falle bzw. die "falschen" Findlinge als Allegorie auf das Leben, der Suche nach dem Glück, nach "Daheim"?

Diese Elemente sollen eine Spannung abseits der eigentlichen Erzählung des Sommers und der Interaktionen der Figuren untereinander aufbauen. Der Höhepunkt ist der Tod einer Person (dessen Namen ich nicht spoilern möchte), wobei offen bleibt, ob es sich um ein Verbrechen handelt. Aber so richtig springen die Funken nicht über. Hermann schreibt hier geheimnistuerisch statt geheimnisvoll.

Bisweilen erinnern die kauzigen Figuren an Olga Tokarczuks kriminalistischen Roman "Gesang der Fledermäuse" ebenfalls in einem dörflichen Umfeld spielend, einem Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze. Nur, dass sich Tokarczuk irgendwann für die Kriminalgeschichte entscheidet. Wäre Hermanns Roman ohne die aufgepfropften Suspense-Motive nur so interessant wie ein braves Deichgemälde aus dem 19. Jahrhundert?

Dabei sind die Anlagen der Protagonisten, die, wie bei Hermann üblich, mit zum Teil merkwürdigen Vornamen ausgestattet werden, durchaus vielversprechend. Da ist Arild, der von Sprache, von längeren Geschichten, verwirrt zu sein scheint aber den "Blick für das Wesentliche" besitzt. Otis, der Dauerskeptiker, der an ein Verfechter des Analogen zu sein scheint. Oder Amke und Onno, die entfernt an Philemon und Baucis denken lassen. Vor allem Mimi mit ihren Kunstobjekten (Leinwände im Schlick) und dem unbedingten Lebenswillen. Sie wäscht der Erzählerin mit einem flammenden Plädoyer den Kopf, als sich diese immer mehr zurückziehen will: "Wenn du bleibst, wirst du so alleine sein wie noch nie zuvor in deinem Leben. Alleiniger, als du dir vorstellen kannst. Wir werden aufeinander angewiesen sein."

Ist der letzte Satz eine Drohung? Oder eine Verheißung? Die beiden Frauen besuchen Amkes 82. Geburtstag. Alle wissen, es wird bald so etwas nicht mehr geben. Bald sind sie es, die besucht werden sollen. Die Generation X hat ihre Träume, ihre Ideale aus welchen Gründen auch immer nicht verwirklicht oder ist einfach nur desillusioniert. Ehen und Beziehungen sind zerbrochen. Die neuen Freiheiten sind auch nicht derart, wie man sich das vorgestellt hatte. Die Vergangenheit bietet keinen Grund zur Verklärung, die Versprechen der Zukunft sind ambivalent; vielleicht wartet noch ein Erbe (für die Erzählerin nicht). Der einst gefeierte Individualismus weicht einem prekären Gefühl nach fehlender Gemeinschaft. Im Roman verkörpert einzig Ann die Generation, die ortlos lebt, die "zu Hause" als Enge empfindet und sofort nach ihrem 18. Geburtstag ausbricht. Nicht einmal fällt das Wort "Heimat" im Roman, aber genau diese Suche nach einem Ort oder wenigstens nach einem Gefühl der Aufgehobenheit ist der Elefant in diesem Text.

Man liest es gerne, eine Nachmittagslektüre. Dank an Judith Hermann, dass sie keinen Thesen- oder Bekenntnisroman geschrieben hat, sondern erzählen wollte. Vielleicht beurteilt man den Roman in zehn oder zwanzig Jahren, wenn Judith Hermann weitere Erzählungen und Romane vorgelegt hat, als ein Puzzleteil eines groß angelegten, aber sanft daherkommenden Generationenzyklus. Dann wirkt dieser Text womöglich schon aus der Zeit gefallen. Und man könnte ihn genießen.

Artikel online seit 19.05.21
 

Judith Hermann
Daheim
Roman
S. Fischer
192 Seiten
21,00 €
978-3-10-397035-7

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