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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Glanz&Elend - Die Zeitschrift
176 Seiten, die es in sich haben:
»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Der
großformatige Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren.
Mit Texten von Hannah Ahrendt,
Wassili Grossman, Nicolàs Gomez Davila, Gert Neumann, Dieter Leisegang, Fernando Pessoa, u.a.

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Christoph Schlingensief, 1960-2010

Der Worst-Case-Künstler wird uns fehlen:

Von Peter V. Brinkemper


Mit Christoph Schlingensief verliert die deutsche Kultur einen multi-personalen Typus des hypertheatralischen Schock-Intellektuellen, einen genialen Produzenten subversiver Anti-Spektakel, wie er in der angepassten Medien- und Kulturlandschaft selten anzutreffen ist. Schlingensief ist nicht der Erlöser von den Problemen der heutigen digitalen Kulturindustrie, aber er hat in seinem bis zuletzt spürbaren jungenhaft-naiven Drive viele Spuren ausgelegt für den benötigten Weg aus der fortschreitenden mediokratischen Verblödung der trägen Wohlstands- und Wellness-Gesellschaft.

Schlingensief hat für sich und für alle eine facettenreiche, aufreibende und hingebungsvolle Gesamt-Performance gegeben; mit überhöhter Geschwindigkeit hat er forciert von Projekt zu Projekt zwischen Passion, Provokation, Politik und Publikum produziert, indem er die eigene und die bei anderen vorhandene Energie gegen das System kontrollierter Konventionen und Erwartungen einsetzte, auch gegen die vielleicht angesagten Grenzen einer gesünderen Lebensführung. Kritische und destruktive Unbequemlichkeit war in seiner extremen Risiko-Bereitschaft immer ein Thema, in der Authentizität des personifizierten Ausnahmezustandes, eines auf zahlreichen Flippern parallel spielenden Sisyphos, der an vielen Steigungen fingerschnipsend mit allem möglichen Geröll zugleich arbeitete, es in erstaunliche Bewegung brachte und dabei spontane Einfälle und querschießende Ideen und scheinbar schlechte Gags mitten im Worst-Case-Szenario glücklich einfing, damit das Dysfunktionale, das Peinliche, das Verdrängte, das Unmögliche der theatralischen Situation zwischen Kunst und Leben, der reale Slapstick zwischen Gesellschaft und Alltag zum involvierenden Drama, zum greifbaren und ergreifenden Prozess wurde, um das unwahrscheinliche Gelingen und das absehbare Scheitern im tragikkomischen Sinn einer mitmenschlichen Katharsis zu bündeln.

Seine Etablierung durch unmittelbaren Erfolg und verbürgerlichte Verhältnisse war ihm ein Graus.  Öffentlichkeitswirksame Triumphe wie sein Trashfilm „Terror 2000 - Intensivstation Deutschland“, 1992, der TV „Talk 2000“ oder die Wiener Festspielwochen Aktion „Ausländer raus!“, 2000, waren ihm nicht genug. Aus tief auch bei sich selbst angezweifelten Routinen und Vorgaben sollten freigesprengte Erlebnisse, Leidenschaften, Augenblicke der erfüllten Selbsteinholung werden. Die eigene Zerrissenheit Schlingensiefs war Außenstehenden nicht immer deutlich. Sein Drive war auch für TV-Zuschauer zu spüren, etwa, als er in Johannes B. Kerners Abschieds-Sendung von SAT1 1996, bevor dieser zum ZDF wechselte, die Talkshow-Regie der vorgeführten Sozialcharaktere im Happening-Modus durcheinander wirbelte. Harald Schmidt sagte in „Talk 2000“ warnend zum und über Kurzzeit-Gastgeber Schlingensief: „>Ich kann nicht< liegt auf dem Friedhof und >Ich will nicht< liegt daneben.“ Aktionist und Autor, dekonstruktiver Film- und Theater-Regisseur, Schauspieler und Street-Actor, pan-mimetischer Provokateur mit einer oft verwirrenden Art, Kunst und Rezeption, Planung und Chaos, Drehbuch und Einfall, Entlarvung und Befreiung miteinander zu verquirlen.

In dem 1998 gegebenen 3Sat-Interview erläutert Christoph Schlingensief in einer Anekdote, wie er als junger Ministrant, unter dem Gelächter seiner amüsierten Mutter, beim Gottesdienst alles mögliche falsch machte. Der Pfarrer duckte ihn hinterher vor dem Altar, Christoph bekam Angst, der Geistliche meinte nur, er solle, vor Gott, immer den Diener machen und ansonsten für sich selbst davon ausgehen:
Egal, was du falsch machst in deinem Leben, egal welchen Fehler, eines steht fest: Der Papst bleibt bei seinem Glauben. Schlingensiefs Strategie der Fusion: von Happening und Dramatisierung, von riskanter Enthemmung und oft auch bedrückender Angstbewältigung, von Inspiration und Verletzung haben also infantil-religiöse Wurzeln. Sie sind eine Art intellektuell versteckter Schamanismus, ein negativer, später ins Ungläubig-Nihilistische, Ketzerisch-Aufrüherische, Weltlich-Politische, Künstlerisch-Terroristische oder Pazifizierend-Buddhistische gedrehter überkonfessioneller Kultur-Gottesdienst, eine Religions-Zaubershow im irritierenden Kirmes-Format einer ungedeckten Selbstermächtigung im manischem Vollblutcharakter auf Zeit. Die Zumutung einer Art Mega-Therapeutikum mit einer fast heilsgeschichtlichen Katharsis, die alle aus ihren egoistischen Alltagskokons und dem parzellierten Kulturkonsum herausholt, und sie ans Kreuz der Ungewissheit schlägt, zwischen Hoch und Niedrig, Pure and Dirty in der divergenten Gesamt-Kunst, bis es sie erwischt hat. So viel Zauberlehrling, so viel absichtlicher Kontrollentzug auf der rationalen Ebene, so viel arbeitsintensive Improvisationswut im Emotiven, verbunden mit bisweilen nervig-gewaltsamer Leidenschaft - bis hin zur langwierigen kämpferischen Umbiegung von Wagners hybridem kunstreligiösem Spätwerk „Parsifal“ in Bayreuth (2004-7) zur multimedialen Bühne mit nomadischen Figuren – das musste auch eine spezielle Form des Martyriums, eine Medien-Kultur-Folter sein. Auch zu einer Zeit, als dies noch nicht in der Öffentlichkeit richtig erkannt war. 

„Toleranz“ war für Schlingensief nicht nur ein moralischer Begriff, vor allem kein Phänomen fragloser Unschuld, sondern ein katastrophen-technisches Modell für den Testfall, also für den kritischen Punkt, an dem die Komponenten einer vorgegebenen Einheit zwischen Individuum und Umwelt, Kunst und Leben gerade noch zusammenhalten oder schon auseinander gerissen und umgerodet werden. Als der längst an Krebs erkrankte Schlingensief als Berlinale-Jury-2009-Mitglied sich Kokoschkas Adenauer-Porträt in den Berliner Amtsgemächern der einladenden Kanzlerin Angela Merkel näherte, soll diese gesagt haben: „Bitte nicht berühren. Sie wollen das ja sicher kaputt machen.“ Das Gespür für diesen Zerreißpunkt war ein Siegel für die Qualität eines messerscharf anzweifelnden Denkers, Menschen und Künstlers, der sich nicht scheute, sich in seinen oft schulbubenartigen Eskapaden wie ein Ruhrpott-Malocher unter Tage selbst zu zerreißen:
„Wir sind nicht so stabil, wie uns dieser Globalismus oder diese Gesellschaft uns permanent erzählt. Wir sind nicht so stabil.“ Seine Devise: „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt“ steht völlig quer zur PR-Botox-Society. Neben Beuys und etwas weiter weg von Fitzcarraldo wird Schlingensief auf einer Ruß-Wolke durch den Himmel des erweiterten Kunstbegriffes surfen und alles andere als das langweilige Harfenspiel der zeitgenössischen Arschkriecher betreiben. Christoph Schlingensief starb am 21. August 2010. Die Familie bittet um Spenden für das Projekt Festspielhaus bzw. Operndorf Afrika.
 



 


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