Tragische Sendung der Natur! Warum ist diese lange Lust des Weibes nicht
feststellbar wie der männliche Augenblick!
Der Zustand der Geschlechter ist so beschämend wie das Resultat der
einzelnen Liebeshandlung: Die Frau hat weniger an Lust gewonnen, als der
Mann an Kraft verloren hat. Hier ist Differenz statt Summe. Ein schnödes
Minus, froh, sich in Sicherheit zu bringen, macht aus einem Plus ein
Minus. Hier ist der wahre Betrug. Denn nichts paßt zu einer Lust, die
erst beginnt, schlechter als eine Kraft, die schon zu Ende ist; keine
Situation, in der Menschen zu einander geraten können, ist
erbarmungsloser und keine erbarmungswürdiger. In dieser Lücke wohnt die
ganze Krankheit der Welt. Eine soziale Ordnung, die das nicht erkennt
und sich nicht entschließt, das Maß der Freiheit zu vertauschen, hat die
Menschheit preisgegeben.
Liebe und Kunst umarmen nicht was schön ist, sondern was eben dadurch
schön wird.
Erotik macht aus einem Trotzdem ein Weil.
Erröten, Herzklopfen, ein schlechtes Gewissen – das kommt davon, wenn
man nicht gesündigt hat.
Die Huren auf der Straße benehmen sich so schlecht, daß man daraus auf
das Benehmen der Bürger im Hause schließen kann.
Das Weib läßt sich keinen Beschützer gefallen, der nicht zugleich eine
Gefahr ist.
Man kann eine Frau nicht hoch genug überschätzen.
An der schönen Herrin sprangen ihre Hunde empor wie seine Gedanken und
legten sich ihr zu Füßen wie seine Wünsche.
Sie sagte, sie lebe so dahin. Dahin möchte ich sie begleiten.
Ich bin schon so populär, daß einer, der mich beschimpft, populärer wird
als ich.
Daß die Sprache den Gedanken nicht bekleidet, sondern der Gedanke in die
Sprache hineinwächst, das wird der bescheidene Schöpfer den frechen
Schneidern nie weismachen können.
Ich beherrsche nur die Sprache der anderen. Die meinige macht mit mir,
was sie will.
Wenn die Sprache ein Gewand ist, so wird sie schäbig und unmodern. Bis
dahin mag man unter Leute gehen. Ein Smoking macht nicht unsterblich,
aber beliebt. Doch was haben nur neuestens die jungen Herren an? Eine
Sprache, die aus lauter Epitheta besteht! Ein Gewand ohne Stoff, aber
ganz aus Knöpfen!
Die Literatur von heute sind Rezepte, die die Kranken schreiben.
In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der
Sprache.
Die Sprache hat in Wahrheit der, der nicht das Wort, sondern nur den
Schimmer hat, aus dem er das Wort ersehnt, erlöst und empfängt.
Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen
Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.
Wenn ich nur ein Telephon habe, der Wald wird sich finden! Ohne Telephon
kann man nur deshalb nicht leben, weil es das Telephon gibt. Ohne Wald
wird man nicht leben können, auch wenn’s längst keinen Wald mehr geben
wird. Dies gilt für die Menschheit. Wer über ihren Idealen lebt, wird
doch ein Sklave ihrer Bedürfnisse sein und leichter Ersatz für den Wald
als für das Telephon finden. Die Phantasie hat ein Surrogat an der
Technik gefunden: die Technik ist ein Surrogat, für das es keines gibt.
Die Anderen, die nicht den Wald, wohl aber das Telephon in sich haben,
werden daran verarmen, daß es außen keine Wälder gibt. Die gibt es
nicht, weil es innen und außen Telephone gibt. Aber weil es sie gibt,
kann man ohne sie nicht leben. Denn die technischen Dinge hängen mit dem
Geist so zusammen, daß eine Leere entsteht, weil sie da sind, und ein
Vakuum, wenn sie nicht da sind. Was sich innerhalb der Zeit begibt, ist
das unentbehrliche Nichts.
Vor dem Heiligtum, in dem ein Künstler träumt, stehen jetzt schmutzige
Stiefel. Die gehören dem Psychologen, der drin wie zuhause ist.
»Gottvoll« ist in mancher Gegend ein Superlativ von »komisch«. Ein
Berliner, der eine Moschee betrat, fand diese gottvoll.
Es gibt eine Lebensart, die so tüchtig ist, daß sie jede Bahnstation in
einen Knotenpunkt verwandelt.
Zeitgenossen leben aus zweiter Hand in den Mund.
Alle Naturwissenschaft beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, daß ein
Zyklop nur ein Auge im Kopf hat, aber ein Privatdozent zwei.
Manche teilen meine Ansichten mit mir. Aber ich nicht mit ihnen.
Wenn einer alle meine Ansichten hat, so dürfte die Addition noch immer
kein Ganzes ergeben. Wenn ich selbst keine einzige meiner Ansichten
hätte, so wäre ich immer noch mehr als ein anderer, der alle meine
Ansichten hat.
Der Bibliophile hat annähernd dieselbe Beziehung zur Literatur wie der
Briefmarkensammler zur Geographie.
Die Schule ohne Noten muß einer ausgeheckt haben, der von alkoholfreiem
Wein betrunken war.
Psychologie ist ein Omnibus, der ein Luftschiff begleitet.
Euer Bewußtes dürfte mit meinem Unterbewußten nicht viel anfangen
können. Aber auf mein Unterbewußtes vertraue ich blind, es wird mit
eurem Bewußten schon fertig.
Psychoanalyse ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält.
Ein guter Psycholog ist imstande, dich ohneweiteres in seine Lage zu
versetzen.
Mein Bewußtsein hat einen Hausknecht, der immer acht gibt, daß kein
ungebetener Gast über die Schwelle komme. Psychoanalytiker haben auch
unter ihr nichts zu suchen. Erwischt er einen, der ins Archiv will, so
führt er ihn in den Empfangsraum, wo ich persönlich ihm mit seiner
Diebslaterne ins Gesicht leuchte.
Sie greifen in unsern Traum, als ob’s unsere Tasche wäre.
Die Literaten, die jetzt geboren werden, sind weniger konsistent als
ehedem die Gerüchte waren. Ich habe noch Gerüchte gekannt, an denen
etwas dran war. Dem, was heute aus Schreibmaschinen zur Menschheit
spricht, würde ich nicht über die Gasse trauen.
Das vertrackteste Problem dieser Zeit ist: daß sie Papier hat und, was
gedruckt wird, käme es auch aus dem Mastdarm, als Urteil wirkt und als
Humor.
Der Vielwisser ist oft müde von dem vielen, was er wieder nicht zu
denken hatte.
Der Journalismus ist ein Terminhandel, bei dem das Getreide auch in der
Idee nicht vorhanden ist, aber effektives Stroh gedroschen wird.
Wenn ein Schwätzer einen Tag lang keinen Hörer hat, wird er heiser.
Als ich zum erstenmal von Freidenkern hörte, glaubte ich, es seien
Redakteure, die wie die Theaterkarten auch die Gedanken gratis bekommen,
wenn sie bei der Direktion einreichen.
Ich sah einen, der sah aus wie der Standard of life. Einen anderen, der
sah wie der sinkende Wohlstand aus. Der Redakteur verließ das
Hotelzimmer des Herrn Venizelos und sah aus wie der Status quo. Vorbei
ging die Welt, die hatte das Gesicht der besitzenden Klassen und das
Gesäß der breiten Schichten.
Ich kann beweisen, daß es doch das Volk der Dichter und Denker ist. Ich
besitze einen Band Klosettpapier, der in Berlin verlegt ist und der auf
jedem Blatt ein zur Situation passendes Zitat aus einem Klassiker
enthält.
Dieser Krieg wirkt aus den Verfallsbedingungen der Zeit. Er ist die
eigentliche Realisierung des Status quo.
Paternoster heißt ein Lift. Bethlehem ist ein Ort in Amerika, wo sich
die größte Munitionsfabrik befindet.
Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen
Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.
Einmal rief ein Weib: »Extraausgabe! Neue Freie Presse!« Sie hatte an
der Hand ein dreijähriges Kind; das rief: »Neue feile Presse!« Und sie
hatte einen Säugling auf dem Arm; der rief: »Leie leie lelle!« Es war
eine große Zeit.
»Bleiben Sie denn unbewegt vor den vielen, die jetzt sterben?« »Ich
beweine die Überlebenden und ihrer sind mehr.«
»Es handelt sich in diesem Krieg –« »Jawohl, es handelt sich in diesem
Krieg!«
Wir Menschen sind bessere Wilde.
Der Anspruch auf einen Platz an der Sonne ist bekannt. Weniger bekannt
ist, daß sie untergeht, sobald er errungen ist.
In der deutschen Bildung nimmt den ersten Platz die Bescheidwissenschaft
ein.
Was zugunsten des Staates begonnen wird, geht oft zuungunsten der Welt
aus.
Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.
Die deutsche Sprache ist die tiefste, die deutsche Rede die seichteste.
Der Franzose hat sich von seiner Oberfläche noch immer nicht so weit
entfernt, wie der Deutsche von seiner Tiefe.
Wir hier müssen erst das werden, was wir nicht sein sollen.
Immer schon habe ich es draußen in der Welt ungemütlich gefunden. Wenn
ich trotzdem so oft hinausgereist bin, so geschah es nur, weil ich es
hier gemütlich gefunden habe.
Diplomatie ist ein Schachspiel, bei dem die Völker matt gesetzt werden.
Die Entwicklung der Technik ist bei der Wehrlosigkeit vor der Technik
angelangt.
Jetzt sprechen hat entweder zur Voraussetzung, daß man keinen Kopf hat,
oder zur Folge.
Wenn man dem Teufel, dem der Krieg seit jeher eine reine Passion war,
erzählt hätte, daß es einmal Menschen geben werde, die an der
Fortsetzung des Krieges ein geschäftliches Interesse haben, das zu
verheimlichen, sie sich nicht einmal Mühe geben und dessen Ertrag ihnen
noch zu gesellschaftlicher Geltung verhilft so hätte er einen
aufgefordert, es seiner Großmutter zu erzählen. Dann aber, wenn er sich
von der Tatsache überzeugt hätte, wäre die Hölle vor Scham erglüht und
er hätte erkennen müssen, daß er sein Lebtag ein armer Teufel gewesen
sei!
Alles was geschieht, geschieht für die, die es beschreiben, und für die,
die es nicht erleben. Ein Spion, der zum Galgen geführt wird, muß einen
längeren Weg gehen, damit die im Kino Abwechslung haben, und muß noch
einmal in den photographischen Apparat starren, damit die im Kino mit
dem Gesichtsausdruck zufrieden sind. Schweigen wir. Beschreiben wir es
nicht, die es erlebten. Es ist ein dunkler Gedankengang zum Galgen der
Menschheit, ich wollte ihn als ihr sterbender Spion nicht mitmachen. Und
muß, und zeige ihr mein Gesicht! Denn mein herzbeklemmendes Erlebnis ist
der horror vor dem vacuum, das diese unbeschreibliche Ereignisfülle in
den Gemütern, in den Apparaten vorfindet.
Ich glaube: Daß dieser Krieg, wenn er die Guten nicht tötet, wohl eine
moralische Insel für die Guten herstellen mag, die auch ohne ihn gut
waren. Daß er aber die ganze umgebende Welt in ein großes Hinterland des
Betrugs, der Hinfälligkeit und des unmenschlichsten Gottesverrats
verwandeln wird, indem das Schlechte über ihn hinaus und durch ihn
fortwirkend, hinter vorgeschobenen Idealen fett wird und am Opfer
wächst. Daß sich in diesem Krieg, dem Krieg von heute, die Kultur nicht
erneuert, sondern nur durch Selbstmord vor dem Henker rettet. Daß er
mehr war als Sünde: daß er Lüge war, tägliche Lüge, aus der
Druckerschwärze floß wie Blut, eins das andere nährend,
auseinanderströmend, ein Delta zum großen Wasser des Wahnsinns. (…)
»Das Leben geht weiter«. Als es erlaubt ist.
Ich bin dafür, daß man den Leuten verbietet, das, was ich denke, zu
meinen.
Oft ritze ich mit der Feder meine Hand und weiß erst dann, daß ich
erlebt habe, was geschrieben steht.
Wort und Wesen – das ist die einzige Verbindung, die ich je im Leben
angestrebt habe.
Umgangssprache entsteht, wenn sie mit der Sprache nur so umgehn; wenn
sie sie wie das Gesetz umgehen; wie den Feind umgehen; wenn sie umgehend
antworten, ohne gefragt zu sein. Ich möchte mit ihr nicht Umgang haben;
ich möchte von ihr Umgang nehmen; die mir tags wie ein Rad im Kopf
umgeht; und nachts als Gespenst umgeht.
Wenn Tiere gähnen, haben sie ein menschliches Gesicht.
An vieles, was ich erst erlebe, kann ich mich schon erinnern.
Ein Sprichwort ensteht nur auf einem Stand der Sprache, wo sie noch
schweigen kann.
Wider besseres Wissen die Wahrheit zu sagen, sollte für ehrlos gelten.
Das ist es, was die Welt rebellisch macht: Überall ist Firma, aber
dahinter vielleicht doch, unseren Blicken unsichtbar, ein Firmament.
Überall ist Ware, aber dahinter vielleicht doch noch, unbehelligt, das
Wunder. Weil wir’s nicht sehen, sagen wir, es seien Materialisten. Wir
aber haben vom idealen Lebenszweck den Namen genommen, um ihn dem
Lebensmittel zu geben, dem Schweinespeck. Unser todsicheres Ingenium hat
den Idealen den Skalp abgezogen und dem Leben den Balg und verwendet sie
als Hülle, Marke und Aufmachung. Wir sind die Idealisten. Und gegen
diesen Zustand, das im Munde und im Schilde zu führen, wovon wir
bestreiten, daß es der andere im Herzen habe, weil er es nicht im Munde
und im Schilde führt, während doch schon dies ein Zeichen für jenes ist
und die Lebensgüter eben in der Trennung von Leben und Gütern gedeihen
und in der Verbindung verdorren – gegen diesen Zustand lehnt sich ein
Instinkt auf, der im politisch offenbarten Bewußtsein der Völker als
Neid, Raubgier, Revanchelust, unter allen Umständen aber als Haß in
Erscheinung tritt. Es ist der Haß gegen den Fortschritt und gegen die
eigene Möglichkeit, ihm zu erliegen. Es ist nicht allein der Stolz,
nicht so zu sein wie diese, sondern auch die Furcht, so zu werden wie
diese. Es ist das europäische Problem; das aber vermutlich erst von
einer nichtbeteiligten Seite gelöst werden wird.
Wo kommen all die Sünden nur hin, die die Menschheit täglich begeht?
Sollten überirdische Wesen nicht finden, daß der Äther schon zum
Schneiden dick sei?
Den hier ausgwählten Aphorismen liegt die Ausgabe: Karl Kraus, Schriften; Erste Abteilung,
Band 8, Aphorismen, herausgegeben von Christian Wagenknecht zugrunde.
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Karl
Kraus
Die letzten Tage der Menschheit
Tragödie in
fünf Akten mit Vorspiel und Epilog
Reihe Österreichs Eigensinn - 800 Seiten, gebunden
€ 28,– / sFr 38,20, WG 1111
Im Abonnement: € 25,90
Sfr 35,60
978-3-99027-006-6
»Wer ihn gehört
habe, der wolle nie mehr ins Theater gehen, das Theater sei
langweilig verglichen mit ihm, er allein sei ein ganzes Theater,
aber besser, und dieses Weltwunder, dieses Ungeheuer, dieses Genie
trug den höchst gewöhnlichen Namen Karl Kraus.« Elias Canetti
Die Fackel
online als gratis Volltext
Die 922 Nummern und rund 22.500 Seiten der vom
österreichischen Schriftsteller Karl Kraus 1899 gegründeten Zeitschrift
"Die Fackel" sind ab sofort dank eines Projekts des Austrian Academy
Corpus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) online
abrufbar.
Um Zugang zu erhalten, ist auf
aac.ac.at/fackel eine
Gratis-Registrierung nötig, auch eine Volltext-Suche ist möglich.
Getestet, und es funktioniert. |