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Die menschliche Komödie
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Zum 5-jährigen Bestehen ist
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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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»Wir sind zuständig«

Ein Tauchgang in eine Welt, die es nicht mehr gibt
Friedhelm Lövenich über die Memoiren und Gedichte des Moralisten Hans Sahl

»Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig«, so lauten Anfang und Schluss des vielleicht bekanntesten Gedichts von Hans Sahl aus den siebziger Jahren. Vielleicht haben wir dies, trotz mancher Interviews, das der in den achtziger Jahren in Deutschland wieder zu Ruhm Gekommene gegeben hat, seiner Meinung nach nicht gründlich genug getan. Denn schließlich hat er sich dann doch noch, widerstrebend, daran gemacht, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. Und wenn sie auch im Titel des ersten Bandes »Memoiren eines Moralisten«, der 1983 erschienen ist, so hießen – Memoiren sollten es keine werden: »Nein, ich will keine Memoiren schreiben. Ich bin kein General im Ruhestand, der seinen verlorenen Schlachten eine eiserne Träne nachweint, keine alternde Schauspielerin, die aus Mangel an Beschäftigung sich einer Zeit erinnert, in der die dramatischen Auftritte vorwiegend im Schlafzimmer stattfanden«. Nicht Selbstschmückung mit prominenten Namen will er also betreiben; sein Ziel besteht vielmehr darin, die Vergessenen aus dem Abgrund der Vergangenheit wieder in die Erinnerung hervorzuholen und die, die er überlebt hat, deren »Namen vergessen oder zu Fußnoten in einem kaum noch zu bewältigenden Nachschlagewerk der Toten und Vermißten geworden sind«, für eine Kultur, die sie nicht mehr kennt, »aus ihrer Vergangenheit … befreien«.

Hans Sahl, der Essayist und Feuilletonist der Weimarer Republik, der Filmkritiker der Frühphase des internationalen Films und der Theaterkritiker einer der fruchtbarsten Epochen des deutschen Theaters, der selber Stücke, Drehbücher, Romane und Gedichte schrieb – er musste wie so viele andere aus Deutschland fliehen, weil er eigentlich Hans Salomon hieß. Und so behandeln denn diese Lebenserinnerungen auch seine Lebensetappen, beginnend mit der Weimarer Zeit in Berlin bis zur ‚Machtergreifung’, über das Exil in Prag, in Zürich, in Paris und im französischen Internierungslager für ‚feindliche Ausländer’, zum Schluss in Marseille, wo er Varian Fry dabei unterstützte, so viele Juden wie möglich nach Amerika zu retten; schließlich das Exil in den USA, das weit über den Krieg hinaus anhielt, der späten Rückkehr nach Deutschland 1989 sind nur wenige Seiten gewidmet.

Merk-würdige Anekdoten längst dem Gedächtnis entschwundener Berühmtheiten finden sich in diesem Buch. Zum Bespiel die, wie er von der exzentrischen Tänzerin Valeska Gert in ihrem Hotelzimmer eingesperrt wurde, um deren Biographie zu schreiben, und wie er dann auch noch den postillon d’amour zwischen ihr und Sergej Eisenstein zu spielen hatte, der als sowjetischer Vorzeigeregisseur kostbare Seidenhemden und Anzüge aus teuren englischen Stoffen besaß. Man erfährt mehr oder weniger ernüchtert – wenn es dieser Entzauberung noch bedurfte –, dass das Proletkult-Vorbild Brecht, der hier alles andere als gut wegkommt, Arbeiterjacken trug, die für ihn maßgeschneidert wurden; Sahl schildert die verzweifelten Exzesse Erich Maria Remarques in teuren Nachtclubs und berichtet über die surreale Begegnung, die er mit dem in der Dunkelheit der Dachkammer eines Pariser Hotels in der Rue Jacob hausenden Dreyfus hatte.

Hans Sahl zählt, wie der Titel eines in der Weimarer Zeit weltweit bekannten Buches von Ernst Glaeser lautete, zur ‚Generation 1902’, die zwischen allen Stühlen geboren wurde und gelebt hat. Er gehörte der ‚linken Szene’ der Weimarer Republik an, ein undogmatischer Marxist, der sich des öfteren schwer tat mit der Kommunistischen Partei, der er nie beitrat, und der einen Spruch wie »Stalin denkt für uns«, den sein berühmter Freund Egon Erwin Kisch im Pariser Exil angesichts des Hitler-Stalin-Paktes absonderte, niemals über die Lippen gebracht hätte. Sahls Erinnerungen lassen deutlich werden, wie für ihn und viele andere, die als junge Intellektuelle große Hoffnung auf das sowjetische Modell gesetzt hatten, die emotionale Verbindung mit dieser Weltanschauung abfaulte angesichts des anwachsenden Stalinismus, der wie Schimmel enge persönliche Freundschaften zersetzte und zerstörte, auch wenn sie – wie die von Sahl und Alfred Kantorowics – über Jahrzehnte seit der Tanzschule gewachsen waren.

Obwohl er als Linker in der Weimarer Kulturszene bekannt war, scheint diese seine politische Einstellung, Sahl zufolge, übrigens niemals ein Hinderungsgrund für konservative Zeitungen gewesen zu sein, Artikel von ihm zu veröffentlichen, wenn sie nur gut waren – ein Zug, an dem sich der heutige Journalismus ein Beispiel zu nehmen hat, wie an so vielem, das zu jener Zeit verbreitet und als Niveau Standard war. Dass Journalismus, sogar der der Filmkritik, einmal anders als heute etwas wert war – weil er an sich selber und an seine ‚gesellschaftliche Aufgabe’ glaubte und Zeitungsverlage nicht allein zynisch wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt wurden –, dass er und seine Debatten vom Lesepublikum mit Interesse verfolgt wurden und dies nicht nur beiläufig, zeigt die Tatsache, dass die Herausgeber Sahls »Ausfälle gegen die Industrie«, gegen die die Anzeigenabteilung rebellierte, akzeptierten, was heute nicht einmal die auflagenstärksten Publikationen sich erlauben zu können glauben.

Leider hat Sahl hat diese Aufzeichnungen erst spät geschrieben – zu spät, weil in seinen Achtzigern vielleicht bereits die Arbeitskraft fehlte, das Ganze noch gestalterisch zusammenzufügen. Der Text ist daher oft unzusammenhängend, zersplittert, sprunghaft, vermutlich wegen des Tonbanddiktats, dessen er sich bedienen musste, weil sein schwindendes Augenlicht ihm ein Arbeiten am Text nicht mehr so erlaubte, wie es für ihn und uns wünschenswert gewesen wäre.

Sahl schreibt keine Lebensgeschichte – wenn auch vorwiegend chronologisch erzählt wird –, keine Autobiographie, sondern es sind eben ‚nur’ Erinnerungen, Memoiren, oft anekdotische Memorabilien, die bruchstückhaft bleiben und häufig gerade dann abbrechen, wenn man gerne mehr erfahren hätte. Denn viele der Notizen sind oft zu knapp, man hätte gerne ausführlicher über die dort beschriebenen Vorgänge oder Personen gelesen, die so nur blitzlichthaft auftaucht aus dem Dunkel der Geschichte, in das sie mittlerweile versunken ist. Immerhin verleiht dieses Holzschnittartige dem Erzählten den dokumentarischen Charakter des Glaubwürdigen und Wahrhaftigen, Nichtgeschönten.

Manchmal erinnert das Buch an Ernst Blochs ‚Spuren’ oder manche Medaillons von Benjamin oder Kracauer, die in ihrer feuilletonistischen Zuspitzung das Wesen ihrer Gegenwart auf den Begriff bringen oder ins Bild setzen konnten. Hier ist es allerdings nicht mehr die Gegenwart, deren Geist gerettet werden soll, sondern die vermoderte – weil durch eine ‚tausendjährige’ Kulturfeindschaft entinnerte – Vergangenheit, deren Phantom beschworen wird. Der Ton, der das Ganze durchzieht, klingt nach Abreise, nach Abschied von einer »Gefühlswelt von gestern«, wie Sahl selber sie nennt, und wohl – für Sahl persönlich, der 1993 in Tübingen starb – auch nach einem Abschied vom Leben selbst.

Wie ein Tauchgang in eine Welt, die es nicht mehr gibt, muten seine Notizen an: Auf dem Meeresgrund liegen Trümmer der Vergangenheit, historische Ereignisse und Gestalten, und die berühmten Namen schwimmen in diesem Korallenriff der Geschichte umher wie bunte Fische: Werfel, Grosz, Tucholsky, Furtwängler, Ringelnatz, Wolfenstein, Döblin, Seghers, Brecht, Frank, Münzenberg, Toller, Mann (etliche) und viele andere weniger bekannte aber umso interessantere. Das Personenregister enthält an die tausend Namen; die häufigsten Nennungen verzeichnet Hitler, und das ist symptomatisch für die Bedeutung, die jene 12 Jahre für das gesamte Leben dieser Generation besaßen.

Sahl erzählt davon, wie sich in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg das kulturelle Leben in Deutschland entwickelte, wie in den ‚Goldenen Zwanzigern’ Literatur, Theater, Film und Bildende Kunst aufblühten und Berlin für wenige Jahre, an denen er als Berichterstatter und Kritiker teilnahm, kulturell führend in Europa war. Er schildert wie Reinhardt und Piscator, die Protagonisten unterschiedlicher Auffassung des Theaters, das Publikum in zwei Lager teilten, die in den Zeitungen von den Kritikern Kerr und Ihering befeuert wurden; er berichtet über Große wie Kleine, heute nur noch Fachleuten bekannte, wie Moritz Seeler, dessen Spürsinn für die Theateravantgarde vermutlich in irgendeinem faschistischen Konzentrationslager verschollen ging. Oder er erzählt vom Schriftsteller Klabund, der eigentlich Alfred Henschke hieß, und seiner Frau, der Schauspielerin Carola Neher, die später – obwohl und weil sie der Linken zuzählte – in der Lubjanka eingesperrt und irgendeinem sowjetischen Konzentrationslager zu Tode gebracht wurde. Grandios ist auch die mit ‚Die Audienz’ überschriebene kurze, ins Kabarettistische spielende Skizze des täglichen Nachmittagskaffees auf der Mannschen Terrasse in Küßnacht in ehrfurchtsvoller Mitwirkung der erwachsenen Kinder, die einen huldvoll die Familie und ihre Gäste mit seiner ihnen unverdienten Anwesenheit beglückenden Thomas Mann schildert.

Selbst wenn vieles von dem, was Sahl aus einer Hochzeit der deutschen Kultur zu berichten weiß, uns heute vielleicht idyllisch in den Ohren klingt wie Harfenklänge von fernen schönen Ufern, die verloren sind und an die man sich nur hinträumen kann – auch in diesen Gefilden fanden Auseinandersetzungen und Kriege statt, zuerst in den Köpfen, dann in den Straßen, zum Schluss auf den Schlachtfeldern. Vielen schien dies damals nicht bewusst gewesen zu sein. Durch die Geschichte belehrt, sieht Sahl für die Heraufkunft des Nationalsozialismus daher auch diejenigen – und damit sich selbst – belastet, die im Glitter und Flitter der ‚hohen Kultur’ schwelgten und für die (Un-)Kultur der Massen keinerlei Gespür besaßen, ja deren politische Gefahr nicht ahnten: Er attestiert »den Selbstmord einer Epoche, der bereits lange vorher stattgefunden hatte, als man nämlich die Welt, in der man lebte, für Wirklichkeit hielt und von jener anderen, die sich anschickte, sie zu zerstören, nicht Notiz nehmen wollte«.

Denn die politischen und wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik, die die Kultur anheizten, indem sie ein aufgeregtes Reizklima schufen – sie zerstörten sie auch. Und wenn die Geschichte sich zuspitzt wie in der Niedergangsphase der Weimarer Demokratie, dann gerät der Einzelne und sein Lebensschiffchen, wie Sahl uns vorführt, zwischen die Fronten wie zwischen zermalmende Felsen und findet keine Heimat mehr, auch nicht auf der politisch richtigen Seite, die oft die Aufgabe seiner Individualität und Identität von ihm fordert. Sahls Notizen aus den Jahren vor 1933 zeigen, wie alle Intellektuellen schrittweise bewegt wurden, sich entweder – für die meisten unvorstellbar – zu den Nazis zu bekennen oder zu den moskaugesteuerten Kommunisten, was für viele ebenso unvorstellbar war. Wer sich dem verweigerte, verlor unter Umständen seine sozialen Beziehungen, seine Arbeitszusammenhänge und manchmal auch seine Einkünfte.

Später wird er im Pariser Exil, als man ihn zu einer Unterschrift unter eine denunziatorische Erklärung bringen will, mit anderen Berühmtheiten den ‚Bund freie Presse und Literatur’ gründen, der sich von dem durch die sowjetische, ja stalinistische Dominanz geprägten ‚Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Exil’ (SDS) absetzte. Damit begann, was Sahl sein »Exil im Exil« nannte: die Isolation in der Fremde, da auch seine Weggenossen aus dem Schutzverband sich von ihm zurückzogen, er als ‚Verräter’ galt und auch noch die persönliche Enttäuschung über die Treulosigkeit seiner Freunde zu verarbeiten hatte.

Die Seiten über das Exil schildern, was Macht und Gewalt Menschen antun können, die als Sandkorn durch den Sturm der Geschichte getrieben werden. Auch hier ist es mit Solidarität und gegenseitiger Hilfe oft nicht weit her, nicht einmal in einer extremen Situation wie der eines Lagers in Frankreich. Hier wird den Insassen, die als ‚Zwangsarbeiter’ einen Flugplatz auszubauen hatten, die Freilassung und Urlaub in Paris geboten gegen den Eintritt in die Fremdenlegion; und die, die sich nicht dazu entschlossen hatten, wurden gemobbt von den zukünftigen Afrikakämpfern, mit denen sie doch seit Monaten im selben Lager eingesperrt waren – ein Paradebeispiel menschlicher Niedertracht, der Faschismus der vor dem Faschismus Geflohenen: »Unter dem Gejohle der anderen, die rauchend in den Fenstern lagen und uns verhöhnten, versammelten wir drei uns jeden Morgen um sechs Uhr und traten den Marsch zum Flugplatz an, bewacht von vier Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, beschimpft und bespuckt von denen, die eben noch unsere Freunde waren und die jetzt mit Flaschen und Steinen nach uns warfen … Sie hatten sich ihre Freiheit, sie hatten sich ihre fünf Tage Urlaub in Paris teuer erkauft, und sie wußten es, sie schämten sich sogar ein wenig und konnten ihre Selbstachtung nur dadurch zurückgewinnen, daß sie jene verachteten, die sich als charakterfester erwiesen hatten«.

Das Exil schrieb Geschichten, die als Roman niemand einem Schriftsteller abnehmen würde und die dennoch einen Film wert sind, wie jene Episode, die sich so oder ähnlich tausendfach im Exil ereignet haben muss: die ermutigend traurige Geschichte von Augustus Hamburger, der sich durch den scheinbaren Eintritt in die Legion seinen Urlaub in Paris erkauft hatte, und seiner 15 Jahre älteren Geliebten Carola Mutschler, die »ihn beschützte, mehr noch, die ihn festhielt mit der Absicht, ihn nicht mehr loszulassen, und sich mit der Verzweiflung einer Versinkenden an ihn klammerte, obwohl er glaubte, sich an sie zu klammern«. Gemeinsam begingen sie nach diesen fünf Urlaubstagen Selbstmord an den Champs-Élysées, in einer Suite des ‚George V’, nachdem sie dort ein Fest für alle Freunde gegeben hatten.

Das Exil ist »die Geschichte vom Leben und Sterben einer Kultur, die in unserem Leben und Sterben ihren sinnfälligen Ausdruck finden sollte, einer glanzvollen Epoche, die wir aus dem Feuer des Untergangs zu retten versuchten und durch halb Europa trugen, in Kleidern, die selbst schon zu brennen anfingen. Fackeln, die durch die Nacht der Völker irrten, bis sie langsam in London oder New York oder Prag erloschen. Da stehen sie nun, die Grabhügel mit den einstmals illustren Namen, heute schon fast vergessen, die einmal das Gesicht dieses Jahrhunderts prägten, die Baumeister, Komponisten, die Dichter, die es bis hierher geschafft hatten, die Geister der von den Konsulatsbeamten abgewiesenen Antragsteller, Welterlöser ohne Aufenthaltsbewilligung. Über die Grenzen fluteten Sprachgenies, die kein Wort mehr verstanden, die Bauhausleute und die Zwölftonmusiker, die der Zeit nachhinkten, denn die Zeit, das war die neue Lehre von der Unmenschlichkeit, vom Ende aller Vernunft, des Mitleids, und sie, die Neutöner, die Farbmischer, die Strukturbewußten waren zur Arrière-Garde eines längst überlebten Fortschrittsglaubens geworden …«.

Es sind die, von denen das zu Anfang erwähnte Gedicht spricht, die, die nur noch existieren in musealen Überbleibseln, die zu Geschichtstrümmern geworden sind, aus denen das darin gespeicherte Leben bereits gewichen ist: »Wir sind die Letzten. / Fragt uns aus. / Wir sind zuständig. / Wir tragen den Zettelkasten / Mit den Steckbriefen unserer Freunde / wie einen Bauchladen vor uns her. / Forschungsinstitute bewerben sich / Um Wäscherechnungen Verschollener, / Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie / wie Reliquien unter Glas auf. / Wir, die wir unsere Zeit vertrödelten, / aus begreiflichen Gründen, / sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden. / Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz. / Unser bester Kunde ist das / schlechte Gewissen der Nachwelt. / Greift zu, bedient euch. / Wir sind die Letzten. / Fragt uns aus. / Wir sind zuständig.«

Auf der Flucht vor der vordringenden Wehrmacht gelangte Sahl mit vielen tausenden deutschen Juden nach Marseille, wo sie auf die Chance zur Weiterflucht nach Lissabon und zur Atlantiküberquerung hofften. Hier unterstützte er die Arbeit von Varian Fry, der von einem von Thomas Mann geleiteten amerikanischen Komitee nach Marseille geschickt worden war, um möglichst viele jüdische Intellektuelle aus den Krallen der Vichy-Regierung nach Amerika zu retten, zu denen schließlich auch Sahl zählte.

Einigen Glücklichen gelang so die Flucht aus dem brennenden Europa in die USA, wohin sie versuchten, ihre Kultur auf dem Rücken mit hinauszuretten wie Äneas seinen Vater Anchises. Aber dort trafen sie, die Rückwärtsgewandten, die wie der von Benjamin so geliebte ‚Angelus Novus’ von Klee mit dem Gesicht zur Vergangenheit in die Zukunft trieben, auf eine Kultur des der Zukunft zugewandten Optimismus, der ihr Leiden am Gegenwärtigen überhaupt nicht zu erfassen in der Lage war. Vielen erschien allzu bald das rettende Gestade als ein Land ohne Kultur, Stil und Würde, und Sahl schildert den Kulturschock, den für viele Exilanten ‚Living in America’ bedeutete; vielen von ihnen kamen die USA manchmal wohl wie ein Faschismus mit menschlichem Antlitz vor, woran möglicherweise auch die schöne Zeit in der Künstler- und Intellektuellenkolonie von Provincetown am Cape Cod nichts ändern konnte.

Denn nicht unähnlich der polarisierenden Situation in der Endphase der Weimarer Republik erging es Sahl auch in den USA, als er einen kritischen Artikel gegen den Abstrakten Expressionismus veröffentlichte, der ihn aus der Kunstszene geradezu hinauskatapultierte in den luftleeren Raum, genauso wie den weiterhin gegenständlich malenden – und heute ‚rehabilitierten’ –Edward Hopper. Dieser Abschnitt über das Exempel des Abstrakten Expressionismus zeigt, dass auch in der amerikanischen Demokratie die Gleichschaltung des Geistes und die Diktatur des Optimismus, die mit ihrem trotzköpfigen Glauben an das Machbare und an die ‚Chance’, alles mit ein wenig Anleitung auch selbst mit ‚Erfolg’ meistern zu können, Raum greifen; das lässt sich auch als Kritik an anderen, häufig aus Amerika stammenden, Do-it-yourself-Ideologien lesen, wie sie sich zum Beispiel im Creative Writing und ähnlichem die kulturelle Qualität bedrohenden Schwachsinn zeigen.

Sahl arbeitet in den USA als Korrespondent für deutschsprachige Zeitungen und als Übersetzer aktueller englischsprachiger Literatur wie der von Thornton Wilder, Tennessee Williams und Arthur Miller. Als er in den Fünfziger Jahren nach Deutschland zurückkehrt, will dieses Land ihn nicht und lässt ihn sich ‚zuhause’ fremder fühlen als im amerikanischen Exil, in das er daraufhin ein zweites Mal flieht. Erst 1989, mit 87 Jahren, übersiedelt er nach Tübingen, das noch so aussah, wie manche der Kleinstädte, die er aus der Zeit vor dem Krieg kannte, und stirbt dort vier Jahre später.

Trotz der erfolgreichen Flucht einiger ‚Kulturheroen’ aus Europa erging es ihrer Vorkriegs-Kultur so wie einem ihrer besten Sachwalter, dem Ende Mai 1939 in einem Armenhospital gestorbenen österreichischen Schriftsteller Joseph Roth, der im Pariser Exil im »Café de la Poste … die Nächte verbrachte und sich mit Wein, Cognac und Pernod zu Tode trank … Er, der die schönste Prosa seit Heine schrieb, nahm sich täglich das Leben, er vergiftete sich mit Alkohol. Einmal nahm er mich zur Seite. Sein Gesicht mit dem struppigen Schnurrbart war aufgedunsen, seine Füße geschwollen, so daß er sich die Stiefel nicht mehr zuschnüren konnte. Er mußte sich an der Messingstange der Theke festhalten, als er mir zuflüsterte: ‚Wissen Sie, was heute für ein Tag ist? Heute war mein Kaiser bei mir.’ ‚Wer?’, fragte ich. ‚Otto von Habsburg.’ Joseph Roth, das war das sterbende Wien. Das war die sterbende Donaumonarchie im Exil. ’Ich will hier bleiben. Ich gehe nicht fort, ich will nicht nach Amerika!’, schrie er eines Nachts, ‚ich bin ein Europäer und ich will in Europa sterben, hier, auf einer Straße in Paris, vor diesem Hotel…’«. Friedhelm Lövenich
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Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nahm Hans Sahl 1962 auf, 1982 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen und 1993 der Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, in dessen Hauptstadt er geboren wurde. Der 1995 gestiftete Hans-Sahl-Preis ehrt Schriftsteller, die sich mit ihrem Gesamtwerk für die Freiheit des Wortes einsetzen.


 

Hans Sahl
Die Gedichte
Luchterhand Literaturverlag
336 Seiten
19,95 €
978-3-630-87288-9

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Hans Sahl
Memoiren eines Moralisten (1983)
Das Exil im Exil
(1990)
Neuherausgabe 2008 in einem Band
Luchterhand Literaturverlag
512 Seiten
ISBN 978–3–630–87278–0
21,95 Euro

Rede von Hans Sahl
Was ist eigentlich Exilliteratur?


 


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