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»Der Welt sind alle Blätter abgefallen«

Der »Gesang der Fledermäuse« als Einstieg zu den
anspruchsvolleren Texten Olga Tokarczuks

Von Gregor Keuschnig
 

Einige Tage vor der Bekanntgabe der Literaturnobelpreise für 2018 und 2019 tauchte der Name Olga Tokarczuk neben den üblichen Verdächtigen auf. War da etwas durchgesickert? Eine Überraschung war es dann doch (die größere war allerdings die Vergabe für 2019 an Peter Handke). Als die Nachricht kam, war die Autorin auf einer Lesereise durch Deutschland. Plötzlich wollten alle etwas von ihr; es gab eine eilig einberufene Pressekonferenz in Düsseldorf. Der Kampa-Verlag druckte nach, schien auch Rechte von Ausgaben von Tokarczuks Büchern von anderen Verlagen sukzessive aufzukaufen und bemüht sich, das Werk schnell und umfassend zu präsentieren. Als Taschenbuchausgabe ist jetzt Tokarczuks Roman »Gesang der Fledermäuse« von 2009 (erstmals in Deutsch 2011 bei Schöffling) erhältlich (Übersetzung von Doreen Daume). Ein Einstieg zu womöglich anspruchsvolleren Texten wie dem nicht zuletzt von der Akademie als Opus magnum gepriesenen »Die Jakobsbücher«?

Ich gestehe, dass mich die – sozusagen inoffizielle - Rubrizierung »Kriminalroman« (tatsächlich wird »Roman« als Genre verwendet) für »Gesang der Fledermäuse« eingenommen hat. (Was ich erst später recherchierte: das Buch bzw. wohl eher der Plot ist bereits verfilmt worden). Man kann also, so die Botschaft, sehr wohl einen Kriminalroman schreiben und trotzdem den Nobelpreis erhalten. Tatsächlich ist dieses unsägliche Schubladendenken gegenüber der sogenannten Genreliteratur fast nur noch in der deutschsprachigen Rezeption existent. Anderswo ist man durchaus in der Lage, die Literarizität beispielsweise von Kriminalromanen anzuerkennen – sofern sie denn vorhanden ist.

Der Roman spielt in dem kleinen Dorf Lufcug (ein »inoffizieller« Name) auf einem Hochplateau an polnisch-tschechischen Grenze. Es ist glücklicherweise kein dys- oder utopisches Szenario; man bewegt sich in der Gegenwart. Im »Kessel« liegt die nächstgrößere Stadt Glatz (polnisch: Kłodzko; im Buch fast durchgängig in der deutschen Nomenklatur). Es beginnt im eisig-kalten, windumtosten Winter, als Matoga seinen mehrere hundert Meter entfernt wohnenden Nachbarn »Bigfoot«, einen anderen, eremitisch-zänkischen Bewohner, tot in seinem Haus entdeckt und Janina Duszejko mitten in der Nacht aufweckt. Sie schauen sich die Leiche an, suchen eine Todesursache. Schnell kommen sie zu dem Schluss, dass er an einem kleinem Rehknochen erstickt ist. Für Janina ist klar, dass dies die Rache der Rehe ist, die »Bigfoot« gewildert hatte. Er war ein Mann, der von der Natur lebte, »die er aber nicht respektierte«.

Es dauert bis die Polizei kommt (die Grenznähe bedingt, dass die Anrufe zuweilen bei der tschechischen Polizei landen). Janina, die dominante Ich-Erzählerin, übernimmt das Psychologisieren und Mutmaßen. Sie, die einstige Ingenieurin, die auf der ganzen Welt Brücken baute, dann Lehrerin wurde, hat sich im Alter vollständig der Astrologie und der Natur verschrieben. Sie lebt von Englisch-Unterricht in der Stadt (der sehr unkonventionell ist) und von Rundgängen (»wie eine einsame Wölfin«) während der langen Wintermonate für die Häuser und Anwesen der Sommerbewohner. Immer wieder werden die stimmigen, topographisch grundierten Impressionen der Landschaft, losgelöst von der Handlung, eingestreut. Am Ende kennt der Leser die jahreszeitlichen Eigenheiten des Hochplateaus, die spezifischen Eigenheiten der Häuser (mal lebt in einem Haus ein Marder, mal gibt es Fledermäuse) und auch ausschnittweise die Sommerfrischler.

Die Polizei macht den Beiden Vorwürfe, den Tatort verändert zu haben. Janina hält mit ihrer Meinung über den Toten nicht hinter dem Weg. Brisanz bekommt die Sache zusätzlich dadurch, dass Matogas Sohn für die Polizei arbeitet. Ein paar Tage später erhält sie Besuch von einem Kommissar, der ihr merkwürdig vorkommt; sie glaubt, er verdächtige sie. Kurz darauf geschieht das Unfassbare: Der Kommissar wird tot aufgefunden. Janina entdeckt den Toten mit ihrem Bekannten Dyzio zuerst. Dieser besucht sie einmal die Woche, die beiden kochen zusammen und begutachten dann Dyzios Übersetzungen von Edward-Blake-Gedichten. Als sie Dyzio zu seinem Nachhause begleitet, finden sie die Leiche. Janina ist schockiert, entdeckt Rehspuren im Schnee. Ihre Rache-Theorie der Tiere bekommt neue Nahrung.

Nun haben Tiere bei Janina den gleichen, nein: einen höheren Rang als Menschen. Tiere hätten eine »Weltanfühlung«, Menschen eine »Weltanschauung«, sagt sie einmal. Selbst das Abmähen von Grünflächen verurteilt sie. Ihr Tierrechts-Radikalismus treibt seltsame Blüten. So verfasst sie mehrere Briefe an die Polizei, die auf Tierspuren im Schnee Bezug nehmen und macht eine »strafende Hand der Gerechtigkeit« durch die Tiere als Täter aus. Ernst genommen werden diese Einwürfe genau so wenig wie ihre Anzeige, weil ein Wildschwein außerhalb der Jagdzeit umgebracht wurde. Die Versuche, ihre vermisste Hündin über die Polizei suchen zu lassen, scheitern ebenfalls. Immerhin wird sie zum Tod des Kommissars verhört, allerdings ergebnislos.  

Ihre Freizeit verbringt sie mit dem Erstellen von Horoskopen. Astrologie sei »eine exakte Disziplin, in hohem Maße empirisch und genauso wissenschaftlich wie etwa die Psychologie. Sie erfordert die genaue Beobachtung einiger Personen in ihrer Umgebung und die Verknüpfung gewisser Momente in ihrem Leben mit der Stellung der Planeten.« Mittels Computer wähnt sie sich in der Lage, zuverlässige Voraussagen über die Zukunft von Menschen zu erstellen; sie braucht neben dem Geburtsdatum nur noch die Geburtsstunde. Das Leben sei vorbestimmt und wie selbstverständlich erklärt sie, ihr eigenes Todesdatum auch schon zu kennen. Die für die aufgefundenen Toten posthum erstellten Horoskope zeigten abermals die Richtigkeit der Astrologie (was sie ebenfalls in ihren Eingaben der Polizei mitteilt). Kurz erhält auch der Leser einen im wahrsten Sinn erschöpfenden Astrologie-Exkurs.

Menschenfeindlich ist Janina aber nicht. Einen Käferforscher nimmt sie für eine kurze Zeit auf, taucht begierig in die Welt der Wissenschaft ein (ob es zu einer kurzen Affäre kommt, bleibt unklar). In der Stadt freundet sie sich mit der Besitzerin eines Second-Hand-Ladens an (wie für so viele andere Protagonisten erfindet sie für sie einen anderen, »passenderen« Namen). Für ärztlichen Beistand sieht sie bei Dr. Ali nach, der zwar nur Hautarzt ist, aber für nahezu jedes Gebrechen eine Mixtur kreieren kann (Janina ist außerdem mit einer nicht näher definierten Krankheit geschlagen.) Urkomisch die Szene, wenn der Zahnarzt im Mai und Juni mit seinem alten Bohrer in die Öffentlichkeit tritt und »die Waldarbeiter und Schnurrbartträger« fast im Akkord behandelt. Bisweilen gibt es einen Tee bei der (lesbischen) Schriftstellerin Giselle, die ihr wie eine »Beamtin« vorkommt. »Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, läse ich sicher ihre Bücher«, lautet der lakonische Kommentar.

Die Sommeridylle wird getrübt durch einen weiteren Mord. Die Nervosität unter den Sommerfrischlern wächst, die Ratlosigkeit der Polizei auch. Aber das Leben geht weiter. Janina nimmt an einem Ball einer Jahresversammlung von Pilzsammlern teil, obwohl sie mit Menschen, die tagelang durch Wälder streifen, um Pilze zu sammeln, wirklich nichts anfangen mag. Es gelingen satirisch-komödiantische Beschreibungen, die radikal beendet werden, als der Präsident des Vereins tot ist. Dann brennt noch eine Kirche ab und auch der Pfarrer überlebt das nicht.

Neben den bereits angesprochenen komischen Momenten, schafft es Tokarczuk bisweilen simenonhaft die Kriminalgeschichte hinter scheinbar abseitigen Begebenheiten vergessen zu machen, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Es gelingen grandiose Szenen, etwa wenn sie zu Beginn mit Matoga bei »Bigfoot« sitzen und in eine tranceähnliche Singsang-Totenwache einstimmen. Janina wird als sensibel, aber nicht schrullig dargestellt. »Der Welt sind alle Blätter abgefallen«, heißt es einmal von ihr. Ihre Stimmungen schwanken; mal geht sie in den Wald zum Weinen, mal gruselt sie sich vor der Imagination ihrer verstorbenen Mutter im Heizungskeller. Dann wieder geht sie in den Blake-Übersetzungen mit Dyzio auf.

Natürlich ist es schwierig, wenn die Abgründe einer Person erzählt werden sollen, die selber die Erzählerin der Geschichte ist. Zumal die Erzählperspektive beibehalten wird. So bleiben einige Begebenheiten deskriptiv. Da ist der Leser wahlweise eingeladen oder gefordert. Das Urteil könnte dabei zwischen Abscheu, Unglaube und Komik changieren. 

Leider kommt man der Lösung schnell auf die Schliche. Obwohl es kein klassischer Whodunit ist, ist das ein bisschen schade. Verraten werden soll das Ende hier allerdings nicht, zumal es dann noch eine veritable Überraschung gibt. »Gesang der Fledermäuse« ist eine leichte, unterhaltsame, aber keinesfalls seichte Lektüre.

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Artikel online seit 05.08.20
 

Olga Tokarczuk
Gesang der Fledermäuse
Aus dem Polnischen von Doreen Daume
Roman
Kampa Verlag
416 Seiten | Gebunden
€ (D) 24,– | sFr 32,50 | € (A) 24,70
978 3 311 10022 5


 

 

 


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