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Russell und der Schildkrötenturm

Die dramatische Geschichte der Erforschung unseres Denkens präsentiert auf geniale Weise der preisgekrönte Comicband »Logicomix«.

Von Thomas Hummitzsch

Logicomix – so lautet der schlichte, nahezu technische Titel für einen spektakulären Comic zur Entstehung der Logik im 19. und 20. Jahrhundert. Darin werden Leben und Wirken des weltberühmten Philosophen Bertrand Russell sowie die Bugwellen seiner Beiträge zur wissenschaftlichen Logik in einer fantasievollen Erzählung (in der Erzählung einer Erzählung) verdichtet und konzentriert.

Die beiden Autoren Apostolos Doxiadis und Christos H. Papadimitriou erzählen Zweierlei: Zum einen die Genese des vorliegenden Comics und zum anderen Russells Ergründung der Logik. Sie lassen den Philosophen in einem Vortrag nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf sein wissenschaftliches Werk und dessen Erbe zurückblicken. In dieser Ergründung der Logik und ihrer historischen Genese will Russell eine Antwort auf die Frage finden, ob ein Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg an der Seite Englands tatsächlich unvernünftig ist (wie die amerikanischen Isolationisten meinen), weil Kriege als solche unvernünftig sind. Eine höchst aktuelle Debatte, die sich leicht auf aktuelle Krisenherde übertragen ließe. Diese brennenden Fragen nach Krieg und seiner Sinnhaftigkeit bilden den gesellschaftlichen Hintergrund zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor dem Russell seine Theorien entwickelte.

Russell erzählt zunächst von seiner Kindheit auf dem Anwesen der Großeltern in Pembroke Lodge, der streng religiösen Erziehung durch die Großmutter und den Ausflügen in die geheime Bibliothek seines früh verstorbenen Großvaters, wo er heimlich vom „verbotenen Baum der Erkenntnis“ kostet. Der Mathematiklehrer weckte mit Euklids Lehrsatz das Interesse des jungen Russell für Mathematik und Logik und gab ihm ein Lebensmotto mit auf den Weg: „Wissenschaft ist unsere einzige Hoffnung“.

Dieser Wissenschaft widmete Russell sein Leben. Der Comic zeichnet seine akademische Laufbahn in Cambridge nach und führt dabei die Eckpfeiler seines Zweifelns und Forschens eingängig vor Augen. Ob Euklids Elemente, Newtons Infinitesimalrechnung oder Leibniz Calculus Ratiocinator, keine Säule der Mathematik lässt Russell unversehrt, um an „gesichertes Wissen zur Welt“ zu gelangen. Bis er mit der „verhunzten“ Mathematik seiner Zeit bricht, weil sie auf unbewiesenen Voraussetzungen und Zirkelschlüssen aufbaut. Er vergleicht sie mit einem auf einer Schildkröte ruhenden Kosmos, der ständig vom Panzer des Tieres zu rollen droht. Sein Leben lang versucht er, diesen Kosmos auf einen sicheren Sockel zu legen. „Die Mathematiker stellen sich nicht dem eigentlichen Problem. Wir müssen ihnen das Ausmaß des Durcheinanders bewusst machen“, meint Russell am Ende des ersten Comicteils. In der Hoffnung, in Kontinentaleuropa Antworten auf seine Fragen zur inneren Logik der Mathematik zu finden, sucht er dort die Granden seiner Zunft auf – Frege, Cantor, Poincaré und Hilbert.

In Jena sucht er den geistigen Vater der modernen Logik Gottlob Frege in einem Zustand der inneren Verwirrung auf. In Halle findet er den Erfinder der Mengenlehre Georg Cantor in einem abgeschiedenen Kloster – vom Wahnsinn gepackt. Die Gespräche mit beiden bleiben ohne Früchte. Russell reist weiter nach Paris, zum weltgrößten Zusammentreffen der Mathematiker am Rande der Pariser Weltausstellung, weiter auf der Suche nach festen Grundlagen der Mathematik und erlebt dort den Streit der beiden wichtigsten Mathematiker seiner Zeit, der Franzose Henri Poincaré und der deutsche David Hilbert, um den Umgang mit der Mengenlehre – für Russell ein gefundenes Fressen.

Bestätigt in seinen Zweifeln an der wackeligen Basis der Mathematik versucht Russell nach seiner Reise, die Grundlagen zur Mathematik auf festen Boden zu stellen. Dabei stößt er auf ein Phänomen, das ihn berühmt machen wird, das Russell’sche Paradox. „Enthält die Menge aller Mengen, die sich selbst enthalten, sich selbst? Tut sie es, tut sie’s nicht. Und wenn sie‘s nicht tut, tut sie es.“ Spätestens an dieser Stelle ist man dankbar, dass man es mit einem Comic und nicht mit einem Sachbuch zu tun hat, denn die Zeichner schaffen Bilder für das, was dem Verstand zu sperrig ist. Dies ist neben der liebevollen Charakterisierung der Größen der Mathematik einer der wichtigsten Verdienste des Comics. Autoren und Zeichnern ist es auf geniale Weise gelungen, die höchst komplexen wissenschaftlichen Debatten in Russells Zeit in eine spielerisch leichte und eingängige Text-Bild-Sprache zu übersetzen. Das Paradox erklären sie anhand Russells Barbier-Paradox: Man stelle sich eine Stadt mit einer strengen Rasiervorschrift vor, die lautet: „Wer sich nicht selbst den Bart schneidet, wird vom Barbier rasiert.“ Doch wer rasiert den Barbier, wenn dieser nur diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren? Tut er es selbst, verstößt er gegen die Regel, rasiert er sich nicht, wird die Regel nicht eingehalten.

Mit seinem Paradox riss Russell das Grundlagengerüst der Mathematik ein. Aristoteles, Euklid, Leibniz, Boole, Cantor, Frege, Hilbert – die gesamte Mathematikwelt war auf den Kopf gestellt. Bereits geschriebene Traktate, wie Freges Grundgesetze der Arithmetik, verloren von einer Sekunde auf die andere ihren Wert, weil sie auf nun nachgewiesenen Widersprüchen aufbauten. Wissenschaftliche Karrieren wirkten innerhalb von Sekunden als paradoxe Irrfahrten durch ein Caroll’sches Wunderland Namens Mathematik.

Gemeinsam mit seinem Freund und Vertrauten Alfred N. Whitehead beschließt Russell, die Mathematik neu aufzubauen – ein jahrelanges Projekt, gefüllt voller Wahnsinn, Hochmut und Fall. Um erstmalig alle mathematischen Wahrheiten aus einem Satz von Axiomen und Schlussregeln zu konstruieren, verwirft Russell ständig Annahmen und Axiome, mit denen sie vorher monatelang gearbeitet haben. Wie die Danaiden füllen sie ihr fließendes Wissen immer wieder in eine undichte Schale, ohne zur absoluten Gewissheit zu kommen. Trotz innerer Zerrissenheit ob ihres Werkes veröffentlichen sie die Principia Mathematica – ein dreibändiges Werk, mit dem sie berühmt werden sollten – dann doch. „All unsere Bemühungen, dieses Tier auf einen festen Boden zu stellen, [endeten] in einem Turm von Schildkröten, eine unter der anderen“, resümiert Russell das Ergebnis der jahrelangen Arbeit.

Der dritte Teil widmet sich dann der akademischen Kontroverse rund um Russells Erkenntnisse und seiner Prägung durch die Ereignisse des ersten Weltkriegs. Insbesondere sein Austausch mit dem deutlich jüngeren Ludwig Wittgenstein, der zunächst sein Schüler und später Freund und intellektuellen Gesprächspartner war, werden hier zentral behandelt. Wesentliches Element in diesem Austausch sind, wen wundert es, Genese, Schaffung und Diskussion von Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus. In dessen Logisch-Philosophischen Abhandlungen geht es um die Welt und die Begriffe darin – eine Logik der Sprache und zugleich eine Sprache der Logik. Wittgensteins Thesen lösten die weiteren Logik-Debatten aus, rege und kontrovers insbesondere vom sog. Wiener Kreis betrieben.

Russells permanente Suche nach Wahrheit, dieses Aufwerfen von Problemen und Umwerfen von bisher als unumstößlich geltenden Theorien liest sich wie ein Detektivroman, Suspense soweit das Auge reicht. Geschickt arrangieren die Autoren tatsächlich stattgefundene und fiktive Begegnungen und Dialoge, wissenschaftliche Kontroversen und akademische Auseinandersetzungen zu einem spannenden Plot um Erforschung der Grundlagen unseres Denkens. Im Sinne der Dramaturgie springt die Erzählung von Logicomix immer wieder zwischen diesen den verschiedenen Erzählebenen hin und her. Permanent wechseln die Perspektiven, aus denen die großen Fragen der Logik beleuchtet werden, so dass ein Panorama des Logischen und seiner Grenzen entsteht.

Der Comic in der franko-belgischen Tradition der Ligne Claire ist dabei vielschichtig, ausgestattet mit zahlreichen doppelten Böden, durch die man auf die nächsten Ebenen fällt. Zuweilen fließen Form und Inhalt – wie übrigens auch bei den abgebildeten wissenschaftlichen Erörterungen der Logik – ineinander über, als seien sie auf das Strengste miteinander verknüpft. Fragen der Logik stehen in jeder denkbaren Weise im Mittelpunkt dieses Comics. Mathematische Theorien, philosophische Diskussionen und die Grundfragen des menschlichen Miteinanders werden dabei nicht nur einfach am Rande berührt, sondern leichthändig thematisiert, ohne es dabei an Tiefgang vermissen zu lassen. Dass der Comicband dafür schon zahlreiche internationale Preise erhalten hat, verwundert nicht.

Insbesondere Wittgensteins Philosophie und die Erkenntnis, dass die Logik nicht uneingeschränkt auf die Lebensrealität anwendbar ist, haben Russell hinsichtlich der Ausgangsfrage, ob ein Kriegseintritt der USA unvernünftig sei, weil Pazifismus eine vernünftigere Position ist, skeptisch werden lassen. Seine Geschichte der Logik will er selbst als warnende Fabel gegen vorgefertigte Lösungen verstanden wissen. „Sie zeigt, dass das Anwenden von Formeln nicht ausreicht – zumindest dann nicht, wenn Sie es mit wirklich großen Problemen zu tun haben.“ Eine allgemeingültige Antwort auf die Frage gebe es nicht, so schließt er, die richtige Antwort müsse jeder für sich selbst finden – abseits von Allgemeinplätzen.

Die Geschichte der Logik schließt mit ihrer Entzauberung durch die Realität des Krieges. Den Siegeszug logischer Prozesse mittels Computertechnik deuten die Zeichner in einem Epilog an, der zugleich auch Prolog für einen weiteren Comic zur Geschichte des Computers sein könnte. Man darf gespannt sein.
 

Apostolos Doxiadis & Christos H. Papadimitriou (Autoren),
Alecos Papadatos & Annie Di Donna (Zeichner)
Logicomix
Eine epische Suche nach Wahrheit
Übersetzt von Ebi Naumann
Atrium Verlag. Zürich 2010
352 Seiten
24,90 Euro
ISBN: 3855350698

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