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Ein kühnes Paradoxon:
die Dekonstruktion mit den Mitteln der Spiritualität


Lothar Struck über Benjamin Steins grandiosen Roman »Die Leinwand«

Gar nicht so einfach, mit dem Lesen dieses Buches anzufangen. Denn man hat unverhofft zwei Möglichkeiten. Entweder man beginnt mit dem Teil von und über Amnon Zichroni oder man wendet das Buch, dreht es um 180 Grad und beginnt mit Jan Wechsler. (Eine andere Idee, die Kapitel sozusagen abwechselnd zu lesen, dürfte aus Gründen der Praktikabilität fast ausscheiden; hierfür hätte man mindestens zwei Lesezeichen einbinden müssen. Und außerdem bleibt das Problem, wo man beginnt.) 

Beide Teile sind fast paritätisch. Man ahnt: Wie man es auch beginnt – es bleibt eine Entscheidung, die die Rezeption prägen wird. Man wird nie erfahren, wie es gewesen wäre, wenn man anders begonnen hätte. Vielleicht werden einmal die Leser von Benjamin Steins Buch "Die Leinwand" anhand ihres Anfangskapitels unterschieden zwischen Zichroni- oder Wechsler-Einsteiger. Ob sich die beiden Lager jemals miteinander verständigen können? Tatsächlich dürften sie zwei unterschiedliche Bücher gelesen haben. Und dieses scheinbar so spaßige Spielchen passt am Ende erstaunlich gut zu Atmosphäre und Intention dieses Buches.
Um es vorweg zu sagen: Ich habe mit dem Zichroni-Kapitel begonnen. Dort steht schon auf der ersten Seite: Erinnerung ist…unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Man ahnt noch nicht, wie stark diese Erkenntnis im Buch bestimmend wird. Und auch dieser scheinbar harmlose Satz bekommt im Laufe der Erzählung eine große Dimension: Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. "Unser Gedächtnis" - und nicht unser Gehirn.

Heiliger Ernst und die yevonnische Welt
Amnon Zichroni ist in Israel geboren und geht dort bis zu seinem 15. Lebensjahr auf eine religiöse Schule. Aber da ist die Neugier auf das abgeschlossene Zimmer der Eltern, in dem es auch noch andere Bücher als die Torah gibt und die Faszination für diese neue Welt. Der Junge nimmt heimlich ein Buch aus dem Regal (Oscar Wildes "Das Bildnis des Dorian Gray"). Die Angelegenheit fliegt auf, als der junge Amnon im Unterricht das Buch einfach über das Lehrbuch legt. Der Vater schickt den Sohn zu einem "Onkel" Nathan Bollag (der in Wirklichkeit nicht sein Onkel ist) nach Zürich. Die Hoffnung, hier ein "weltlicheres" Leben führen zu können, zerstreuen sich rasch. Bollag ist Edelsteinhändler und führt einen bescheidenen, jüdisch-religiösen, aber nicht orthodoxen Lebensstil. Nach der Schule sorgt er dafür, dass Zichroni auf eine Talmudhochschule in die USA geht. Dort lernt er den Mitschüler Eli Rothstein kennen, der ihn mit seinem heiligen Ernst in religiösen Dingen imponiert. So will er einen Nierentumor durch das Studium talmudischer Schriften und einem rituellen Tauchbad (der Mikwe) in einem Wäldchen nahe Yerushalayim bezwungen haben und dies, obwohl ihn die Schulmedizin schon fast aufgegeben hatte.

Eli erinnert ihn an den "Onkel", der am Tag vor dem Abflug in die USA nach Zichronis Lektüre von Bulgakows "Meister und Margarita" eine flammende Rede wider die Griechen und die (von ihnen erschaffenen) bestimmenden Naturwissenschaften hielt: So kurz ihr Bandmaß auch sein mag, sie vermessen alles. Es wird kategorisiert, sortiert, bewertet und in Tabellen gepresst. Und das scheint vernünftig und sehr sinnvoll und ganz im Sinne des Erkenntnisgewinns. Nur halten sie leider ihre ausschnitthaften Vermessungen für eine Kartographisierung des Universums und bestehen darauf, ihre Theorien als verbürgte Wahrheit zu betrachten, solange nicht eine neue Theorie daherkommt, der es gelingt, sich zur nächsten verbürgten Wahrheit aufzuschwingen. Für die Religionen, also für all das Phantastische, oder nennen wir es Magische, das die Mystiker aller Religionen seit Jahrtausenden bewegt hat – für all das ist dort draußen in der 'yevonnischen' Welt der vermeintlich exakten Wissenschaften kein Platz. Man gebe sich heute dem Spott preis, wenn man behauptet, dass es etwas über den anderen Menschen gibt und dass die Menschen bestenfalls Partner des Ewigen sein können, aber sicher nicht die Steuernden, die Lenker, jene mit dem allumfassenden Plan. Ihre kleinen Erkenntnisse setzten sie als Wahrheit in den Schaukasten, aber, so der alte Mann, es gibt diese Wahrheit nicht, denn wir alle halten nur Bruchstücke davon in Händen.

Eli Rothstein lebt nun diese andere, diese mystische Welt, von der Nathan Bollag schwärmte. Zichroni ist davon fasziniert. Hinzu kommt Elis scharfer Intellekt. Als er den Schabbes [Sabbat] zusammen mit Elis Familie verbringt und ein Auge auf seine Cousine Rivka wirft, ereignet sich zum zweiten Mal dieses merkwürdige Erlebnis, welches Zichroni in eine Art Halluzination versetzt, in der er die Erinnerungen der ihm gerade zugewandten Person wahrnimmt. Zum ersten Mal geschah dies als sein Vater ihn anlässlich seines Vergehens zur Rede stellte. Als Zichroni nervös auf die Reaktion des Vaters wartend in einen Apfel beißt (man beachte diese Symbolik!), überkam ihm ein Sturm an Bildern, Tönen und Gefühlen; eine Art dreidimensionales Erlebnis: Er kann seinen Vater bei seinen Erinnerungen zusehen und erlebt diese Szene körperlich.

Die Gabe
Plötzlich hat er abermals eine solche Erscheinung: Er erkennt und fühlt die Erinnerung an ein Liebesspiel zwischen Eli und Rivka. Dies ist auf doppelte Weise prägend: Zum einen muss er seine eigenen Ambitionen auf die Dame vergessen, es sei denn er wolle den Bruch der Freundschaft mit Eli riskieren. Zum anderen zeigt sich ihm, dass er tatsächlich mit einer Gabe ausgestattet ist und das Erlebnis am Küchentisch des Vaters kein einmaliges Phänomen war. Er vertraut sich Eli an, der ihm rät, dieses Talent zu nutzen, daran zu arbeiten und es zum Wohl der Menschen einzusetzen.
Eli heiratet Rivka und Zichroni beginnt an der Yeshiva Universität in New York ein Studium. Er glaubt, dass er als Psychoanalytiker sein Talent am besten einsetzen könnte. Hierfür muss er jedoch zunächst einmal Medizin studieren. Und einmal die Woche studiert er mit Eli, der Rabbi werden möchte, die Torah. Die Bildungsbeflissenheit ist enorm. Mit dem Medizin-Studium begibt sich Zichroni zum Schein in die so verteufelte Welt der Naturwissenschaften – aber da er vorgibt, diese Erkenntnisse in das Torah-Wissen einzubetten, wird er von seinem "Onkel" großzügig finanziell unterstützt. Gleichnishaft fügt Benjamin Stein immer wieder die Konfrontation zwischen mystisch-religiöser und naturwissenschaftlicher Welt in das Buch ein. So behandelt der Anatomie-Professor der Universität in seiner vorlesungsfreien Zeit Patienten mit alternativen Heilmethoden wie Akupunktur. Der Professor wie auch Zichroni erscheinen fast wie Jekyll-/Hyde-Figuren, die sich zum Schein der mechanistisch argumentierende[n] Medizin widmen, während sie andererseits fest daran glauben, dass etwas anderes im Leben der Menschen Regie führt: die mitunter grauenvolle, poetische Hand des Ewigen.  

Unmittelbar nach Abschluss des Studiums stirbt Nathan Bollag in Zürich. Zichroni nimmt dies als Zeichen. Er glaubt, dass der "Onkel" just in diesem Moment gestorben war, damit ihm alle nur denkbaren Möglichkeiten der Weiterbildung offen standen. Denn es stellt sich heraus, dass Zichroni sehr früh als Alleinerbe eingesetzt wurde. Mit einem beträchtlichen Vermögen ausgestattet, kann er sich in aller Ruhe eine Existenz als Psychoanalytiker in Zürich aufbauen. Zwar hat er immer noch keine Ahnung von seiner Mission, d. h. es erschließt sich ihm nicht, was der Ewige (Gott) ihm zugedacht hatte und warum er mit dieser Gabe ausgestattet wurde: Wieviele Verzweifelte musste ich heilen und in welcher Zeit? Aber die Tatsache, einem Plan des Ewigen unterworfen zu sein, steht für ihn unverrückbar fest.  
Dennoch verzweifelt er fast und Geduld ist nicht eine Stärke. Hin- und hergerissen zwischen unterschiedlichen psychoanalytischen Schulen (er neigt eher Jung statt Freund zu), beschließt er erneut eine Weiterbildungsmaßnahme. Neben einer über fünf Jahre (1500 Analytikerstunden) angesetzten Lehranalyse übernimmt er eine Praktikumsstelle an einem (fiktiven) "Institut für Parapsychologische Studien und Grenzgebiete der Psychologie" in Freiburg im Breisgau (tatsächlich gibt es dort ein Institut, welches parapsychologische Phänomene untersucht; ein Hinweis auf den Humor des Autors). Hier hofft er seine Gabe endlich anbringen zu können, wird jedoch weitgehend desillusioniert und muss feststellen, dass er zwar die Erinnerungen der potentiellen Patienten evozieren kann, dies jedoch nur äußerst schwierig in den Therapieprozess einzubringen ist. Tatsächlich gelingt ihm eine Art Heilung nur in einem Fall, den er ausführlich in einer Studie dokumentiert hat, aber aufgrund seiner Singularität nicht zu veröffentlichen wagt.

Minskys Wahrheit - und die reale Vorlage
Zichronis retrospektives Erzählen spielt mit der sich abzeichnenden Katastrophe. Sie beginnt bei Minsky, dem Geigenbauer und Restaurateur von Musikinstrumenten. Er lernt ihn kennen, weil er eine alte Violine aus Bollags Nachlass reparieren und restaurieren lassen möchte. Minsky ist Experte aber ein bisschen kauzig und lebt sehr abgeschieden. Er ist im Gegensatz zu Zichroni kein observanter Jude. Im Laufe mehrerer Begegnungen kommen die Männer sich näher. Minsky bedrückt etwas und er vertraut sich Zichroni an. Eines Abends erzählte er mit vielen, langen Pausen von Auschwitz und Majdanek, vom Bild seines Vaters, der in einem kleinen Ort bei Minsk, wo er geboren sei, vor seinen und den Augen seiner Mutter von weißrussischen Milizen ermordet wurde. Er erzählte von den Baracken des Lagers, vom allgegenwärtigen Tod und den Ratten, von seiner Rettung und den Jahren im Kinderheim in Polen und schließlich in der Schweiz, in die man ihn, wie er es ausdrückte, verschleppt hatte, um ihn seiner Vergangenheit zu berauben.
Minsky erzählt dies im Gestus eines gebrochenen Mannes. Auch Zichroni ist verstört. Gemeinsam beginnen sie Recherchen, um weitere Details zu erfahren. Man fährt zu den Lagern und Minsky beginnt, diese Erinnerungen aufzuschreiben. Zwar hatte der Freund ihn dazu ermuntert, aber mit großer Skepsis stellt er fest, dass Minsky ein Buch begonnen hatte. Er macht sich nachträglich Vorwürfe, nicht eindringlich vor einem solchen Schritt gewarnt zu haben. Immer noch tost "Onkel" Nathans Rede im Kopf, nachdem Wahrheit immer eine Frage des Standpunktes sei. Aber das Buch wird verlegt und ein großer Erfolg. Es wird in vielen Sprachen übersetzt und Minsky erhält dafür Preise.
Nach drei Jahren erscheint plötzlich der erste gehässige Artikel von Wechsler. Und Zichroni erwacht wie aus einer Trance. Wechsler berief sich auf die Wahrheit. Aber wovon redete er? Fragen dieser Art verhindern den Sturz ins Bodenlose nicht. Wechsler belegt, dass Minskys Geschichte, die er zu seiner Geschichte gemacht hat, nicht stimmen konnte. Man warf Minsky vor, sich als Opfer zu gerieren und mit dieser falschen Opfergeschichte Geld zu verdienen (das Wort vom Leichenepos fällt). Wechsler legt mit einem Buch nach und man beschuldigt Zichroni, seine Stellung als Arzt missbraucht zu haben. Nicht nur Minsky wird intellektuell ruiniert, auch Zichroni wird zur persona non grata. Er verliert seinen guten Ruf, die Praxis und [die] Forschungsstelle in Freiburg

Beide ziehen sich schließlich zurück. Zichroni versucht einen Neuanfang in Israel und kauft sich ein Haus in Ofra, einer Siedlung inmitten der West Bank. Eine Rehabilitation erachtet er als zu aufwendig und erreicht bei den israelischen Behörden, dass er seinen Namen ändern darf, um vor Nachstellungen sicher sein zu können. Ab und zu besucht ihn Eli, der inzwischen mit Rivka und seinen Kindern auch in Israel lebt.
Spätestens hier ist dem Leser klar: Benjamin Stein paraphrasiert den (sogenannten) Fall Binjamin Wilkomirski und des 1995 erschienenen Buches "Bruchstücke". Bis in die Details vergräbt sich Stein in den Skandal und fiktionalisiert ihn dennoch. Trotzdem vermag man zu sagen, dass es sehr starke Übereinstimmungen zwischen der Figur Minsky und Wilkomirski gibt. Die Figur des Ich-Erzählers dieses Kapitels, Amnon Zichroni, hat zweifellos Gemeinsamkeiten mit dem Psychoanalytiker Elitsur Bernstein, einem Freund von Wilkomirski. Auch andere Figuren und Fakten lassen sich einfach zuordnen. So wird beispielsweise aus dem Historiker Stefan Mächler, der aus neutraler und wissenschaftlicher Sicht Wilkomirskis Text untersuchen sollte (später erschien diese Studie unter dem Titel "Der Fall Wilkomirski" als Buch) Hans Macht. Die wenigsten Übereinstimmungen gibt es zwischen dem Daniel Ganzfried, der 1998 in einem Artikel in der "Weltwoche" die Angelegenheit ins Rollen brachte und der fiktiven Figur Jan Wechslers. Im Laufe des Romans wird deutlich, warum.

Suspense und die verlorene Identität
Das Kapitel endet mit einer zufällig zu nennenden Begegnung zwischen Zichroni und Wechsler. Durch Bekannte und Bekannte von Bekannten erhielt er eine  Anfrage, ob er einen jungen Deutschen zum Schabbes aufnehmen könnte. Als der Deutsche eintrifft, stellt sich heraus, dass es sich um Jan Wechsler handelt. Wechsler erkennt Zichroni nicht – umgekehrt freilich schon. Zichroni lotst Wechsler an ein Gewässer, damit dieser dort einzutauchen kann (es ist wohl das gleiche Gewässer, welches Eli die Heilung brachte). Dabei versucht er Wechslers Kopf unter Wasser zu pressen und ihn zu ertränken.
Ein gelungenes Beispiel für "Suspense", die im Wechsler-Kapitel immer mehr zunimmt und tatsächlich eine große, fortlaufende Spannung erzeugt. Wechsler, 1965 geboren, lebt in München mit Frau und Kindern. Er arbeitet gelegentlich als Publizist und besitzt einen kleinen Verlag, ist aber finanziell nicht besonders gut gestellt. Eines Tages bekommt er einen Pilotenkoffer zugestellt. Er kennt diesen Koffer nicht, vermisst auch kein Gepäckstück. Merkwürdig nur, dass das Adressetikett eindeutig seine Handschrift trägt. Er öffnet nach einigen Monaten den Koffer und findet darin u. a. eine Studie über einen psychoanalytischen Fall und mehrere Bücher, unter anderem eine Buch eines Gewissen Jan Wechsler mit dem Titel "Maskeraden". Der Leser weiss sofort – es handelt sich um Gegenstände von Amnon Zichroni. Aber wieso erinnert sich Wechsler nicht? Und warum erkennt er sein eigenes Buch nicht mehr und vermutet einen Autor, der zufällig den gleichen Namen trägt? (Es folgen über einige Seiten immer wieder einmal aufgesetzt wirkende philosophische Betrachtungen Wechslers über das Thema "Erinnerung"; derer hätte es nicht bedurft.)

Wechsler rekapituliert sein Leben. Er ist im kleinen Land mit dem kleinen Horizont aufgewachsen (der DDR). Als eine Sportlerkarriere mit 15 aus rein anatomischen Gründen vom Staat nicht mehr gefördert wurde, entdeckt der leicht egozentrische, pubertierende Junge (Ich hatte schon früh den Drang, im Mittelpunkt zu stehen) Gott und sucht Halt im Judentum. Es  gibt einen kurzen aber aufschlussreichen Einblick über das Jüdisch-Sein in der DDR (und die Durchdringung der Gemeinden mit Mitarbeitern der Staatssicherheit). Irgendwann bemerkt er dann, dass es ihm weniger um Religion als um Identität geht. Das Zauberwort des postmodernen Menschen kann und darf in einem solchen Roman natürlich nicht fehlen. Über die Zeit nach der Wende erfahren wir, dass Wechsler einen hohen Lottogewinn erzielte und eine kurze Zeit im Luxus schwelgte. Fehlspekulationen, der Zusammenbruch des Neuen Marktes und Steuerhinterziehungen beenden diesen Boom. Seine Frau, die er kurz vor dem Zusammenbruch kennenlernte, gibt sich mit den eingeschränkten finanziellen Mitteln zufrieden. Schnell kamen die Kinder.

Wechsler lässt dieser Pilotenkoffer und die Gegenstände nicht mehr los. Er schreibt einen Brief an den Verleger der "Maskeraden", der ihn in der Antwort duzt und ein bisschen unwirsch reagiert, da er ein kindisches Manöver Wechslers vermutet. Unterdessen wendet sich seine Frau immer mehr von ihm ab; es finden offensichtlich Persönlichkeitsveränderungen statt, die seine Umgebung durchaus wahrnimmt (und sehr dezent dem Leser angedeutet werden).
Immer mehr gerät er in einen grüblerischen Zweifel. Kurz wird man an das Schicksal des dicken Holzschnitzels aus Antonio Manettis gleichnamiger Novelle aus dem 15. Jahrhundert erinnert, in der die Titelfigur infolge eines üblen Scherzes seiner Freunde in den Wahnsinn getrieben wird, weil sie ihm durch ihr Verhalten suggerieren, er sei nicht mehr er selbst und vermutet finstere Mächte, die Wechsler übel mitspielen. Irgendwann verlässt ihn seine Frau mit den Kindern. Das Buch wird jetzt wieder stark, weil es Benjamin Stein sehr gut gelingt, diese labile Stimmung der Selbst-Verunsicherung zu erzeugen und zu erhalten. Bisweilen wird der Leser zum Komplizen Wechslers und beginnt mit ihm dessen Identität anhand von Indizien zu erforschen. Ein Treffen mit "seinem" Verleger – unter einem Vorwand arrangiert -  endet im Fiasko. Als er seine DDR-Papiere als Nachweis hervorholen will, finden sich nur Schweizer Dokumente. Immer mehr Indizien sprechen dafür, dass er ein Schweizer Autor und Journalist  mit schillernder Vergangenheit an den Rändern des politischen Spektrums ist. Nach seinem Enthüllungscoup im Fall Minsky ist er aus seinem Leben geflüchtet.  

Der dritte Weg und ein Selbstexorzismus
Wechsler wendet sich (stattdessen?) immer stärker dem Judentum zu, trägt irgendwann öffentlich die Kippa und tritt schließlich in ein neues Leben ein, symbolisch manifestiert durch eine Mikwe. Nichts würde mehr gelten von dem, was gewesen war. Aus dem Wasser steigt man auf als ein neuer Mensch. Der Namen wird gewechselt (nomen est omen!). Statt der Schweizer Identität (sie ist weiterhin verschüttet und wird nur zähneknirschend akzeptiert) oder der (imaginierten) DDR-Herkunft, gibt es einen "dritten Weg" – die Religion (hier in Form des Judentums).
Mit diesem neuen Personalitätspanzer ausgestattet, versucht Wechsler die "ganze" Wahrheit zu erfahren und fliegt mit dem Pilotenkoffer nebst Inhalt und nur wenigen persönlichen Sachen als Handgepäck nach Tel Aviv. Gemäss Pass soll er dort vor einigen Monaten (im Januar 2008) zum letzten Mal gewesen sein. Dort angekommen, wird er von einem Sicherheitsbeamten in Zivil abgefangen und in einen Verhörraum gebracht.

Dieses Verhör wird von Stein als kafkaesk-beklemmendes Kammerspiel gekonnt inszeniert. Der arme Wechsler, der bestimmte Dinge tatsächlich gar nicht mehr weiss, muss improvisieren und verwickelt sich immer mehr in Widersprüche (auch hier wird gezeigt, wie relativ Wahrheit sein kann). Schließlich wird er für die Nacht in eine Zelle überführt. Dort ereignet sich dann eine Art Selbstexorzismus – alle Bilder und Erinnerungen aus der (falschen [falschen?]) DDR-Zeit rufen alptraumartige Halluzinationen hervor, die auf den Häftling physisch und psychisch bedrohlich wirken. Wechsler sieht von Reptilien angegriffen, unter ihm eine Schlangengrube. Diese Bilder kann er nur bannen, wenn er sich um die  "wahre" Erinnerung an seine letzte Israel-Reise bemüht und die "Scheinidentitäten" ablegt, was schließlich gelingt (vielleicht ein bisschen zu glatt inszeniert). Von dem Sicherheitsbeamten, der ihn verhört hatte, erfährt er am nächsten Tag, dass er im Januar bei Amnon Zichroni war und dieser seitdem vermisst wird. Wechsler hat plötzlich eine Befürchtung, von der er lieber nichts erzählt.
Es ist schon ziemlich aufregend, wie Benjamin Stein den "Aufdecker" Jan Wechsler, der auf einer absoluten Wahrheit besteht, selber Zuflucht in "seine" eigene Wahrheit nehmen lässt – und zwar schlimmer und heftiger, als dies bei Minsky der Fall war. Man rekapituliert als Leser des öfteren den Satz: Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Das ist natürlich mehr als nur ein Statement des Autors zum "Fall Wilkomirski" – das ist fast schon ein Plädoyer gegen die Art und Weise der Rezeption dieses Romans und der Behandlung durch den (scheinbaren) Enthüllungsjournalisten. So eng sich Stein an die "Realität" dieses Skandals anlehnt und diese für seinen Roman verwendet, so wenig sagt er über die Behandlung dieses Vorgangs in den Medien aus. Stein belässt es bei einer spirituellen Lesart dieses Werkes, welches kraft einer Imagination heraus geschrieben ist. Dagegen steht die "rationale" Lesart, die Authentizität einfordert (und daher den Autor fast "zwingt" eine Authentizität fiktional herbeizuphantasieren, was jedoch – naturgemäss – nicht mehr akzeptiert wird und zur Ächtung führt).       

Die Leinwand-Utopie
Dabei geht es um deutlich mehr als die allzu häufig gestellte, banale Frage nach den autobiografischen Teilen in einer sich fiktional gebenden Prosa. Während normalerweise der fiktionale Text autobiografische Elemente hat (auch in Steins Buch an vielen Stellen nachzulesen; insbesondere, was das jüdische Leben in der DDR angeht), verfasste Wilkomirski einen sich autobiografisch gebenden Text, der jedoch fiktionale Elemente enthielt. Für Wilkomirski wurde das erfundene Leben zur Wahrheit. Stein zeigt, dass diese Kraft des Fiktionalen die tatsächlichen Realitäten nicht nur überlagern, sondern verdrängen kann – und das, ohne direkt eine betrügerische Absicht dabei ableiten zu wollen. Sehr gut ist dies auf wissenschaftlicher Ebene in Alexandra Bauers Arbeit (mit dem etwas reißerischen Titel) "My private Holocaust – Der Fall Wilkomirski(s)" [pdf, ca. 355 kb] nachzulesen.     

So wird an Nathan Bollags anti-naturwissenschaftliche Suada aus dem Zichroni-Kapitel angeknüpft. Die Negation der "absoluten Wahrheit" (die in Wirklichkeit nur eine Negation der "absoluten" Erkenntnismöglichkeit des Menschen ist), schafft auf diese Weise plötzlich neue Freiräume: …weil wir nicht wissen, was wahr ist, müssen wir uns entscheiden, was für uns zählt. Und ob etwas zählt oder nicht, das hängt nicht von Messungen und Urkunden ab. Es wird auf anderen Waagen gewogen: Sinn gegen Leere beispielsweise, oder die Idee eines ewigen Willens außerhalb von uns gegen das blanke Nichts. 
Zichroni ist mit der Versöhnung von talmudischem Spiritualismus (samt einer Prise Mystik) und psychoanalytischer Lehre gescheitert. Einst war er angetreten als Therapeut völlig in den Hintergrund zu treten und dem Patienten zu helfen, sich selbst zu helfen – sich zu erinnern und im Prozess des Erinnerns der Vergangenheit eine neue Bedeutung zu geben. In der Analyse wollte er den Patienten das Gefühl der Ohnmacht nehmen und ihnen die Zügel wieder in die Hand geben – oder vielmehr die Palette und den Pinsel, mit dem sie auf der Leinwand ihrer Erinnerungen neue Akzente setzten. Dabei konnte man selbst ganz zur Leinwand werden, zu einer Projektionsfläche, auf der die Patienten mögliche Gegenentwürfe skizzierten und neue Möglichkeiten erprobten. Was im intimen Gespräch zwischen Therapeut und Patient funktionieren kann, scheitert in einer Verbreitung in Massenmedien, die auf Authentizität rekurrieren, furchtbar. Aber auch der Antipode Wechsler vermag seinen "Erfolg" nicht auszukosten und wird – nach landläufiger Meinung – wahnsinnig.
Benjamin Stein hat ein kluges Buch geschrieben. Es ist fast fehlerlos gebaut und ungeheuer komplex. Die zahlreichen Exkurse – vor allen das Judentum betreffend – sind farbig erzählt und bei aller Liebe zum Detail niemals ermüdend. Stein schreibt leicht und virtuos ohne auch nur jemals in Gefahr zu laufen, ins Seichte abzugleiten. Aber so imponierend die Haltung des Autors auch ist - das Plädoyer für die mehreren Wahrheiten präsentiert irgendwann eine Rechnung. Eine Rechnung mit dem Absender Religion - oder, genauer, ihrer gelegentlich subversiv-antipodischen Konzerntochter, der Mystik.

Zichroni und Wechsler sind exemplarische Figuren. Ihre Fluchten sind Rückzüge aus der modernen Welt, deren Paradoxon darin besteht, einerseits multiperspektivische, pluralistische Lebensentwürfe zu postulieren, andererseits jedoch in bestimmten Punkten essentialistisch (bis hin zum autoritär- fundamentalistischen) agiert und bedingungslose Konformität einfordert. Dagegen schlägt Stein die Religion als eine Art antiideologisches Refugium vor - ein weiteres, allerdings anderes, kühnes Paradoxon. Lieber einem Ewigen (also Gott) dienen, als ein Sklave der Naturwissenschaft in einer sich nur liberal gebenden Moderne zu sein. Das ist der Gegenentwurf, die Dekonstruktion mit den Mitteln der Spiritualität. Das Vermächtnis von Amnon Zichronis "Leinwand"-Utopie. Nur, dass sie von einem Schriftsteller kommt. Von wem auch sonst. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

Webseite des Autors: Turmsegler; "Tag" (Stichwort) Die Leinwand; inklusive Leseprobe(n).
 

Benjamin Stein
Die Leinwand
Roman
416 Seiten
 Gebunden
C. H. Beck
ISBN 978-3-406-59841-8
19,95 €

Leseproben



 


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