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Walter Benjamin:
Nomade auf Sammlerschaft

Ein literarischer Parcours für neugierige Nachgeborene.


Von Herbert Debes

Nachdem Walter Benjamins Flucht vor den Nationalsozialisten 1940 mit seinem Tod am 26. September im französisch spanischen Grenzort Portbou jenes tragische und bis heute von Verschwörungstheorien umschwirrte Ende genommen hatte, war keineswegs abzusehen, welche Bedeutung Walter Benjamins Werk & Persönlichkeit für die Nachwelt einmal haben würde.
Ein »Werk« in klassischen Sinn hatte er nicht hinterlassen, und sein Nachlaß war in alle Welt zerstreut. Einen Teil seiner Manuskripte hatte er vor seiner Flucht nach Lourdes George Bataille anvertraut, der sie in der Pariser Nationalbibliothek verstecken und vor der Vernichtung retten konnte, weitere Teile lagen in Israel bei seinem Freund Gershom Scholem. In New York hielt Theodor W. Adorno im Institute for Social Research Schriften Benjamins hartnäckig unter Verschluß. Hannah Arendt, die mit Benjamin seit Paris befreundet gewesen war und auch ihn finanziell unterstützt hatte, besaß ebenfalls Abschriften und Manuskripte. Darüber hinaus befand sich ein weiterer Teil seiner Arbeiten im Besitz seiner geschiedenen Frau Dora in der Schweiz.
Eingedenk dieser kritischen Quellenlage darf man die bis heute diversen individuellen Sensibilitäten und Eitelkeiten ausgesetzte Editionsgeschichte der Gesammelten Werke Benjamins als äußerst spannungsgeladen bezeichnen.

Umso erstaunlicher ist es, daß sich unter diesen extrem widrigen Bedingungen Walter Benjamin »von allen deutschen Intellektuellen der Weimarer Republik und Ihres vom Hitlerreich aufgezwungenen Exils, (...) als der philosophisch Gewichtigste und der wirkungsgeschichtlich Lebendigste erwiesen hat. Die Vielfältigkeit seiner Impulse, das kontroverse Potential seiner Texte und die Radikalität seines Denkens wirken weiter fort.« 1
Zumal dies Benjamin selbst wohl am meisten erstaunt hätte, wie seine Selbsteinschätzung aus einem Brief an Martin Buber von 1915 eindeutig illustriert: »So unmöglich es mir ist, wirkendes Schrifttum zu verstehen, so unfähig bin ich, es zu verfassen.« 2
 
Wer aber war dieser Walter Benjamin, aus dessen bis heute strahlender Aura seit 1968 Generationen von Germanisten und Philosophen einen schimmernden Abglanz in Ihre Rezeption seines Denkens, Schreibens und Fühlens hineinzuretten suchen. Wie haben wir uns den Menschen Walter Benjamin vorzustellen?
Ein eindrückliches Porträt von ihm liefert uns Charlotte Wolff, die mit Dora und Walter Benjamin befreundet war, als diese noch in Grunewald in der Delbrückstrasse 23 wohnten: »Ich sehe Benjamin vor mir sitzen, hinter einem großen Tisch, auf dem sich Bücher und Manuskripte stapelten, die Wände seines Zimmers bis unter die Decke voll von Büchern, von einem kleinen Platz abgesehen, wo ein Bild von Paul Klee hing, ‚Angelus Novus’. Für ihn lebte dieses Bild und er sprach darüber, als sei es eine Person. Die geometrischen dünnen Linien gefielen mir nicht, aber ich akzeptierte seine Wertschätzung ohne weiteres. Für mich war Benjamin eine Autorität. Er war ein Mann, der sich für seine Ideen und Ihre Praxis engagierte. Bei Gesprächen pflegte er aufgeregt zu werden und mit schnellen Bewegungen im Zimmer auf- und abzugehen. Er war so dünn, dass seine Beine aussahen wie Stöcke; sein ganzer Körper schien ohne physische Substanz zu sein, als hätte er sich von ihm befreit; nur Mund und Augen zeigten die verborgenen Leidenschaften eines sehr emotionalen Charakters. Seine großen, vollen und sehr roten Lippen, das Zeichen seiner Sinnlichkeit, verdeckte ein Schnurrbart. Dicke Brillengläser verbargen seine Augen, aber dennoch blitzten einem Erregung und Leidenschaft entgegen. Sein gewelltes schwarzes Haar über einer vollkommen geformten Stirn erinnert mich an einen kleinen Jungen, und in mancher Hinsicht war er ein Kind mit einem Geist, der seinem Alter und seiner eigenen Zeit weit entwachsen war.« 3

»Er sammelte auf Schritt und Tritt Material wie ein Maler, der dauernd seine Umgebung skizziert. Er war ein ewiger Student des Ungewöhnlichen und der halben Töne ... Nichts war Walter fremd, weil er eine intuitive Kenntnis von allem hatte ... Es ist nicht überraschend, dass ein solcher Mensch sich niemandem und nichts überlegen fühlte. In diesem Sinne gehörte er zu allem und alles gehörte zu ihm.« 4

In einem Brief an Gershom Scholem beschreibt Benjamin seine Situation mit dem bezeichnenden Bild: »Ein Schiffbrüchiger, der auf einem Wrack treibt, indem er auf die Spitze des Mastbaums klettert, der schon zermürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben.

Es ist die große Unmittelbarkeit und verblüffende Gegenwärtigkeit seiner Texte, die selten Antworten geben, permanent Fragen aufwerfen, Gewissheiten der Lächerlichkeit preisgeben und Unsicherheiten manifestieren, die den schiffbrüchigen Nomaden auf Sammlerschaft Walter Benjamin gerade heute so lesenswert machen.

Quellen:
1 (Burkhardt Lindner (Hrsg.) Benjaminhandbuch, S. VIII, J.B.Metzler, Stuttgart 2011)
2 (Briefe, 127)
3 (Ch. Wolff, Innenwelt und Außenwelt, München 1971, S. 206.)
4 (Ch. Wolff, Innenwelt und Außenwelt, München 1971, S. 210.)




Hier beginnt der
literarische Parcours für neugierige Nachgeborene zitiert nach den Gesammelten Schriften Walter Benjamins, Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Ausgabe in Schriftenreihe "Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft« Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem.Frankfurt am Main, 1991


Über den Begriff der Geschichte


Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? Haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben?


Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu.


Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.


Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen »wie es denn eigentlich gewesen ist«. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.


Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Oberwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.


Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.


Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der »Ausnahmezustand«, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.


Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert »noch« möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.


Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.


Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden.


Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.


Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.


Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten.


Der Historismus stellt das »ewige« Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt es andern, bei der Hure »Es war einmal« im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.



Zentralpark


Der spleen ist das Gefühl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht.


Der Geschichtsverlauf, wie er sich unter dem Begriffe der Katastrophe darstellt, kann den Denkenden eigentlich nicht mehr in Anspruch nehmen als das Kaleidoskop in der Kinderhand, dem bei jeder Drehung alles Geordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt. Das Bild hat sein gründliches, gutes Recht. Die Begriffe der Herrschenden sind allemal die Spiegel gewesen, dank deren das Bild einer »Ordnung« zustande kam. - Das Kaleidoskop muß zerschlagen werden.


Das Grab als die geheime Kammer, in der Eros und Sexus ihren alten Streit vergleichen.


Die Impotenz ist die Grundlage des Passionsweges der männlichen Sexualität.

Die Entwertung der Dingwelt in der Allegorie wird innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überboten.


Auf dem Passionswege des Melancholikers sind die Allegorien die Stationen.


Das von der allegorischen Intention Betroffene wird aus den Zusammenhängen des Lebens ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert zugleich. Die Allegorie hält an den Trümmern fest. Sie bietet das Bild der erstarrten Unruhe.


Die Neurose produziert den Massenartikel in der psychischen Ökonomie. Er hat dort die Form der Zwangsvorstellung. Sie erscheint im Haushalte des Neurotikers in ungezählten Exemplaren als die immer gleiche.


Blumen schmücken die einzelnen Stationen dieses Kalvarienbergs. Es sind die Blumen des Bösen.

Die Schilderung des Verwirrten ist nicht dasselbe wie eine verwirrte Schilderung.


Das Labyrinth ist der richtige Weg für den, der noch immer früh genug am Ziel ankommt. Dieses Ziel ist der Markt.


Hasardspiel, Flanieren, Sammeln - Betätigungen, die gegen den spleen eingesetzt werden.


Mit den neuen Herstellungsverfahren, die zu Imitationen führen, schlägt sich der Schein in den Waren nieder.


Es gibt für die Menschen wie sie heute sind nur eine radikale Neuigkeit - und das ist immer die gleiche: der Tod.


Das Labyrinth ist die Heimat des Zögernden. Der Weg dessen, der sich scheut ans Ziel zu gelangen, wird leicht ein Labyrinth zeichnen. So tut es der Trieb in den Episoden, die seiner Befriedigung vorangehen. So tut es aber auch die Menschheit (die Klasse), die nicht wissen will, wohin es mit ihr hinausgeht.


Wenn es die Phantasie ist, die der Erinnerung die Korrespondenzen darbringt, so ist es das Denken, das ihr die Allegorien widmet. Die Erinnerung führt beide zu einander.


Die Embleme kommen als Waren wieder.


Die gegenständliche Umwelt des Menschen nimmt immer rücksichtsloser den Ausdruck der Ware an. Gleichzeitig geht die Reklame daran, den Warencharakter der Dinge zu überblenden. Der trügerischen Verklärung der Warenwelt widersetzt sich ihre Entstellung ins Allegorische. Die Ware sucht sich selbst ins Gesicht zu sehen. Ihre Menschwerdung feiert sie in der Hure.


Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind bei ihm nur die Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.


Der Grübler, dessen Blick, aufgeschreckt, auf das Bruchstück in seiner Hand fällt, wird zum Allegoriker.


Zum Bilde der »Rettung« gehört der feste, scheinbar brutale Zugriff.


Die Mode ist die ewige Wiederkehr des Neuen. - Gibt es trotzdem gerade in der Mode Motive der Rettung?


Männliche Impotenz - Schlüsselfigur der Einsamkeit - in ihrem Zeichen vollzieht sich der Stillstand der Produktivkräfte - ein Abgrund trennt den Menschen von seinesgleichen.


Die Langeweile im Produktionsprozeß entsteht mit seiner Beschleunigung (durch die Maschinen). Der Flaneur protestiert mit seiner ostentativen Gelassenheit gegen den Produktionsprozeß.


Das Andenken ist das Komplement des »Erlebnisses«. In ihm hat die zunehmende Selbstentfremdung des Menschen, der seine Vergangenheit als tote Habe inventarisiert, sich niedergeschlagen. Die Allegorie hat im neunzehnten Jahrhundert die Umwelt geräumt, um sich in der Innenwelt anzusiedeln. Die Reliquie kommt von der Leiche, das Andenken von der abgestorbenen Erfahrung her, welche sich, euphemistisch, Erlebnis nennt.


Im Gähnen tut sich der Mensch selber als Abgrund auf; er macht sich der langen Weile ähnlich, die ihn umgibt.


Die ewige Wiederkunft ist ein Versuch, die beiden antinomischen Prinzipien des Glücks miteinander zu verbinden: nämlich das der Ewigkeit und das des: noch einmal. - Die Idee der ewigen Wiederkunft zaubert aus der Misere der Zeit die spekulative Idee (oder die Phantasmagorie) des Glücks hervor.
Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene. Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde - sondern dieses Leben hier.


Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.


Im Flaneur, so könnte man sagen, kehrt der Müßiggänger wieder, wie ihn sich Sokrates als Gesprächspartner auf dem athenischen Markte auflas. Nur gibt es keinen Sokrates mehr, und so bleibt er unangesprochen. Und auch die Sklavenarbeit hat aufgehört, die ihm seinen Müßiggang garantiert.


Die Ware ist an die Stelle der allegorischen Anschauungsform getreten.



Einbahnstrasse


TANKSTELLE
Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Und zwar von solchen Fakten, wie sie zur Grundlage von Überzeugungen fast nie noch und nirgend geworden sind. Unter diesen Umständen kann wahre literarische Aktivität nicht beanspruchen, in literarischem Rahmen sich abzuspielen - vielmehr ist das der übliche Ausdruck ihrer Unfruchtbarkeit. Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle universale Geste des Buches in Flugblättern, Broschüren, Zeitschrift Artikeln und Plakaten ausbilden. Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen. Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muß.

FÜR MÄNNER
Überzeugen ist unfruchtbar.


NORMALUHR
Den Großen wiegen die vollendeten Werke leichter als jene Fragmente, an denen die Arbeit sich durch ihr Leben zieht. Denn nur der Schwächere, der Zerstreutere hat seine unvergleichliche Freude am Abschließen und fühlt damit seinem Leben sich wieder geschenkt. Dem Genius fällt jedwede Zäsur, fallen die schweren Schicksalsschläge wie der sanfte Schlaf in den Fleiß seiner Werkstatt selber. Und deren Bannkreis zieht er im Fragment. »Genie ist Fleiß.«


CHINAWAREN
In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er »kann«. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden.


Ein Kind, im Nachthemd, ist nicht zu bewegen, einen eintretenden Besuch zu begrüßen. Die Anwesenden, vom höheren sittlichen Standpunkt aus, reden ihm, um seine Prüderie zu bezwingen, vergeblich zu. Wenige Minuten später zeigt es sich, diesmal splitternackt, dem Besucher. Es hatte sich inzwischen gewaschen.


HANDSCHUHE
Beim Ekel vor Tieren ist die beherrschende Empfindung die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm sei etwas am Leben, was dem Ekel erregenden Tiere so wenig fremd sei, daß es von ihm erkannt werden könne.


KAISERPANORAMA
Reise durch die Deutsche Inflation

I.
In dem Schatze jener Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der bevorstehenden Katastrophe - indem es ja »nicht mehr so weitergehen« könne - besonders denkwürdig.
Die hilflose Fixierung an die Sicherheits- und Besitzvorstellungen der vergangenen Jahrzehnte verhindert den Durchschnittsmenschen, die höchst bemerkenswerten Stabilitäten ganz neuer Art, welche der gegenwärtigen Situation zugrunde liegen, zu apperzipieren. Da die relative Stabilisierung der Vorkriegsjahre ihn begünstigte, glaubt er, jeden Zustand, der ihn depossediert, für unstabil ansehen zu müssen. Aber stabile Verhältnisse brauchen nie und nimmer angenehme Verhältnisse zu sein und schon vor dem Kriege gab es Schichten, für welche die stabilisierten Verhältnisse das stabilisierte Elend waren. Verfall ist um nichts weniger stabil, um nichts wunderbarer als Aufstieg. Nur eine Rechnung, die im Untergange die einzige ratio des gegenwärtigen Zustandes zu finden sich eingesteht, käme von dem erschlaffenden Staunen über das alltäglich sich Wiederholende dazu, die Erscheinungen des Verfalls als das schlechthin Stabile und einzig das Rettende als ein fast ans Wunderbare und Unbegreifliche grenzendes Außerordentliches zu gewärtigen.
Die Volksgemeinschaften Mitteleuropas leben wie Einwohner einer rings umzingelten Stadt, denen Lebensmittel und Pulver ausgehen und für die Rettung menschlichem Ermessen nach kaum zu erwarten. Ein Fall, in dem Übergabe, vielleicht auf Gnade oder Ungnade, aufs ernsthafteste erwogen werden müßte. Aber die stumme, unsichtbare Macht, welcher Mitteleuropa sich gegenüber fühlt, verhandelt nicht. So bleibt nichts, als in der immerwährenden Erwartung des letzten Sturmangriffs auf nichts, als das Außerordentliche, das allein noch retten kann, die Blicke zu richten. Dieser geforderte Zustand angespanntester klagloser Aufmerksamkeit aber könnte, da wir in einem geheimnisvollen Kontakt mit den uns belagernden Gewalten stehen, das Wunder wirklich herbeiführen. Dahingegen wird die Erwartung, daß es nicht mehr so weitergehen könne, eines Tages sich darüber belehrt finden, dass es für das Leiden des einzelnen wie der Gemeinschaften nur eine Grenze, über die hinaus es nicht mehr weiter geht, gibt: die Vernichtung.

II.
Eine sonderbare Paradoxie: die Leute haben nur das engherzigste Privatinteresse im Sinne, wenn sie handeln, zugleich aber werden sie in ihrem Verhalten mehr als jemals bestimmt durch die Instinkte der Masse. Und mehr als jemals sind die Masseninstinkte irr und dem Leben fremd geworden. Wo der dunkle Trieb des Tieres - wie zahllose Anekdoten erzählen - aus der nahenden Gefahr, die noch unsichtbar scheint, den Ausgang findet, da verfällt diese Gesellschaft, deren jeder sein eigenes niederes Wohl allein im Auge hat, mit tierischer Dumpfheit aber ohne das dumpfe Wissen der Tiere, als eine blinde Masse jeder, auch der nächstliegenden Gefahr und die Verschiedenheit individueller Ziele wird belanglos vor der Identität der bestimmenden Kräfte. Wieder und wieder hat es sich gezeigt, daß ihr Hangen am gewohnten, nun längst schon verlorenen Leben so starr ist, daß es die eigentlich menschliche Anwendung des Intellekts, Voraussicht, selbst in der drastischen Gefahr vereitelt. So daß in ihr das Bild der Dummheit sich vollendet: Unsicherheit, ja Perversion der lebenswichtigen Instinkte und Ohnmacht, ja Verfall des Intellekts. Dieses ist die Verfassung der Gesamtheit deutscher Bürger.

III.
Alle näheren menschlichen Beziehungen werden von einer fast unerträglichen durchdringenden Klarheit getroffen, in der sie kaum standzuhalten vermögen. Denn indem einerseits das Geld auf verheerende Weise im Mittelpunkt aller Lebensinteressen steht, andererseits gerade dieses die Schranke ist, vor der fast alle menschliche Beziehung versagt, so verschwindet wie im Natürlichen so im Sittlichen mehr und mehr das unreflektierte Vertrauen, Ruhe und Gesundheit.

IV.
Nicht umsonst pflegt man vom »nackten« Elend zu sprechen. Was in seiner Schaustellung, welche Sitte zu werden begann unter dem Gesetz der Not und doch ein Tausendstel nur vom Verborgenen sichtbar macht, das Unheilvollste ist, das ist nicht das Mitleid oder das gleich furchtbare Bewußtsein eigener Unberührtheit, das im Betrachter geweckt wird, sondern dessen Scham. Unmöglich, in einer deutschen Großstadt zu leben, in welcher der Hunger die Elendsten zwingt, von den Scheinen zu leben, mit denen die Vorübergehenden eine Blöße zu decken suchen, die sie verwundet.

V.
»Armut schändet nicht.« Ganz wohl. Doch sie schänden den Armen. Sie tun's und sie trösten ihn mit dem Sprüchlein. Es ist von denen, die man einst konnte gelten lassen, deren Verfalltag nun längst gekommen. Nicht anders wie jenes brutale »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen«. Als es Arbeit gab, die ihren Mann nährte, gab es auch Armut, die ihn nicht schändete, wenn sie aus Mißwachs und anderem Geschick ihn traf. Wohl aber schändet dies Darben, in das Millionen hineingeboren, Hunderttausende verstrickt werden, die verarmen. Schmutz und Elend wachsen wie Mauern als Werk von unsichtbaren Händen um sie hoch. Und wie der einzelne viel ertragen kann für sich, gerechte Scham aber fühlt, wenn sein Weib es ihn tragen sieht und selber duldet, so darf der einzelne viel dulden, solang er allein, und alles, solang er's verbirgt. Aber nie darf einer seinen Frieden mit Armut schließen, wenn sie wie ein riesiger Schatten über sein Volk und sein Haus fällt. Dann soll er seine Sinne wachhalten für jede Demütigung, die ihnen zuteil wird und solange sie in Zucht nehmen, bis sein Leiden nicht mehr die abschüssige Straße des Grams, sondern den aufsteigenden Pfad der Revolte gebahnt hat. Aber hier ist nichts zu hoffen, solange jedes furchtbarste, jedes dunkelste Schicksal täglich, ja stündlich diskutiert durch die Presse, in allen Scheinursachen und Scheinfolgen dargelegt, niemandem zur Erkenntnis der dunklen Gewalten verhilft, denen sein Leben hörig geworden ist.

VI.
Dem Ausländer, welcher die Gestaltung des deutschen Lebens obenhin verfolgt, der gar das Land kurze Zeit bereist hat, erscheinen seine Bewohner nicht minder fremdartig als ein exotischer Volksschlag. Ein geistreicher Franzose hat gesagt: »In den seltensten Fällen wird sich ein Deutscher über sich selbst klar sein. Wird er sich einmal klar sein, so wird er es nicht sagen. Wird er es sagen, so wird er sich nicht verständlich machen.« Diese trostlose Distanz hat der Krieg nicht etwa nur durch die wirklichen und legendären Schandtaten, die man von Deutschen berichtete, erweitert. Was vielmehr die groteske Isolierung Deutschlands in den Augen anderer Europäer erst vollendet, was in ihnen im Grunde die Einstellung schafft, sie hätten es mit Hottentotten in den Deutschen zu tun (wie man dies sehr richtig genannt hat), das ist die Außenstehenden ganz unbegreifliche und den Gefangenen völlig unbewußte Gewalt, mit welcher die Lebensumstände, das Elend und die Dummheit auf diesem Schauplatz die Menschen den Gemeinschaftskräften untertan machen, wir nur das Leben irgendeines Primitiven von den Clangesetzlichkeiten bestimmt wird. Das europäischste aller Güter, jene mehr oder minder deutliche Ironie, mit der das Leben des einzelnen disparat dem Dasein jeder Gemeinschaft zu verlaufen beansprucht, in die er verschlagen ist, ist den Deutschen gänzlich abhanden gekommen.
VII.
Die Freiheit des Gespräches geht verloren. Wenn früher unter Menschen im Gespräch Eingehen auf den Partner sich von selbst verstand, wird es nun durch die Frage nach dem Preise seiner Schuhe oder seines Regenschirmes ersetzt. Unabwendbar drängt sich in jede gesellige Unterhaltung das Thema der Lebensverhältnisse, des Geldes. Dabei geht es nicht sowohl um Sorgen und Leiden der einzelnen, in welchen sie vielleicht einander zu helfen vermöchten, als um die Betrachtung des Ganzen.
Es ist, als sei man in einem Theater gefangen und müsse dem Stück auf der Bühne folgen, ob man wolle oder nicht, müsse es immer wieder, ob man wolle oder nicht, zum Gegenstand des Denkens und Sprechens machen.

VIII.
Wer sich der Wahrnehmung des Verfalls nicht entzieht, der wird unverweilt dazu übergehen, eine besondere Rechtfertigung für sein Verweilen, seine Tätigkeit und seine Beteiligung an diesem Chaos in Anspruch zu nehmen. So viele Einsichten ins allgemeine Versagen, so viele Ausnahmen für den eigenen Wirkungskreis, Wohnort und Augenblick. Der blinde Wille, von der persönlichen Existenz eher das Prestige zu retten, als durch die souveräne Abschätzung ihrer Ohnmacht und ihrer Verstricktheit wenigstens vom Hintergrunde der allgemeinen Verblendung sie zu lösen, setzt sich fast überall durch. Darum ist die Luft so voll von Lebenstheorien und Weltanschauungen, und darum wirken sie hierzulande so anmaßend, weil sie am Ende fast stets der Sanktion irgendeiner ganz nichtssagenden Privatsituation gelten. Eben darum ist sie auch so voll von Trugbildern, Luftspiegelungen einer trotz allem über Nacht blühend hereinbrechenden kulturellen Zukunft, weil jeder auf die optischen Täuschungen seines isolierten Standpunktes sich verpflichtet.

IX.
Die Menschen, die im Umkreise dieses Landes eingepfercht sind, haben den Blick für den Kontur der menschlichen Person verloren. Jeder Freie erscheint vor ihnen als Sonderling. Man stelle sich die Bergketten der Hochalpen vor, jedoch nicht gegen den Himmel abgesetzt, sondern gegen die Falten eines dunklen Tuches. Nur undeutlich würden die gewaltigen Formen sich abzeichnen. Ganz so hat ein schwerer Vorhang Deutschlands Himmel verhängt und wir sehen die Profilierung selbst der größten Menschen nicht mehr.
X.
Aus den Dingen schwindet die Wärme. Die Gegenstände des täglichen Gebrauchs stoßen den Menschen sacht aber beharrlich von sich ab. In summa hat er tagtäglich mit der Überwindung der geheimen Widerstände und nicht etwa nur der offenen -, die sie ihm entgegensetzen, eine ungeheure Arbeit zu leisten. Ihre Kälte muß er mit der eigenen Wärme ausgleichen, um nicht an ihnen zu erstarren und ihre Stacheln mit unendlicher Geschicklichkeit anfassen, um nicht an ihnen zu verbluten. Von seinen Nebenmenschen erwarte er keine Hilfe. Schaffner, Beamte, Handwerker und Verkäufer - sie alle fühlen sich als Vertreter einer aufsässigen Materie, deren Gefährlichkeit sie durch die eigene Rohheit ins Licht zu setzen bestrebt sind. Und der Entartung der Dinge, mit welcher sie, dem menschlichen Verfalle folgend, ihn züchtigen, ist selbst das Land verschworen. Es zehrt am Menschen wie die Dinge, und der ewig ausbleibende deutsche Frühling ist nur eine unter zahllosen verwandten Erscheinungen der sich zersetzenden deutschen Natur. In ihr lebt man, als sei der Druck der Luftsäule, dessen Gewicht jeder trägt, wider alles Gesetz in diesen Landstrichen plötzlich fühlbar geworden.

XI.
Der Entfaltung jeder menschlichen Bewegung, mag sie geistigen oder selbst natürlichen Impulsen entspringen, ist der maßlose Widerstand der Umwelt angesagt. Wohnungsnot und Verkehrsteuerung sind am Werke, das elementare Sinnbild europäischer Freiheit, das in gewissen Formen selbst dem Mittelalter gegeben war, die Freizügigkeit, vollkommen zu vernichten. Und wenn der mittelalterliche Zwang den Menschen an natürliche Verbände fesselte, so ist er nun in unnatürliche Gemeinsamkeit verkettet. Weniges wird die verhängnisvolle Gewalt des um sich greifenden Wandertriebes so stärken, wie die Abschnürung der Freizügigkeit, und niemals hat die Bewegungsfreiheit zum Reichtum der Bewegungsmittel in einem größeren Mißverhältnis gestanden.

XII.
Wie alle Dinge in einem unaufhaltsamen Prozeß der Vermischung und Verunreinigung um ihren Wesensausdruck kommen und sich Zweideutiges an die Stelle des Eigentlichen setzt, so auch die Stadt. Große Städte, deren unvergleichlich beruhigende und bestätigende Macht den Schaffenden in einen Burgfrieden schließt und mit dem Anblick des Horizonts auch das Bewußtsein der immer wachenden Elementarkräfte von ihm zu nehmen vermag, zeigen sich allerorten durchbrochen vom eindringenden Land. Nicht von der Landschaft, sondern von dem, was die freie Natur Bitterstes hat, vom Ackerboden, von Chaussee, vom Nachthimmel, den keine rot vibrierende Schicht mehr verhüllt. Die Unsicherheit selbst der belebten Gegenden versetzt den Städter vollends in jene undurchsichtige und im höchsten Grade grauenvolle Situation, in der er unter den Unbilden des vereinsamten Flachlandes die Ausgeburten der städtischen Architektonik in sich aufnehmen muß.

XIII.
Eine edle Indifferenz gegen die Sphären des Reichtums und der Armut ist den Dingen, die hergestellt werden, völlig abhanden gekommen. Ein jedes stempelt seinen Besitzer ab, der nur die Wahl hat, als armer Schlucker oder Schieber zu erscheinen. Denn während selbst der wahre Luxus von der Art ist, daß Geist und Geselligkeit ihn zu durchdringen und in Vergessenheit zu bringen vermögen, trägt, was hier von Luxuswaren sich breit macht, eine so schamlose Massivität zur Schau, daß jede geistige Ausstrahlung daran zerbricht.
XIV.
Aus den ältesten Gebräuchen der Völker scheint es wie eine Warnung an uns zu ergehen, im Entgegennehmen dessen, was wir von der Natur so reich empfangen, uns vor der Geste der Habgier zu hüten. Denn wir vermögen nichts der Muttererde aus Eigenem zu schenken. Daher gebührt es sich, Ehrfurcht im Nehmen zu zeigen, indem von allem, was wir je und je empfangen, wir einen Teil an sie zurückerstatten, noch ehe wir des Unseren uns bemächtigen. Diese Ehrfurcht spricht aus dem alten Brauch der libatio. Ja vielleicht ist es diese uralte sittliche Erfahrung, welche selbst in dem Verbot, die vergessenen Ähren einzusammeln und abgefallene Trauben aufzulesen, sich verwandelt erhielt, indem diese der Erde oder den segenspendenden Ahnen zugute kommen. Nach athenischem Brauch war das Auflesen der Brosamen bei der Mahlzeit untersagt, weil sie den Heroen gehören. - Ist einmal die Gesellschaft unter Not und Gier soweit entartet, daß sie die Gaben der Natur nur noch raubend empfangen kann, daß sie die Früchte, um sie günstig auf den Markt zu bringen, unreif abreißt und jede Schüssel, um nur satt zu werden, leeren muß, so wird ihre Erde verarmen und das Land schlechte Ernten bringen.
VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR

Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt.


Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen, daß die Chancen seines Eindringens in die archaische Stille des Buches gering geworden sind. Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden dichter mit jedem folgenden Jahre werden.


Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variablerer Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der befehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen.


DEUTSCHE TRINKT DEUTSCHES BIER!
Der Pöbel ist von dem frenetischen Haß gegen das geistige Leben besessen, der die Gewähr für dessen Vernichtung in der Abzählung der Leiber erkannt hat. Wo man's ihnen irgend verstattet, stellen sie sich in Reih und Glied, ins Trommelfeuer und zur Warenhausse drängen sie marschmäßig. Keiner sieht weiter als in den Rücken des Vordermanns und jeder ist stolz, dergestalt vorbildlich für den Folgenden zu heißen. Das haben im Felde die Männer seit Jahrhunderten herausgehabt, aber den Parademarsch des Elends, das Anstellen, haben die Weiber erfunden.


ANKLEBEN VERBOTEN!


Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen


I.
Wer an die Niederschrift eines größeren Werks zu gehen beabsichtigt, lasse sich's wohl sein und gewähre sich nach erledigtem Pensum alles, was die Fortführung nicht beeinträchtigt.

II.
Sprich vom Geleisteten, wenn du willst, jedoch lies während des Verlaufes der Arbeit nicht daraus vor. Jede Genugtuung, die du dir hierdurch verschaffst, hemmt dein Tempo. Bei der Befolgung dieses Regimes wird der zunehmende Wunsch nach Mitteilung zuletzt ein Motor der Vollendung.

III.
In den Arbeitsumständen suche dem Mittelmaß des Alltags zu entgehen. Halbe Ruhe, von schalen Geräuschen begleitet, entwürdigt. Dagegen vermag die Begleitung einer Etude oder von Stimmengewirr der Arbeit ebenso bedeutsam zu werden, wie die vernehmliche Stille der Nacht. Schärft diese das innere Ohr, so wird jene zum Prüfstein einer Diktion, deren Fülle selbst die exzentrischen Geräusche in sich begräbt.

IV.
Meide beliebiges Handwerkszeug. Pedantisches Beharren bei gewissen Papieren, Federn, Tinten ist von Nutzen. Nicht Luxus, aber Fülle dieser Utensilien ist unerläßlich.
V.
Laß dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister.

VI.
Mache deine Feder spröde gegen die Eingebung, und sie wird mit der Kraft des Magneten sie an sich ziehen. Je besonnener du mit der Niederschrift eines Einfalls verziehst, desto reifer entfaltet wird er sich dir ausliefern. Die Rede erobert den Gedanken, aber die Schrift beherrscht ihn.

VII.
Höre niemals mit Schreiben auf, weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) einzuhalten oder das Werk beendet ist.

VIII.
Das Aussetzen der Eingebung fülle aus mit der sauberen Abschrift des Geleisteten. Die Intuition wird darüber erwachen.


IX.
Nulla dies sine linea - wohl aber Wochen.

X.
Betrachte niemals ein Werk als vollkommen, über dem du nicht einmal vom Abend bis zum hellen Tage gesessen hast.

XI.
Den Abschluß des Werkes schreibe nicht im gewohnten Arbeitsraume nieder. Du würdest den Mut dazu in ihm nicht finden.

XII.
Stufen der Abfassung: Gedanke - Stil- Schrift. Es ist der Sinn der Reinschrift, daß in ihrer Fixierung die Aufmerksamkeit nur mehr der Kalligraphie gilt. Der Gedanke tötet die Eingebung, der Stil fesselt den Gedanken, die Schrift entlohnt den Stil.

XIII.
Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.



Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen

I.
Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.

II.
Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.

III.
Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu tun.

IV.
Kritik muß in der Sprache der Artisten reden. Denn die Begriffe des cénacle sind Parolen. Und nur in den Parolen tönt das Kampfgeschrei.

V.
Immer muß »Sachlichkeit« dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache es wert ist, um welche der Kampf geht.

VI.
Kritik ist eine moralische Sache. Wenn Goethe Hölderlin und Kleist, Beethoven und Jean Paul verkannte, so trifft das nicht sein Kunstverständnis, sondern seine Moral.

VII.
Für den Kritiker sind seine Kollegen die höhere Instanz. Nicht das Publikum. Erst recht nicht die Nachwelt.

VIII.
Die Nachwelt vergißt oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors.

IX.
Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.

X.
Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.

XI.
Kunstbegeisterung ist dem Kritiker fremd. Das Kunstwerk ist in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister.
XII.
Die Kunst des Kritikers in nuce: Schlagworte prägen, ohne die Ideen zu verraten. Schlagworte einer unzulänglichen Kritik verschachern den Gedanken an die Mode.

XIII.
Das Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den Kritiker vertreten fühlen.


NR. I3

I.
Bücher und Dirnen kann man ins Bett nehmen.

II.
Bücher und Dirnen verschränken die Zeit. Sie beherrschen die Nacht wie den Tag und den Tag wie die Nacht.

III.
Büchern und Dirnen sieht es keiner an, daß die Minuten ihnen kostbar sind. Läßt man sich aber näher mit ihnen ein, so merkt man erst, wie eilig sie es haben. Sie zählen mit, indem wir uns in sie vertiefen.

IV.
Bücher und Dirnen haben seit jeher eine unglückliche Liebe zueinander.

V.
Bücher und Dirnen - sie haben jedes ihre Sorte Männer, die von ihnen leben und sie drangsalieren. Bücher die Kritiker.

VI.
Bücher und Dirnen in öffentlichen Häusern - für Studenten.


VII.
Bücher und Dirnen - selten sieht einer ihr Ende, der sie besaß. Sie pflegen zu verschwinden, bevor sie vergehen.

VIII.
Bücher und Dirnen erzählen so gern und so verlogen, wie sie es geworden sind. In Wahrheit merken sie's oft selber nicht. Da geht man jahrelang »aus Liebe« allem nach und eines Tages steht als wohl beleibtes Korpus auf dem Strich, was »studienhalber« immer nur darüber schwebte.

IX.
Bücher und Dirnen lieben es, den Rücken zu wenden, wenn sie sich ausstellen.

X.
Bücher und Dirnen machen viel junge.

XI.
Bücher und Dirnen - »Alte Betschwester-junge Hure«. Wieviele Bücher waren nicht verrufen, aus denen heut die Jugend lernen soll!

XII.
Bücher und Dirnen tragen ihren Zank vor die Leute.

XIII.
Bücher und Dirnen - Fußnoten sind bei den einen, was bei den andern Geldscheine im Strumpf.


GALANTERIEWAREN
Unvergleichliche Sprache des Totenkopfes: völlige Ausdruckslosigkeit - das Schwarz seiner Augenhöhlen - vereint er mit wildestem Ausdruck - den grinsenden Zahnreihen.

Einer, der sich verlassen glaubt, liest und es schmerzt ihn, daß die Seite, die er umschlagen will, schon aufgeschnitten ist, daß nicht einmal sie mehr ihn braucht.


Gaben müssen den Beschenkten so tief betreffen, daß er erschrickt.


Als ein geschätzter, kultivierter und eleganter Freund mir sein neues Buch übersandte, überraschte ich mich dabei, wie ich, im Begriff es zu öffnen, meine Krawatte zurecht rückte.


Wer die Umgangsformen beachtet, aber die Lüge verwirft, gleicht einem, der sich zwar modisch kleidet, aber kein Hemd auf dem Leibe trägt.


Wenn der Zigarettenrauch in der Spitze und die Tinte im Füllhalter gleich leichten Zug hätten, dann wäre ich im Arkadien meiner Schriftstellerei.

Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.

ANTIQUITÄTEN

MEDAILLON. An allem, was mit Grund schön genannt wird, wirkt paradox, daß es erscheint.


Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.


BOGENLAMPE
Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.


HALTEPLATZ FÜR NICHT MEHR ALS 3 DROSCHKEN
Es gibt in Mietskasernen eine Musik von so todestrauriger Ausgelassenheit, daß man nicht glauben will, sie sei für den, der spielt: es ist Musik für die möblierten Zimmer, wo einer sonntags in Gedanken sitzt, die bald mit diesen Noten sich garnieren wie eine Schüssel überreifes Obst mit welken Blättern.


KRIEGERDENKMAL
KARL KRAUS. Kein Posten ist je treuer gehalten worden und keiner je war verlorener. Hier steht, der aus dem Tränenmeere seiner Mitwelt schöpft wie eine Danaide, und dem der Fels, der seine Feinde begraben soll, aus den Händen rollt wie dem Sisyphos. Was hilfloser als seine Konversion? Was ohnmächtiger als seine Humanität? Was hoffnungsloser als sein Kampf mit der Presse? Was weiß er von den wahrhaft ihm verbündeten Gewalten? Doch welches Seherturn der neuen Magier läßt sich vergleichen mit dem Lauschen dieses Zauberpriesters, dem eine abgeschiedene Sprache selbst die Worte eingibt ?


OPTIKER
Im Sommer fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen.


Im Frühling gewahrt man bei hellem Sonnenwetter das junge Laub, im kalten Regen die noch unbelaubten Äste.


Wie ein gastlicher Abend verlaufen ist, das sieht an der Stellung der Teller und Tassen, der Becher und Speisen, wer zurückblieb, auf einen Blick.


Grundsatz der Werbung: sich siebenfach machen; siebenfach sich um die stellen, die man begehrt.


Der Blick ist die Neige des Menschen.


POLIKLINIK
Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafes. Lange Betrachtung: denn er benutzt die Zeit, da noch das Glas - die Linse, unter der er den Patienten vornimmt - nicht vor ihm steht. Dann packt er sein Besteck allmählich aus: Füllfederhalter, Bleistift und Pfeife. Die Menge der Gäste macht, amphitheatralisch angeordnet, sein klinisches Publikum. Kaffee, vorsorglich eingefüllt und ebenso genossen, setzt den Gedanken unter Chloroform.
Worauf der sinnt, hat mit der Sache selbst nicht mehr zu tun, als der Traum des Narkotisierten mit dem chirurgischen Eingriff. In den behutsamen Lineamenten der Handschrift wird zugeschnitten, der Operateur verlagert im Innern Akzente, brennt die Wucherungen der Worte heraus und schiebt als silberne Rippe ein Fremdwort ein. Endlich näht ihm mit feinen Stichen Interpunktion das Ganze zusammen und er entlohnt den Kellner, seinen Assistenten, in bar.


DIESE FLÄCHEN SIND ZU VERMIETEN
Narren, die den Verfall der Kritik beklagen. Denn deren Stunde ist längst abgelaufen. Kritik ist eine Sache des rechten Abstands. Sie ist in einer Welt zu Hause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war. Die Dinge sind indessen viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt. Die »Unbefangenheit«, der »freie Blick« sind Lüge, wenn nicht der ganz naive Ausdruck planer Unzuständigkeit geworden. Der heute wesenhafteste, der merkantile Blick ins Herz der Dinge heißt Reklame.


WEGEN UMBAU GESCHLOSSEN!
Im Traum nahm ich mir mit einem Gewehr das Leben. Als der Schuß fiel, erwachte ich nicht, sondern sah mich eine Weile als Leiche liegen. Dann erst wachte ich auf.


TECHNISCHE NOTHILFE
Es gibt nichts Ärmeres als eine Wahrheit, ausgedrückt wie sie gedacht ward. In solchem Fall ist ihre Niederschrift noch nicht einmal eine schlechte Photographie. Auch weigert sich die Wahrheit (wie ein Kind, wie eine Frau, die uns nicht liebt) vorm Objektiv der Schrift, wenn wir uns unters schwarze Tuch gekauert haben, still und recht freundlich zu blicken.


KURZWAREN
Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.


Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein - niemals ihre Legitimierung.


Der Ernährer aller Menschen ist Gott und der Staat ihr Unterernährer.
Der Ausdruck der Leute, die sich in Gemäldegalerien bewegen, zeigt eine schlecht verhehlte Enttäuschung darüber, daß dort nur Bilder hängen.


NACHTGLOCKE ZUM ARZT
Die sexuelle Erfüllung entbindet den Mann von seinem Geheimnis, das in Sexualität nicht besteht, in ihrer Erfüllung aber, und vielleicht in ihr allein, durchschnitten - nicht gelöst - wird. Es ist der Fessel zu vergleichen, die ihn an das Leben bindet. Die Frau durchschneidet sie, der Mann wird frei zum Tode, weil sein Leben das Geheimnis verloren hat.
Damit gelangt er zur Neugeburt, und wie die Geliebte ihn vom Banne der Mutter befreit, so löst die Frau buchstäblicher von der Mutter Erde ihn, die Hebamme, welche jene Nabelschnur durchschneidet, die aus Naturgeheimnis geflochten ist.


Das bürgerliche Dasein ist das Regime der Privatangelegenheiten.


Passagenwerk

Das Empire ist der Stil des revolutionären Terrorismus, dem der Staat Selbstzweck ist. So wenig Napoleon die funktionelle Natur des Staates als Herrschaftsinstrument der Bürgerklasse erkannte, so wenig erkannten die Baumeister seiner Zeit die funktionelle Natur des Eisens, mit dem das konstruktive Prinzip seine Herrschaft in der Architektur antritt.


Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf.


Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware.


Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will.


Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden.
Das Interieur ist die Zufluchtsstätte der Kunst. Der Sammler ist der wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er verleiht ihnen nur den Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts.


Der Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sich sein Asyl in der Menge.


Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide baut dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem Warenumsatze nutzbar macht. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs.


Mit der Herstellung von Massenartikeln kommt der Begriff der Spezialität auf.
Und Langeweile ist das Gitterwerk, vor dem die Kurtisane den Tod neckt.


Hier hat die Mode den dialektischen Umschlageplatz zwischen Weib und Ware - zwischen Lust und Leiche - eröffnet. Ihr langer flegelhafter Kommis, der Tod, mißt das Jahrhundert nach der Elle, macht wegen der Ersparnis selbst den Mannequin und leitet eigenhändig den Ausverkauf, der auf französisch »revolution« heißt. Denn nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche, Provokation des Todes durch das Weib und zwischen geiler memorierter Lache bitter geflüsterte Zwiesprach mit der Verwesung. Das ist Mode. Darum wechselt sie so geschwinde; kitzelt den Tod und ist schon wieder eine andere, neue, wenn er nach ihr sich umsieht, um sie zu schlagen.


Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. - Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu machen.


Ich formulierte, »daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist, als eine Idee«.


Im Fetischismus legt der Sexus die Schranken zwischen organischer und anorganischer Welt nieder. Kleidung und Schmuck stehen mit ihm im Bunde. Er ist im Toten wie im Fleisch zuhause. Auch weist das letztere selber ihm den Weg, im ersten sich einzurichten.


Moden sind ein Medikament, das die verhängnisvollen Wirkungen des Vergessens, im kollektiven Maßstab, kompensieren soll. Je kurzlebiger eine Zeit, desto mehr ist sie an der Mode ausgerichtet.


Der despotische Schrecken der Klingel, der über der Wohnung waltet, hat seine Kraft ebenfalls aus dem Zauber der Schwelle. Gellend schickt etwas sich an, die Schwelle zu überschreiten.


Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten. Daß wir es wissen oder zu wissen glauben, das ist fast immer nichts als der Ausdruck unserer Seichtheit oder Zerfahrenheit. Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten. - Nun wäre zu wissen wichtig: der dialektische Gegensatz zur Langweile?


Langeweile ist ein warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns wenn wir träumen.


Man muß sich nicht die Zeit vertreiben - muß die Zeit zu sich einladen. Sich die Zeit vertreiben (sich die Zeit austreiben, abschlagen): der Spieler. Zeit spritzt ihm aus allen Poren. - Zeit laden, wie eine Batterie Kraft lädt: der Flaneur. Endlich der Dritte: er lädt die Zeit und gibt in veränderter Gestalt - in jener der Erwartung - wieder ab: der Wartende.


Zu früh gekommenes Glas, zu frühes Eisen. In den Passagen ist das sprödeste und das stärkste Material gebrochen, gewissermaßen geschändet worden. Mitte vorigen Jahrhunderts wußte man noch nicht, wie mit Glas und Eisen gebaut werden muß. Darum ist der Tag so schmutzig und trübe, der durch die Scheiben zwischen eisernen Trägern von oben hereinfällt.


Die ersten Eisenbauten dienten transitorischen Zwecken: Markthallen, Bahnhöfe, Ausstellungen. Das Eisen verbindet sich also sofort mit funktionalen Momenten im Wirtschaftsleben. Aber was damals funktional und transitorisch war, beginnt heute in verändertem Tempo formal und stabil zu wirken.


Die Reklame ist die List, mit der der Traum sich der Industrie aufdrängt.


Die Weltausstellungen waren die hohe Schule, in der die vom Konsum abgedrängten Massen die Einfühlung in den Tauschwert lernten. »Alles ansehen, nichts anfassen.«

Dem, was die Dichter selbst von ihren Schriften sagen, soll man niemals trauen.


Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit.


Es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, indem es, während ein letzter Schauer (der Schauer des Erworbenwerdens ) darüber hinläuft, erstarrt. Alles Erinnerte, Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß seines Besitztums.


Das Sammeln ist ein Urphänomen des Studiums: der Student sammelt Wissen.


Der Allegoriker bildet gleichsam zum Sammler den Gegenpol. Er hat es aufgegeben, die Dinge durch die Nachforschung nach dem aufzuhellen, was etwa ihnen verwandt und zu ihnen gehörig wäre. Er löst sie aus ihrem Zusammenhange und überläßt es von Anfang an seinem Tiefsinn, ihre Bedeutung aufzuhellen.


Warum der Blick in fremde Fenster immer auf eine Familie beim Essen oder auf einen einsamen, mit rätselhaft Nichtigem beschäftigten Mann unter der Hängelampe am Tische trifft? Solch ein Blick ist die Urzelle von Kafkas Werk.


Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im Haus sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners. Wohnung wird im extremsten Falle zum Gehäuse. Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt.

Der Grübler, dessen Blick, aufgeschreckt, auf das Bruchstück in seiner Hand fällt, wird zum Allegoriker.


Die Allegorien stehen für das, was die Ware aus den Erfahrungen macht, die die Menschen dieses Jahrhunderts haben.


Die barocke Allegorie sieht die Leiche nur von aussen, Baudelaire vergegenwärtigt sie von innen.


Im Flaneur, so könnte man sagen, kehrt der Müßiggänger wieder, wie ihn sich Sokrates als Gesprächspartner auf dem athenischen Markte auflas. Nur gibt es keinen Sokrates mehr. Und auch die Sklavenarbeit hat aufgehört, die ihm seinen Müßiggang garantiert.


Der Nebel erscheint als Trost des Einsamen. Er erfüllt den Abgrund, der um ihn ist.


Das Grab als die geheime Kammer, in der Eros und Sexus ihren alten Streit vergleichen.


Gelächter ist zerschlagene Artikulation.


Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte.


Die ersten Weckreize vertiefen den Schlaf.


Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traumes.


Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.


Eigentlich ist die Wachsfigur der Schauplatz, in der der Schein der Humanität sich überschlägt. In ihr kommt nämlich Oberfläche, Teint und Kolorit des Menschen so vollkommen und unüberbietbar treu zum Ausdruck, daß diese Wiedergabe seines Scheins sich selber überschlägt und nun die Puppe nichts darstellt als die schreckliche durchtriebene Vermittlung zwischen Eingeweide und Kostüm.


Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist.


Dialektik der flanerie: einerseits der Mann, der sich von allem und allen angesehen fühlt, der Verdächtige schlechthin, andererseits der völlig Unauffindbare, Geborgene. Vermutlich ist es eben diese Dialektik, die »Der Mann der Menge« entwickelt.


1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen.


Die beste Kunst, so, träumend den Nachmittag in das Netz des Abends einzufangen, ist das Plänemachen.


Straßen sind die Wohnung des Kollektivs. Das Kollektiv ist ein ewig unruhiges, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände.


Die eigentümliche Unschlüssigkeit des Flanierenden. Wie das Warten der eigentliche Zustand des unbeweglich Kontemplativen so scheint das Zweifeln der des Flanierenden zu sein.


Der Flaneur ist der Beobachter des Marktes. Sein Wissen steht der Geheimwissenschaft von der Konjunktur nahe. Er ist der in das Reich des Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalisten.


Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes eines Straßennamens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt.


Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.


Der Asphalt fand zuerst auf den Bürgersteigen Anwendung.


Die Stadt ist die Realisierung des alten Menschheitstraumes vom Labyrinth.


Erst das Zusammentreffen zweier verschiedener Straßennamen macht die Magie der »Ecke«.

Zuhälter sind die eisernen Naturen dieser Straße und ihre gläsernen Spröden sind Huren.


In der Figur des Flaneurs hat die des Detektivs sich präformiert. Dem Flaneur mußte an einer gesellschaftlichen Legitimierung seines Habitus liegen. Es paßte ihm ausgezeichnet, seine Indolenz als eine scheinbare präsentiert zu sehen, hinter der in Wirklichkeit die angespannte Aufmerksamkeit eines Beobachters sich verbirgt, der den ahnungslosen Missetäter nicht aus den Augen läßt.


Für den Flanierenden geht folgende Verwandlung mit der Straße vor sich: sie leitet ihn durch eine entschwundene Zeit. Er schlendert die Straße entlang; ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern so doch in eine Vergangenheit, die um so tiefer sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Vergangenheit einer Jugend. Warum aber die seines gelebten Lebens? Der Boden, über den er hingeht, der Asphalt ist hohl. Seine Schritte wecken eine erstaunliche Resonanz, das Gas, das auf die Fliesen herunterstrahlt, wirft ein zweideutiges Licht auf diesen doppelten Boden. Die Figur des Flaneurs rückt wie' von einem Uhrwerk getrieben über die steinerne Straße mit dem doppelten Boden dahin. Und im Innern, wo dieses Triebwerk steckt, pocht(?) wie bei altem Spielzeug eine Spieluhr. Die spielt das Lied: »Aus der Jugendzeit / aus der Jugendzeit / folgt ein Lied. mir immerdar.«


Was wissen denn wir von Straßenecken, von Bordschwellen, von der Architektur des Pflasters, die wir niemals die Straße, Hitze, Schmutz und Kanten der Steine unter den nackten Sohlen gefühlt, niemals die Unebenheiten zwischen den breiten Fließen auf ihre Eignung, uns zu leiten, untersuchten?


Die Presse ruft einen Überfluß von Informationen auf den Plan, deren Reizwirkung um so stärker ist, je mehr sie irgendwelcher Verwertung entzogen sind. (Die Ubiquität des Lesers allein würde möglich machen, sie zu verwerten; und deren Illusion wird denn auch erzeugt.) Das reale Verhältnis dieser Informationen zum gesellschaftlichen Dasein ist in der Abhängigkeit dieses Informationsbetrieb(s) von den Börseninteressen und in seiner Ausrichtung auf sie beschlossen. - Mit der Entfaltung des Informationsbetriebes setzt sich die geistige Arbeit parasitär auf jede materielle, so wie das Kapital mehr und mehr jede materielle Arbeit in seine Abhängigkeit bringt.


Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.


Der Sandwichman ist die letzte Inkarnation des Flaneurs.


In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner.


Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden musste einmal von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos gereinigt werden.


Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.


Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (denn hier handelt es sich um den Kommentar, Ausdeutung in den Einzelheiten) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist Theologie, im andern Philologie die Grundwissenschaft.


Jede Kindheit leistet etwas Großes, Unersetzliches für die Menschheit.
Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann.


Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.


Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben.


Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.


Zur Rettung gehört der feste, scheinbar brutale Zugriff.


Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das StillstelIen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild.


Geschichte schreiben heißt, Jahreszahlen ihre Physiognomie geben.


Die jeweils Lebenden erblicken sich im Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten. Der Historiker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenen zu Tische lädt.


Kein Mädchen würde sich entschließen, Hure zu werden, rechnete sie allein mit der tarifmäßigen Entlohnung durch ihre' Partner.


Gewiß, die Liebe der Hure ist käuflich. Nicht aber die Scham ihres Kunden. Die sucht für diese Viertelstunde ein Versteck und findet das genialste: im Gelde. So viele Nuancen der Zahlung wie Nuancen des Liebesspiels, träge und schnelle, heimliche oder brutale. Was ist das? Die schamgerötete Wunde am Körper der Gesellschaft sondert Geld ab und heilt. Sie überzieht sich mit metallnem Schorf.


Das Spiel ist das höllische Gegenstück zur Musik der himmlischen Heerscharen.


Die Liebe zur Prostituierten ist die Apotheose der Einfühlung in die Ware.


Es ist eine eigentümliche Wollust im Benennen von Straßen.


Die Frauen sehen sich hier mehr als anderswo, daraus ist die bestimmte Schönheit der Pariserinnen Spiegel entsprungen. Ehe ein Mann sie anblickt, sehen sie sich schon zehnmal gespiegelt.


Das »Moderne« die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diesem Gebiete gibt. Es handelt sich nicht darum, daß »immer wieder dasselbe« geschieht, geschweige dass hier von der ewigen Wiederkunft die Rede wäre. Es handelt sich vielmehr darum, daß das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies Neueste in allen Stücken immer das Nämliche bleibt. - Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle. Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen das »Moderne« sich ausprägt, hieße die Hölle darstellen.


Die Erfahrung unserer Generation: daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird.


Wer Muße genießt, der entrinnt der Fortuna, wer sich dem Müßiggang ergibt, der fällt ihr anheim.


Die Erfahrung ist der Ertrag der Arbeit, das Erlebnis ist die Phantasmagorie des Müßiggängers.


Statt des Kraftfeldes, das mit der Entwertung der Erfahrung der Menschheit verloren geht, erschließt sie sich ein neues in Gestalt der Planung. Die Masse der unbekannten Gleichförmigkeiten wird gegen die erprobte Vielfalt des Überlieferten aufgeboten. »Planen« ist seither nur noch in großem Maßstab möglich.


Müßiggang hat wenig Repräsentatives, wird aber weit mehr als die Muße ausgestellt. Der Bürger hat begonnen, sich der Arbeit zu schämen. Er, für den sich die Muße nicht mehr von selbst versteht, stellt seinen Müßiggang gern zur Schau.


Zum Feuilleton. Es galt, das Gift der Sensation der Erfahrung gleichsam intravenös einzuspritzen; das heißt, der geläufigen Erfahrung den Erlebnischarakter abzumerken. Dem bot sich die Erfahrung des Großstadtmenschen am ersten dar. Der Feuilletonist macht sich das zu nutze. Er verfremdet dem Großstädter seine Stadt. So ist er einer der ersten Techniker, die durch das gesteigerte Bedürfnis nach Erlebnissen auf den Plan gerufen werden.


Gewohnheiten sind die Armatur der Erfahrungen. Von Erlebnissen wird diese Armatur angegriffen.

Unter den Bedingungen des Müßigganges kommt der Einsamkeit ganz besondere Bedeutung zu. Erst die Einsamkeit emanzipiert nämlich das Erlebnis virtuell von jedem, wie auch immer geringen oder dürftigen Ereignis: sie stellt ihm, auf dem Wege der Einfühlung, jeden beliebigen Passanten als sein Substrat bei. Einfühlung ist nur dem Einsamen möglich; darum ist die Einsamkeit eine Bedingung des echten Müßigganges.


Die Figur des Flaneurs. Er gleicht dem Haschischesser, nimmt den Raum in sich auf wie dieser. Im Haschischrausch beginnt der Raum uns anzublinzeln: »Nun, was mag denn in mir sich alles zugetragen haben?« Und mit der gleichen Frage macht der Raum an den Flanierenden sich heran.


Das Wahre hat keine Fenster. Das Wahre sieht nirgends zum Universum hinaus.


Die Konkretion löscht das Denken, die Abstraktion entzündet es.

Im Jazz emanzipiert sich der Lärm. Der Jazz tritt in einem Moment auf, da der Lärm immer mehr aus dem Produktions-, Verkehrs- und Handelsprozeß ausgeschaltet wird.


Geschichtliche Wahrheitserkenntnis ist nur möglich als Aufhebung des Scheins: diese Aufhebung aber soll nicht Verflüchtigung, Aktualisierung des Gegenstandes bedeuten sondern ihrerseits die Konfiguration eines schnellen Bildes annehmen. Das schnelle kleine Bild im Gegensatz zur wissenschaftlichen Gemütlichkeit.


Die Mode. Eine Art Wettrennen um den ersten Platz in der gesellschaftlichen Schöpfung. Das Rennen wird jeden Augenblick von neuem gelaufen. Gegensatz von Mode und Uniform.


Fragmente vermischten Inhalts


BEGRIFFE lassen sich überhaupt nicht denken, sondern nur Urteile.

ARTEN DES WISSENS

I.
Das Wissen der Wahrheit
Dieses gibt es nicht. Denn die Wahrheit ist der Tod der intentio.

II.
Das erlösende Wissen
Dieses gibt es als das Wissen, mit dem die Erlösung bewußt und daher vollendet wird. Dieses gibt es aber nicht als das Wissen, welches die Erlösung herbeiführt.

III.
Das lehrbare Wissen
Seine bedeutendste Erscheinungsform ist die Banalität

IV.
Das bestimmende Wissen
Dieses das Handeln bestimmende Wissen gibt es. Es ist jedoch nicht als »Motiv«, sondern kraft seiner sprachlichen Struktur bestimmend. Das sprachliche Moment in der Moralität hängt mit dem Wissen zusammen. Fest steht, daß dieses das Handeln bestimmende Wissen zum Schweigen führt. Es ist daher als solches nicht lehrbar. Mit dem Begriff des Tao dürfte dieses bestimmende Wissen sehr verwandt sein. Dagegen ist es dem Wissen der Sokratischen Tugendlehre strikt entgegen gesetzt. Denn dieses ist für das Handeln motivierend, nicht den Handelnden bestimmend.

V.
Das Wissen aus Einsicht oder Erkenntnis
Dieses ist ein höchst rätselhaftes. Es ist etwas, das im Bezirke des Wissens der Gegenwart im Bezirke der Zeit gleich sieht. Es existiert nur in einem unfaßbaren Übergang. Wozwischen? Zwischen der Ahnung und zwischen dem Wissen der Wahrheit.


Kapitalismus ist eine Religion aus bloßem Kult, ohne Dogma.


Kunstwerke sind nur in der Idee schön. In dem Maße sind sie es nicht, als sie gemäß dem Kanon sind, statt in ihm.


Die Farbe ist schön, aber es hat keinen Sinn, schöne Farben hervorzubringen, weil Farbe Schönheit als Eigenschaft, nicht als Erscheinung im Gefolge ist.


Farbe nimmt in sich auf, indem sie färbt und sich hingibt.

Farbe muß gesehen werden.


Farbe verhält sich zu Optik nicht, wie Linie zu Geometrie.


Das Licht der Ideen kämpft mit dem Dunkel des schöpferischen Grundes und in diesem Kampfe erzeugt es das Farbenspiel der Phantasie.


Nichts eigentlich Lebendiges ist wahrhaft schön. Daher ist das wesenhaft Schöne Schein, wo es sich an das eigentlich Lebendige heftet.


DER HUMOR
Der Humor ist die Rechtsprechung ohne Urteil, d.h. ohne Wort. Während Witz essentiell auf dem Wort beruht - daher seine von Schlegel betonte Verwandtschaft mit der Mystik - beruht der Humor auf der Vollstreckung.


CHAPLIN
Nach der Aufführung von Zirkus. Chaplin erlaubt es dem Zuschauer nie, über ihn zu lächeln. Der muß sich vor Lachen biegen oder tieftraurig sein.

Chaplin grüßt mit seiner Melone und es sieht aus als wenn der Deckel eines überlaufenden Kessels sich hebt.

Seine Kleider sind imprägniert gegen alle Schicksalsschläge. Er sieht aus wie einer, der vier Wochen nicht aus den Kleidern gekommen ist.

Er kennt kein Bett, wenn er sich irgendwo hinlegt, so ist es ein Schubkarren oder eine Wippe.

Durchnäßt, verschwitzt, in viel zu engen Kleidern ist Chaplin das sinnfällige Exempel der Goetheschen Wahrheit: Der Mensch wäre nicht der Vornehmste auf der Erde, wenn er nicht zu vornehm für sie wäre.


Dann kommt als Großaufnahme sein durch und durch zerknitterter Leib, wie er auf einem Stein in der Arena Platz nimmt; nun glaubt man den Schluß mit Händen zu greifen, und dann erhebt er sich und man sieht ihn von hinten, wie er langsam sich weiter und weiter entfernt, mit dem Gang Charlie Chaplins, seine eigene wandelnde Echtheitsmarke(,) wie am Ende der übrigen Filme sich das Signet der Ursprungsfirma einstellt. Und hier nun, an der einzigen Stelle, wo kein Einschnitt ist und man ihm mit den Blicken ewig folgen möchte, hier eben ist Schluß!


Zu Micky-Maus
Aus einem Gespräch mit (Gustav) Glück und (Kurt) Weill. -
Eigentumsverhältnisse im Micky-Maus-Film: hier erscheint zum ersten Mal, daß einem der eigne Arm, ja der eigne Körper gestohlen werden kann.

Der Weg eines Akts im Amt hat mehr Ähnlichkeit mit einem von jenen, die Micky-Maus zurücklegt(,) als mit dem des Marathonläufers. In diesen Filmen bereitet sich die Menschheit darauf vor, die Zivilisation zu überleben.


Die Micky-Maus stellt dar, daß die Kreatur noch bestehen bleibt, auch wenn sie alles Menschenähnliche von sich abgelegt hat. Sie durchbricht die auf den Menschen hin konzipierte Hierarchie der Kreaturen. Diese Filme desavouieren, radikaler als je der Fall war, alle Erfahrung. Es lohnt sich in einer solchen Welt nicht, Erfahrungen zu machen.
Ähnlichkeit mit dem Märchen. Niemals seitdem sind die wichtigsten und vitalsten Ereignisse unsymbolischer, atmosphärenloser gelebt worden. Der unermeßliche Gegensatz zu Maeterlinck und zu Mary Wigman. Alle Micky-Maus-Filme haben zum Motiv den Auszug, das Fürchten zu lernen.
Also nicht »Mechanisierung«, nicht das »Formale«, nicht ein »Mißverständnis« hier für den ungeheuren Erfolg dieser Filme die Basis, sondern daß das Publikum sein eignes Leben in ihnen wiedererkennt.

Online seit 21.08.2014

 


Walter Benjamins Ausweis der Bibliothèque
Nationale, Paris, 1940.


Heiner Müller liest Walter Benjamin:
Den Pessimismus organisieren



Walter Bendix Schoenflies Benjamin

*15.07.1892 in Berlin, 26. 09.1940 in Portbou
Ein kurzer biographischer Abriss

Walter Benjamin
und die europäische Moderne
Ein kurze Einführung in sein Denken von Jürgen Nielsen-Sikora

Die europäische Moderne bietet kein einheitliches Bild. Ihr Prozessverlauf muss angesichts der verschiedenen Zeit-, Raum- und Gesellschaftshorizonte als heterogen bezeichnet werden. Im Zentrum dieser Heterogenität steht eine Idee von Fortschritt, die es näher zu bestimmen gilt. In diesem Kontext ist insbesondere das Interdependenzverhältnis von Progression und Bedrohung, von Entwicklung und Krise zu bedenken. Es spiegelt sich nicht zuletzt im dialektischen Spannungsfeld von Fortschrittsideologie einerseits und Archaik und Mythos andererseits wider. weiterlesen


Linke Melancholie
(1931)
Ein rhetorisches Glanzstück:
Kritik lesen
Benjamins Tirade gegen:
»...Die linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky sind die proletarische Mimikry des zerfallenen Bürgertums.«

Walter Benjamin
Die Kunst der Kritik

Von Jürgen Nielsen Sikora
Artikel lesen
Über
Band 13 der Kritischen Gesamtausgabe, welche die Kritiken und Rezensionen Walter Benjamins versammelt.
»Benjamin bringt mit seinen Kritiken und Rezensionen die Kulissen zum Einsturz. Es ist mehr als überfällig, sie zu einer ebenbürtigen Form der Literatur zu promovieren.«

Der Kampf um die Armbinde
Von Friedhelm Lövenich
Walter Benjamins allegorische Wissenschaft
»Der Intellektuelle ist der geborene Feind des Kleinbürgertums, weil er es ständig in sich selbst überwinden muß.«


Der Denker zwischen Saturn und Mickey Mouse
Von Goedart Palm
Artikel lesen
»
Bei Benjamin gelten Denkbewegungen und Details mehr als das Ergebnis, das nicht darin bestehen kann, sich einen ideologisch gefestigten Zugang zur Geschichte zu schaffen. Vieles wurde von Walter Benjamin »angedacht« und – schon im Blick auf die höchst wechselvollen und schließlich katastrophalen Lebensumstände - nicht so entfaltet, wie es ihm selbst angelegen gewesen ist. Insofern hat Jean-Michel Palmier mehr als einen unvollendeten Versuch zurückgelassen, es ist ein notwendiges Werk der Aufklärung über die trotz vieler Interpretationen weiterhin provozierende Verschlungenheit der Benjaminschen Motive.« Leseprobe

Kaiserpanorama
Reise durch die Deutsche Inflation
Von Walter Benjamin
Artikel lesen
I. In dem Schatze jener Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der bevorstehenden Katastrophe - indem es ja »nicht mehr so weitergehen« könne - besonders denkwürdig.

»Bei Kafka schweigen die Sirenen.«

Der große Essay:

Franz Kafka
Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Von Walter Benjamin


Potemkin

Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wußte man, daß jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lange. weiterlesen


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