Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik |
|
|||
Home Das Beste Literatur Blutige Ernte Sachbuch Bilderbuch Zeitkritik Termine Preisrätsel Impressum Mediadaten Andere über uns | ||||
Bücher, CDs, DVDs & der Link des Tages Links Bücher-Charts l Verlage A-Z Medien- & Literatur l Museen im Internet Rubriken Belletristik - 50 Rezensionen Romane, Erzählungen, Novellen & Lyrik Quellen Biographien, Briefe & Tagebücher Geschichte Epochen, Menschen, Phänomene Politik Theorie, Praxis & Debatten Ideen Philosophie & Religion Kunst Ausstellungen, Bild- & Fotobände Tonträger Hörbücher & O-Töne SF & Fantasy Elfen, Orcs & fremde Welten Sprechblasen Comics mit Niveau Autoren Porträts, Jahrestage & Nachrufe Verlage Nachrichten, Geschichten & Klatsch Film Neu im Kino Klassiker-Archiv Übersicht Shakespeare Heute, Shakespeare Stücke, Goethes Werther, Goethes Faust I, Eckermann, Schiller, Schopenhauer, Kant, von Knigge, Büchner, Marx, Nietzsche, Kafka, Schnitzler, Kraus, Mühsam, Simmel, Tucholsky, Samuel Beckett ![]() Berserker und Verschwender Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie Die Neuausgabe seiner »schönsten Romane und Erzählungen«, über eine ungewöhnliche Erregung seines Verlegers Daniel Keel und die grandiose Balzac-Biographie von Johannes Willms. Leben und Werk Essays und Zeugnisse mit einem Repertorium der wichtigsten Romanfiguren. Hugo von Hofmannsthal über Balzac »... die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war.« Literatur in Bild & Ton Literaturhistorische Videodokumente von Henry Miller, Jack Kerouac, Charles Bukowski, Dorothy Parker, Ray Bradbury & Alan Rickman liest Shakespeares Sonett 130 Thomas Bernhard ![]() Man schaut und hört wie gebannt, und weiß doch nie, ob er einen gerade auf den Arm nimmt, oder es ernst meint mit seinen grandiosen Monologen über Gott und Welt. Ja, der Bernhard hatte schon einen Humor, gelt? Hörprobe ![]() Die Fluchtbewegungen des Bob Dylan »Oh my name it is nothin'/ My age it means less/ The country I come from/ Is called the Midwest.« Ulrich Breth über die Metamorphosen des großen Rätselhaften mit 7 Songs aus der Tube Glanz&Elend - Die Zeitschrift Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben: Die menschliche Komödie als work in progress ![]() Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei Dazu erscheint als Erstveröffentlichung das interaktive Schauspiel »Dein Wille geschehe« von Christian Suhr & Herbert Debes Leseprobe Anzeige ![]() Martin Brandes Herr Wu lacht Chinesische Geschichten und der Unsinn des Reisens Leseprobe Neue Stimmen ![]() Die Bandbreite der an die 50 eingegangenen Beiträge reicht von der flüchtigen Skizze bis zur Magisterarbeit. Die prämierten Beiträge Nachruf ![]() Zum Tod des ehemaligen Schachweltmeisters Bobby Fischer »Ich glaube nicht an Psychologie, ich glaube an gute Züge.« Wir empfehlen: ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Andere Seiten Quality Report Magazin für Produktkultur Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek Joe Bauers Flaneursalon Gregor Keuschnig Begleitschreiben Armin Abmeiers Tolle Hefte Curt Linzers Zeitgenössische Malerei Goedart Palms Virtuelle Texbaustelle Reiner Stachs Franz Kafka counterpunch »We've got all the right enemies.« ![]() ![]() ![]() |
Rückblickend reibt man sich immer noch die Augen ob des Rummels den Judith Hermann 1998 mit ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Sommerhaus, später", auslöste. Die Kritiker stimmten Hymnen an. Warum? Hatten da die Väter das erste Mal erfahren, wie sich die Generation ihrer erwachsenen Kinder (oder ihrer Geliebten?) fühlte? In welcher Parallelwelt mußte man gelebt haben, um hier etwas zu "entdecken"? Oder hing es damit zusammen, dass man fast zeitgleich die (amerikanische) Kurzgeschichte (wieder neu) wahrnahm; Versuche, Carver und Cheever bekannter zu machen? Entsprechungen in der zeitgenössischen deutschen Literatur gab (gibt) es wenige, so dass die Koinzidenz von beiden Ereignissen vielleicht eine mögliche Erklärung ist. Natürlich verstand es Hermann ganz gut den "Sound einer Generation" (Hellmuth Karasek) wiederzugeben. Knapp und präzise wurde da gepflegt Ereignislosigkeit zelebriert. Manchmal hart an der Grenze zur Banalität (vornehmer Iris Radisch: "…an der Grenze zur Anspruchslosigkeit"). Einige verwechselten das vorauseilend mit Lakonie. Der Literaturbetrieb nahm Hermanns Erfolg zum Anlaß, andere Autorinnen sozusagen als Backgroundbegleitung zu suchen und wurde natürlich schnell fündig. Jung, weiblich, kosmopolitisch, vor allem aber mit einer gehörige Portion Wohlstandskindermelancholie – fertig waren die "Fräuleinwunder" (wie sie früh ein bisschen despektierlich genannt wurden), deren Figuren somnambul durch das Leben taumelten und sich gleichzeitig mit einer (ziemlich erschreckenden) Coolness umgaben, ohne "cool" sein zu wollen. Nicht einmal zum Zynismus reichte es, wobei die Frage blieb, ob dieses Stadium schlichtweg übersprungen wurde. Und selbstredend wurde dem Erzählen eine gehörige Portion Bedeutung mit auf den Feuilleton-Weg gegeben und man scheute sich nicht nach den Jahren des Post 68er-Feminismus gerade diese gleichgültige Resignation (oder war es resignative Gleichgültigkeit?) auch noch als ganz besonderen politischen Akt zu deklarieren.
Pseudo-Coolness
Judith Hermann tauchte in
der Zwischenzeit fast ab und veröffentlichte erst fünf Jahre später ihr zweites
Buch "Nichts als Gespenster". Das Klischee vom schlechteren Zweitbuch nach einem
erfolgreichen Debüt schien zu stimmen: Der wuchtige Band (320 Seiten für sieben
Erzählungen) fiel fast einhellig durch. Hermann wollte keine bloße Kopie ihres
ersten Buches abgeben und hatte versucht nicht nur zu skizzieren, sondern ein
ganzes Bild zu malen. Hierdurch wirkten die Erzählungen häufig altklug, der
"Sound" von einer gewissen dialogischen Geschwätzigkeit verdrängt. Die
charakterlichen Besonderheiten einiger Protagonisten wurden arg überorchestriert
("Im letzten Jahr sagte Jonas nach einer durchzechten Nacht den Satz 'Mir ist
danach, in einem dunklen Keller zu sitzen und Trickfilme zu gucken in
Schwarzweiß'. Jonina fand, dass es ihm sehr oft gelang, solche Sätze zu sagen,
Sätze, die sie sofort verstand" – aus "Kaltblau"). So verflüchtigte sich ein
wichtiges Element dieser Prosa: die Identifikationsmöglichkeit. Für mich waren beide Bücher etwas mehr als ein Lesevergnügen beispielsweise auf einer Bahnfahrt. Es gelang Judith Hermann in den besten Momenten, Stimmungen zu erzeugen. Aber was blieb davon nach der Lektüre? Ein paar Bilder im Kopf, vielleicht. Oder nur ein veritabler Kater wie nach einer durchzechten Nacht? Ich stellte mir die Frage, ob ich mit dem ein oder anderen Protagonisten eine Korrespondenz oder gar Freundschaft hätte beginnen wollen. Oder ob es beim schönen Abend geblieben wäre, weil man feststellt, dass man hat sich nach einer Stunde alles gesagt hat.
Ein Todesengel? "Richard", der Mann einer Freundin, stirbt zu Hause im Hochsommer in Berlin. In "Malte" spürt Alice dem Tod ihres Onkels nach, der sich einen Monat vor ihrer Geburt im Jahr 1970 mit 23 Jahren tötete. Hierfür kontaktiert sie ihren anderen, zehn Jahre älteren Onkel, der sie besucht und ihr am Ende einen Ordner mit (Liebes-)Briefen Maltes an ihn übergibt. Und schließlich ist ein Jahr nach Richards Tod auch "Raymond" verstorben (man weiß nicht die Ursachen), Alices Freund. Am Ende hat man das Gefühl, Alice sei ein Todesengel. Man liest in Besprechungen zu diesem Buch, Judith Hermann erzähle (oder schreibe) über den Tod. Und tatsächlich scheint eine solch knappe Inhaltsangabe diesen Schluß nahezulegen. Es gibt eine herbeiphantasierte Melancholie, kunstvoll arrangierte Auslassungen, die den Leser ein bisschen gouvernantenhaft gewollt in Ungewissheiten zurücklassen und versteckte sexuelle Anspielungen, die einen sporadischen Lebenshunger vortäuschen (zornig und wüst, heruntergekommen ist das Höchste, was wir vom Besuch des Rumänen in Alices Zimmer erfahren und dann, am nächsten Tag, beim Ausziehen des Hemdes vor dem Schwimmen im See Bisswunden. Kratzer. Übersät von blauen Flecken und Anna hob die Hand vor den Mund, sie war tatsächlich erschrocken. Ach du lieber Himmel. War ich das? und der Leser weiß: nein).
"Zentrierte Leere" Alice hat nur einen flüchtigen Blick für den Sterbenden; sie besucht die Verbliebenen, für die sie sich aber auch nicht besonders interessiert. Annas Verhältnis zu Maja in den Tagen des Wartens auf Mischas Krebstod wird als zentrierte Leere beschrieben. Bloß nicht jemanden zu dicht heranlassen. Als sie selber "Witwe" wird, stopft sie schnell die Kleidung des Toten in den Müllsack, seine Bücher in den Karton für das Rote Kreuz und will ihr Auto verschenken, weil sie es nicht mehr braucht. Es wird nichts sein heute sagt einmal ein Pfleger, und das hätte auch ein Gärtner sagen können, der nach Regen Ausschau hält. Alice fragt Raymond einmal, ob er lieber vor ihr sterben möchte oder nach ihr. So unterhalten sich Greise (auch wenn die Frage durch Raymonds Tod in der fünften Geschichte plötzlich opportun erscheint). Weder von den Sterbenden (Gestorbenen) noch von ihrem Leben erfährt man etwas (außer in "Malte"). Es gibt höchstens ein paar Erinnerungen (aber eben keine Wieder-Holungen). Stattdessen Wahrnehmungen wie zum Beispiel die tausend Bücher, das Haus am See oder ein steinhartes, angebissenes Mandelhörnchen, welches Alice in einer Jackentasche von Raymond findet und dessen Herstellung und Vertrieb detailliert rekonstruiert wird (genau wie Form und Farben des Kopfsteinpflasters zu Richards und Margarets Haus). In einem Bett in einem Zimmer in dieser Wohnung in diesem Haus in dieser Straße liegt einer, den ich kenne, und stirbt denkt Alice einmal. Man beginnt zu ahnen, warum sich Menschen irgendwann einen Hund anschaffen. Und wieder die Beschreibungen, die Hermann diesmal mit Bedeutung zu spicken sucht: eine Spinne, die zwischen zwei Bierflaschen ihr Netz baut (und nun traut sich niemand mehr aus den Flaschen zu trinken); der Lichtfleck durch die heruntergelassenen Jalousien im Zimmer Conrads; Raymonds Tätowierung (die Letzten werden die Ersten sein) und das Versprechen Raymonds an Alice (auf deren Wunsch) ihr nicht zu sagen warum er sich diesen Satz in Schönschrift hatte auf den Arm tätowieren lassen; das Abschleppen von Alices Autos während sie mit Friedrich über Malte spricht; der Schuß Essig in die gekauften Erdbeeren – die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.
Luxuriöse Lebensmüdigkeit
Vielleicht möchte da auch
jemand nur als Chronistin der emotionalen Lebensuntüchtigkeit einer Generation
fungieren? Margaret sagte, Richard hat gesagt, ich bräuchte drei Jahre.
Für was? Du braucht drei Jahre, dann wird es bessergehen. Und jetzt
ist ein Jahr um, erst ein Jahr, ich bin weit entfernt davon, zu verstehen, wie
er das gemeint hat. Statt Unfähigkeit zu trauern, eine Unmöglichkeit zu
trauern. Man ersetze "Trauer" ruhig einmal durch "Empathie". Was bleibt ist nur
eine Art Vermissen; kein Kummer um den Tod des Verstorbenen, sondern maximal
Selbstmitleid um den erlittenen Verlust. In Wirklichkeit geht es um mich
sagt Alice zu sich selber, als sie sich die Frage des Onkels vorstellt, warum
sie ihn treffen wolle. Und so ist dieses "Keine Zeit wofür" mehr als nur eine Floskel im Hausflur. Leicht umformuliert auf "Zeit – wofür?" und dann "Leben – wofür?" trifft man ziemlich genau die luxuriöse Lebensmüdigkeit dieser Protagonisten, die in der Regel bar jeder (Selbst-)Reflexion sind. Alles hätte sie anders machen müssen, nicht nur heute, sondern immer schon - die größte emotionale Wallung von Alice in diesem Buch. Es spricht Bände, dass ihr dieser Gedanke kommt, als sie auf dem Rückweg vom Picknick zum Auto darüber räsoniert, ob sie nicht vielleicht doch besser wenigstens einmal im See geschwommen wäre. Man soll mir nicht erklären, dass das große Literatur ist. Aber ich habe das gerne gelesen. Vor allem im Zug. Lothar Struck
Die kursiv gedruckten
Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
Judíth Hermann |
||
|
||||