Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme


Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


 

Petits riens (25)
    

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Unterlassene Hausaufgaben.- Kopfschüttelnd fragt man sich, wieso in unseren Schulen (wie die SZ in ihrer Nr.213 berichtet) »Tausende Lehrer« fehlen. Ist das eine unbedachte Folge der Klimakatastrophe oder einer anderen Unvorhersehbarkeit? Sind etwa plötzlich die Schüler massenweise vom Himmel gefallen oder wie die Pfifferlinge unseres Sommers aus dem Boden geschossen?

Wofür, fragt sich der Zeitgenosse der allseits diskutierten Big Data, haben wir Statistische Bundes- oder Landesämter? Wieso wird alles, was sich bewegt, von der Wiege bis zur Bahre staatlich erfasst & registriert – wenn nicht z.B. aufgrund der Geburtsregister die Zahl der potentiellen Schüler & Schülerinnen an jedem Ort der Bundesrepublik für jedes der kommenden Jahre & die kommenden Jahrzehnte im Voraus exakt zu berechnen (gewesen) wären? Ebenso ließe sich daraus die erforderliche Zahl von Grundschul- & auch von Gymnasiallehrern bestimmen. Gleiches trifft auf  das erforderliche Personal in den Kinderkrippen oder der Altenpflege zu. Und wenn unvorhergesehen durch Zuwanderung ein vermehrter Bedarf an Lehr-, bzw. Pflegepersonal erforderlich, bzw. absehbar ist, wäre doch deren Bedarf mit den statistischen Methoden jederzeit prognostizierbar.

Und wenn bei Kommunen, Ländern & der Republik insgesamt ein solcher Bedarf erkannt worden ist: warum sorgen dann nicht die öffentlichen Hände dafür, dass sowohl die Ausbildung in diesen Berufen finanziell gefördert, als auch die Berufsausübung finanziell attraktiv wird?

Unsere Gesellschaft vergöttert die Findigkeit des Algorithmus, bzw. die Aussagekraft der Statistik; sie scheint kein Heil außerhalb der allein seligmachenden kapitalistischen Ökonomie zu kennen. Warum aber instrumentalisiert sie nicht beide gezielt dafür, um die vitalen kollektiven Bedürfnisse prognostisch zu erkennen & mit den nun doch schon lange vorhandenen technischen Mitteln sowie administrativen Handhabungen optimal zu befriedigen? Dann stünde sie nicht jetzt wie der Ochs vorm Scheunento angesichts des Bedarfs von Tausenden von Lehrern. Könnte es sein, dass die politische  Klasse, an die die Gesellschaft ihre zentralen kollektiven Bedürfnisse  delegiert hat, ihre sowohl möglichen wie dringlichen operativen Hausaufgaben nicht gemacht hat & das exakt einer kollektiven unterlassenen Hilfeleistung entspricht? Macht gar die Angst vor dem geringsten Anflug einer »Planwirtschaft« unsere verantwortlichen »bürgerlichen« Politiker zu jämmerlichen Anarchisten?          

                                               *

Drakonische Notwehr - Als »liberal« galt einmal im gelebten gesellschaftlichen Alltag mit den Mitmenschen ein individuelles gesellschaftliches Verhalten, für das es viele Redensarten gibt, z.B.: Nicht päpstlicher als der Papst sein, Fünfe gerade sein lassen, ein Auge zudrücken, Nicht alles über einen Kamm scheren, Leben & leben lassen etc. Will sagen: nachsichtig zu sein & nicht in jedem Fall oder auf jeden Fall die rigide individuelle Einhaltung der Gesetze, Normen, Absprachen etc. zu verlangen oder gar einzuklagen, die doch generell den alltäglichen (kommunikativen) Umgang unter uns allen regeln.

Auf deren grundsätzlicher oder allgemeiner Akzeptanz & den sich daraus ergebenden Handlungsweisen für jeden von uns basiert schließlich der gesellschaftliche Frieden. Wo davon ausgegangen werden kann, dass alle sich an diese Verhaltensregeln halten, ist »liberal«, einen gelegentlichen Verstoß dagegen tolerabel zu behandeln: man lässt fünfe gerade sein, um nicht päpstlicher als der Papst sein & drückt lieber mal ein Auge zu, weil man vielleicht bedenkt, dass wir alle fehlbar sind & selbst der Gescheiteste einen Fehler begehen kann. Solche Toleranz, bzw. großzügige Duldung von temporären, unbeabsichtigten Fehlern oder Fehlverhaltensweisen tritt in jeder Kategorie der einst von David Riesman konstatierten »sozialen Charaktere« auf – ob es sich um den «traditionsgeleiteten«, den »innengeleiteten« oder den »außengeleiteten« Typus handelt.

Was aber, wenn wir zwar alle wissen & akzeptieren, dass es Gesetze, Normen, Absprachen etc. gibt, aber eine Vielheit unter uns sie laufend ignoriert, bzw. gegen sie verstößt? Auffälligstes Beispiel: der Straßenverkehr (Falschparken, Geschwindigkeitsbegrenzung, Hupen etc.) Hier steht die Häufigkeit der rücksichtslosen Verstöße mit der weitgehenden Folgenlosigkeit oder (falls man zufälligerweise polizeilich erwischt wurde) der Billigkeit der Strafe in engster Verbindung. D.h. die reduzierte Dichte polizeilicher Präsenz oder die Seltenheit einer Verfolgung & Anklage führt zu vielfacher Wurschtigkeit, gegenseitiger Respektlosigkeit oder lässiger Gesetzesübertretung, also zu der allseits beklagten »Verwilderung der Sitten« im Straßenverkehr.

Wenn solchem alltäglichen Fehl-Verhalten zugrunde liegt, dass es polizeidienstlich nicht erfasst, die Täter »normalerweise« nicht erkannt & juristisch nicht verfolgt oder weil das Strafmaß  im Falle einer Verurteilung (finanziell) geringfügig ist -: müsste da das Strafmaß nicht drakonisch erhöht werden, um  abschreckend zu wirken? Damit wenigstens die Gelegenheitstäter zur Raison gebracht werden?

Wäre das eine illiberale Konsequenz - oder bloß eine angemessene, pragmatische (außengeleitete) säkulare Pönitenzregelung, nachdem in der Gesellschaft offenbar sowohl der traditions- wie der innengeleitete Typus des Staatsbürgers massenhaft verschwunden ist?

                                               *

Morbus Trump – In der Tat ist es sehr problematisch, wenn eine Crew von Psychiatern befindet, eine öffentliche Person sei derart geistig krank, dass sie sofort aus der demokratisch legitimierten Verantwortung zu entfernen sei, »um irreparablen Schaden vom öffentlichen Wohl abzuwenden«. Eben haben 27 Psychoanalytiker, die in den USA einen Namen haben (& gewiss doch politisch wohl alle »Liberale« sind), dem amtierenden Präsidenten in dem Buch »The Dangerous Case of Donald Trump« nachgesagt, dass er eine permanente Gefahr für die USA sei (z.B. weil er allein einen Atomkrieg auslösen kann.). Sie verlangen angesichts der »Gefährlichkeit« Trumps, dass der Kongress unverzüglich zu einem Impeachment schreitet.

Das könnte der derzeitige US-Kongress allerdings nur, wenn hinreichend viele Republikaner der Amtsenthebung zustimmten (wie es bei Nixon absehbar war, der daraufhin  zurücktrat, um dem entehrenden Verfahren zu entgehen.) Obwohl der eine oder andere Republikaner den auf dem »Ticket« der Republikaner zur Macht gekommenen Tycoon Trump öffentlich kritisiert, wird die Mehrzahl von ihnen ein Impeachment verweigern – um bei ihren republikanischen Wählern nicht als »Verräter« an »ihrem Präsidenten« inkriminiert zu werden – so ungeliebt der selbstherrliche Elefant im Porzellanladen auch selbst bei ihnen insgeheim & persönlich  sein mag.

Aber von selbst zurücktreten wird Trump nie & nimmer. Um das zu prognostizieren, braucht man nicht eine akademische Koryphäe der USA zu sein! Das weiß & sieht jeder. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass Donald Trump aus welchem Grund auch immer seine individuelle Machtergreifung beenden würde.

Gleichwohl ist es ein starkes Stück, öffentlich für sowohl geistesschwach als auch geistesgestört erklärt zu werden, weil es einer Entmündigung gleichkommt. (Man denke nur an das grauenhafte Schicksal des bayerischen Psychiatrie- & Justizopfers Gustl Mollath!) In den USA gibt es für das öffentliche Urteilen von Psychiatern die sogenannte »Goldwater-Regel«. Sie ist eine freiwillige Selbstkontrolle & besagt, dass die US-Psychiater keine (Fern-) Diagnosen über eine öffentliche Person abgeben dürfen, es sei denn, sie hätten sie selbst untersucht.

Das ist bei den 27 psychiatrischen Koryphäen & ihrer Ferndiagnose des unberechenbaren »Launikers« nicht der Fall. Sie haben, wie alle Welt, ihr Urteil aus der Ansicht entwickelt, die ihr unfreiwilliger »Patient« durch seine öffentlichen Äußerungen & Handlungen vor aller Welt abgeliefert hat. Wenn je einer die Öffentlichkeit suchte wie der Fisch das Wasser, dann der Selbstdarsteller Trump – der, was derlei gockelndes Imponiergehabe angeht, Benito Mussolini mühelos in den Schatten stellt.

 »Die Diagnosen mögen wissenschaftlich und medizinisch zutreffen«, urteilt die konservative NZZ in einem Kommentar. Das Schweizer Blatt resümiert den außergewöhnlichen, Tabu brechenden Warnruf der 27 Psychiater wie folgt: Trumps »Verhalten erinnere an das eines Soziopathen, so sadistisch, grausam und mitleidlos agiere er. Sein Narzissmus reiche ins Krankhafte. Und seine Überempfindlichkeit nehme paranoide Ausmaße an«.

»Jedoch«, führt die NZZ an, die ihrem Kommentar im Internet auch noch eine Fotostrecke aller von Trump »gefeuerter« engster Mitarbeiter hinzugefügt hat, diese Diagnosen herauragender Psychiater seien »auch unseriös«. Und zwar »weil sie lediglich auf Tweets, Fernsehauftritten, Interviewaussagen des Präsidenten beruhen«. Und selbst wenn man z.B. noch den Eindruck der zum galoppierenden Fremdschämen hochnotpeinlichen satrapenhaften Inszenierung seiner ersten Kabinettsitzung oder seinen archaischen Austausch von martialischen Beleidigungen & Verfluchungen auf (niederster) Augenhöhe mit dem nordkoreanischen Diktator hinzunimmt, um das präsidiale Selbstbild noch farbiger, irritierender & evidenter zu machen, bleibt es dabei, dass keiner der 27 US-Psychiater Trump »persönlich untersucht  hat«.(NZZ)

»Unklar ist zudem«, spielt die NZZ dann ihren letzten Trumpf aus, »inwiefern Trump nur eine Rolle spielt. Dass er sich im gleichen Satz oft selbst widerspricht, kann auch kalkuliert sein - so kann man ihn auf keine Position festlegen«. (Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.)

Die Überlegung, wonach der ungewöhnlich exzentrische Präsident womöglich nur den A-Logiker, Selbstwidersprecher & notorischen Lügner spielt, ist weniger der verzweifelte unglückliche Versuch einer lachhaft unglückliche Ehrenrettung seines irrwitzigen Verhaltens als das bedauerlich-bedrohliche Symptom einer transatlantischen Infektion mit dem Morbus Trump. «Die Dummheit macht sich unerkennbar, indem sie unermessliche Ausmaße annimmt & dumm macht, wer ihr lange & oft genug begegnet!« (Brecht) Es ist die Ansteckungsgefahr, die solipsistischen Ignoranten im Weißen Haus so nachhaltig gefährlich macht.

Artikel online seit 01.08.17
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

Petits riens (IX)
Horrorfamilien &-feste - Fürsorgliche Belagerung - Wert, Schätzung
Text lesen


Petits riens (x)
Die Konkurrenz schläft nicht - Kinospekulation - Reisebekanntschaften - Café de France, trocken
Text lesen

Petits riens (elf)
Text lesen
Erhellung - Appell -
Calvinisten-Lehre - Fundamentales hier & dort

Petits riens (zwölf)
Text lesen
Privatissime öffentlich / Was tun?
Ahnungslose Nachfolge
.

Petits riens (dreizehn)
Text lesen
Die kleine Differenz - Literarische Bodenlosigkeit - Sprich, Erinnerung, sprich - Mit Mozart zu Boeing


Petits riens (vierzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Weniger ist mehr - Raumflucht - Flensburgisches Berchtesgaden - Wo steht das Klavier? - Tot zu Lebzeiten

Petits riens (fünfzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Aus zweiter Hand - Alla Calabrese - Noli me tangere - Fanpost

Petits riens (sechzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Landläufig - Die verlassenen Bücher - Ortsfetischismus

Petits riens (siebzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Eingeweide-Mahnung
- Hase & Igel mit Pedalen - Nachhilfe-Kommentatoren

Petits riens (achtzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Merkel semper triumphans -
Erkennbare Missgeburt - Kino-Vision - Findlingstückchen

Petits riens (neunzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Brecht/Trump - Self fulfilling prophecy - Schadenfreude

Petits riens (zwanzig)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Zeit haben - Nachtmahlen - Späte Erkenntnis - Das Gefäß bestimmt den Inhalt

Petits riens (21)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Korrektur - Aus der Geschichte lernen - Vorsicht & Nachsicht

Petits riens (22)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Deutsche Karrieren (mehrfach) - Teure Bürde der Verantwortung - Trumpeln

Petits riens (23)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
In die Tasche gesteckt - Stumm- & Tonfilm - Feuerwerksverpuffung

Petits riens (24)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Wo ich nichts weiß, macht mich nichts heiß - Verlust-Anzeige -Der kleine Unterschied - Kniefall -Allein diese beiden - Die Verwandlung


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten