Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




Die menschliche Komödie
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Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
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Foto: Jreberlein at en.wikipedia


Frames of Judy

Ein Essay von Anne Dippel

I. Framing the Frame of the Framing Framer
Es heißt, Deutsche stünden nicht gerne in Schlangen an, ganz im Gegensatz zu ihren englischen Nachbarn, die sich jeder Schlange ergeben anbiederten, freiwillig Schlangen bildeten, um wie eine Perlenkette aufgereiht nach und nach den Engpass zu durchlangen. Sie bilden so in der Zeit, nicht aber im Raum eine Menge, die als algorithmische Masse bezeichnet werden kann. Die Deutschen hingegen verhalten sich gegenüber Engpässen en gros wie Kamele, besser, sie bilden gemeinsam eine kollektive Formation, deren Vorhaben es ist, einen mir nichts dir nichts zum Nadelöhr mutierten Engpass mit einem Mal zu durchgehen. Ohne es zu gegenwärtigen wiederholen sie in actu die Fehlübersetzung Luthers, dem dieser Umstand aber nicht zu schulden kommen soll. Nur, seitdem er, von damals noch unbekanntem Orientalismus befallen, fantasiert hatte, »eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelange«, bauschen sich vor schmalen Öffnungen gerne Wolken von Deutschen auf. Es soll nicht behauptet werden, die Deutschen neigten dazu, sich mit Reichen überzuidentifizieren. Die Engländer lieben Engpässe genauso wie die Deutschen, indes bilden sie zeitlich-tröpfelnde, nicht räumlich-quellende Massen. Und dass die Deutschen eine ganz eigenständige Form haben, sich in Massenereignisse treu zu ergeben, zeigt ja schon ein kurzer Blick in die Geschichte der letzten 150 Jahre. Seltsam bloß: Revolutionen waren nie ihr Ding.
Törichte Schlüsse dieser Art erweckte zuletzt der Dienstagabend des 3. Februar 2009. Das Spektakel hätte die Form einer Schlange annehmen können, ein Ereignis deutscher Disziplin darstellen müssen, ach, aber das war es ja genau so, denn lineares, der Nachzeitigkeit verpflichtetes, zeitlich ausgedehntes Massenbilden ist uns in diesem Fall Beweis englischer Disziplin. Eine unangekündigte Dokumentation von Google Maps hätte per Satellitenaufnahme auch hochaufgelöst die Menschen in Form eines zusammengefügten Kamels gezeigt und die These der folgenreichen Fehlübersetzung bewiesen. Was konnte da an den Türschwellen des Audimax im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin beobachtet werden: Es stürmten, drängten die jungen deutschen Studentinnen und Studenten. Die Veranstaltungsorganisatoren aber wussten das neurotische Massenbegehren durch fehlende Klarheit und Kanalisierung, durch verwirrende Informationen im Vorhinein auf wahrhaft deutsche Weise zu meistern: Gleich fein rieselnden Sandes einer überdimensionierten Uhr stauten sich hunderte Menschen an der Engstelle des Audimax, alle wollten sie gleichzeitig auf die andere Seite des Raums, einzeln aber nur gelang ihnen die Passage. Als wäre mit einem Mal das Vestibül auf den Kopf gestellt worden, fielen die Menschen durch die Tür von Raum zu Raum. Hunderte von ihnen strömten in das Auditorium, vertröstete akademische Hundertschaften platzten in die Säle der Videoübertragung, sie waren um Sekunden zu spät gekommen. Nur, welchen Heiland kamen sie zu hören? Wem huldigten die von allen Bildungseinrichtungen Berlins herpilgernden suchenden Seelen? Selten winden sich zwei Stränge zu einer Doppelhelix von Massenleben, hier aber war es wieder einmal möglich, aus den Unterschieden zweier diametraler Ichs gebar sich ein realer Augenblick: Die exzellente Freie Universität paarte sich mit der brillanten Judith Butler und die Menge wurde für Augenblicke zur protestierenden unheimlichen Masse. Das Ereignis sollte sich ungewohnt dramatisieren und, geradezu ein drohendes Vorahnen für sommerliche Protestwochen wecken. Denn diese sind geplant: gegen Bologna, für die gleiche, freie, gerechte Wissenschaft. Eine schwelende Lust am Widerstand schwirrte durch das Auditorium.

Wie konnte das geschehen?
Ad Eins: Eine Universität, die Freie, besonders ihre Geisteswissenschaften, vermochten für sich durch eine außerordentliche Kür im Exzellenzwettbewerb einen vielbeneideten Geldregen ertanzen - im Gegensatz beispielsweise zu ihrer schöneren, älteren, selbstzufriedeneren und daher erfolglosen und neidischen Stiefschwester Humboldt-Universität.
Ad Zwei: Ein »Humanity Center« in Dahlem wurde gegründet. Dieses »Center« will exzellenter Schüler des Bolgoneser Gleichschaltungsprogramms sein und nutzt das viele Geld zur Maximierung von Renommee und Produktion marktgängigen Wissens. Denn Bologna erzählt nicht bloß von Vereinheitlichung der Institutionen, sondern auch von der des Geistes. Die Scholastik nahm ihren Ausgang in Bologna, die Neoscholastik auch.
Ad Drei: Renommee folgt dem Gesetz der Repräsentation. Sie braucht und leistet es sich, Renommierte einzuladen. Der französische Denker Georges Bataille schon lehrte: Verausgabung ist Grundlage allen feudalen Gebahrens.
Ad Vier: Deshalb wurde ein Anlass ins Leben gerufen, dessen Pate niemand Geringeres als der synthetische Idealist Hegel ist. Wer ließe sich nicht zur »Hegel Lecture« einladen, wer nicht bitten, und bitte wer nicht mehr als die zweite Rednerin dieser jungen Institution, Ad Fünf, Judith Butler, ihres Zeichens Maxine-Elliot-Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Berkeley; Hoffnungsträgerin aller Unzufriedenen und Fehleingeschätzten; Stern am Himmel aller queer, trans, homo und sonstig subversiv gegen Heteronormativitität aufbegehrenden linkspolitischen westlichen Menschinnen und Menschen.

Nun, unter diesen Auspizien lässt sich die Existentialität des Hin- und Wegpilgerns der Massen besser verstehen. Zwei Studierenden- und eineinhalb Lehrendengenerationen wollten die Ikone der Performativität und Nicht-Essentialität von Geschlechteridentitäten sehen_hören_spüren. Und es verwundert Niemanden, dass der totale Konstruktivismus trotz naturalistischer Siegeszüge in Biologie, Psychologie und was da sonst noch sich Modeneurowissenschaften nennt, seine Berechtigung unter dem trüben Wissenshimmel Bolognas einfordern will.
Im Gegensatz zu vorhergehenden Lesungen Butlers in Berlin, hat sich der Andrang vervierfacht, Leersäle leben für zwei Stunden wieder als Lehrsäle auf. Die Türen werden bald geschlossen. Willkommen in Westberlin! Am Checkpoint Judy gibt es keinen Einlass mehr, auch die Wochen zuvor schon per Email erfolgte Anmeldung gilt den universitären Türwächtern nichts. Wütende Gebärden hysterischer Historikerinnen zeigen vereinzelt noch Erfolg, triumphal reihen sie sich auf den Hühnerstangen-look-a-like-Heizkörpern am Rande des Auditoriums aneinander und warten (gackernd). Nach diesem Kraftakt bleiben noch fünfzig Minuten Zeit, Zeit sich umzusehen (Das Ich dieses Textes ist viel zu spät mit der dreisten Behauptung, jemand hielte ihr im Saal einen Platz frei, an den strengen Wächtern vorbeigehuscht und kann danach sogar noch einmal für die Toilette das Auditorium verlassen, um es unbehelligt wiederzubetreten, auch ihr bleibt ausreichend Zeit zu betrachten). Junge Männer, Middlesex von Jeffrey Eugenides lesend, kurzhaarige, langhaarige schöne und hässliche Lesben jeden Alters, männliche und weibliche Feministinnen jüngerer und älterer Generation, interessierte Immatrikulierte Philosophischer Fakultäten aller Hochschulen füllen plappernd und aufgeregt den Saal - mit der Langeweile verstärkt sich die Lust an der Beobachtung. Neben mir sitzt eine verirrte Modedesignstudentin, die mit einem Fingerzeig auf die Fotografie Judith Butlers, von der Faltblattpräsentation abgestoßen, flüstert: »Ich verstehe nicht, warum sie nicht mehr aus sich macht!« Verzweifelt versucht sie den Ohrring zu verdecken. »Ohne Ohrring sähe sie viel besser aus.« Sie hält die Hälfte von Butlers Gesicht zu. Sibyllinisch entgegne ich: »Aber für die Meisten hier macht sie doch genau so sehr viel aus sich.« Stutzen; umblicken, anblicken; in ihren Augen blitzt Erkenntnis, ein Bonmot!, glücklich lächelt sie. Ich folge ihrem schweifenden Auge, doch weniger aufgeregt. Man fragt sich, in welchen Löchern diese vielen Menschen sich tagsüber versteckt halten. Wie anders sähe die Welt aus, wie queer und fremd wär ihr das Wort normal. Alle warten geduldig auf ihren Star.

Als ich Judith Butler das erste Mal erlebt habe, 2001 auf der Frankfurter Foucault Konferenz, rief ihr nach ihrem Vortrag die berühmte US-Politologin Nancy Fraser zu einer Bemerkung aus dem Hörsaal zu »We have to work on that, Judy!« Und Judy nickte zustimmend. Das hat mich maßlos beeindruckt, denn mit einem Mal war der Saal, von 1000 Menschen erfüllt, zu einem Seminarraum aus 10 Personen geschrumpft gewesen, und Judy zum Menschen geworden. Viele aber hier warten auf Judith Butler Superstar, eine kleine zierliche Frau, Typ Butch, eine Denkerin, die nie daraus einen Hehl gemacht hat, eine solche zu sein; eine Denkerin natürlich. Jemand, der die Chuzpe besaß, Foucault und 1970er-Jahre Feminismus zu radikalisieren, Geschlechtlichkeit zum Grundstein der Legitimation idealistischer und aktivistischer Philosophie zu machen. Roland Barthes stellte einmal fest: »die Absonderung verwandelt sich in den Stoff des Werkes selbst, in die konkrete Arbeit am Werk (vgl. die Homosexualität annehmen = sie transformieren)«. Judith Butler verkörpert ihre Philosophie wie sie die Philosophie verkörpert hat ...
Die Prominenz, später von Prof. Dr. Küpper, Vorsitzender des Dahlem Humanity Center als »Exzellenzen« betitelt, vertreibt sich das Warten im geschlossenen Saal stehend. Souverän, halten sie vor ihren reservierten Plätzen Stellung, die Blicke scheinbar desinteressiert, ein wenig von der Besonderheit Butlers in Berlin, Deutschland, Kontinentaleuropa, kostend ...
In der Internetenzyklopädie Wikipedia fällt die Biographie Butlers bemerkenswerterweise auseinander, einzig auf der Deutschen Seite ist sie als aus »jüdischer Familie« entstammend beschrieben. Ach, die Deutschen, freuen sich, wenn man sie liebt und sie freuen sich noch viel mehr, wenn sie geliebt werden von einer Frau, die sich selbst als amerikanische Jüdin bezeichnet, lesbisch, israelkritisch. Vor dreißig Jahren studierte sie an keinem geringeren Ort als in Good Old Heidelberg, wo sie den damals auch schon ziemlich old aber immer noch good Gadamer hörte. Eine kleine lesbische, jüdische Amerikanerin, kommt, um Hegel zu preisen. ... Unvermittelt drängen sich die kleinen Fragen vehement auf: Wie viele in diesem Saal wohl Hegel studiert haben; wie viele Butlers einfache aktivistische Formel der Subversivität im Original gelesen; wie viele sie begriffen; wie wenige ihren dialektischen Streitereien mit den philosophischen Gesprächspartnern gefolgt sind? ... Minuten verstreichen dann doch im surrenden Bienenhaufen das Auditoriums.
Das Ereignis, ganz Ereignis, vollzieht sich unerwartet. Leise überquert eine unscheinbare kleine Frau den roten Teppich (Gummisohlen, ein schwarzes, »vernünftiges Paar Schuhe«, wie Simone de Beauvoir anzumerken hätte). Sie passiert die Reihen der Wartenden, nur durch ihre Entourage fällt sie auf, eine Traube äußerst exzellenter Exzellenzen, mehr oder weniger exzellent gekleidet. Für wie viel sie wohl so eine Vorlesung macht? Laut schwillt das Klatschen der glücklichen Hörerinnen und Hörer in spe an, das Warten hat ein Ende. Und so sehr sie ein Ereignis begehren, werden sie nicht damit rechnen, dass ihnen, Zuschauern und Zuhörern gleichermaßen bald das Simulakrum eines existentiellen Ereignis leibhaftig widerfahren wird. Judith Butler wird sprechen, doch ihnen wird sich der Sinn des Gesagten im Augenblick der Aussprache wieder entziehen. Sie werden Butler anstarren, aber nicht sehen können. Sie werden sie hören, aber nicht verstehen. Und das kommt so:

Die erste von drei stellvertretenden Präsidentinnen der Freien Universität, Frau Professor Doktor Ursula Lehmkuhl, preist ihre Institution auf beinahe ungebührliche Weise. Die Deutschen haben aber keine Tradition institutioneller Gruppierung von Wissen, jeder Lehrstuhl ist sein eigener Kosmos, zuweilen huscht einmal eine Sternschnuppe aus einer andere Galaxie vorbei (sie verglüht zumeist im Orbit), aber Vernetzung der Sonnensysteme sind von kalkulierten Symbiosen und klientelistischen Strukturen gesteuert. Frankreichs pyramidales System, anglosaxonische Efeuranken um altehrwürdige Steingemäuer wissenschaftlicher Siegespaläste, bleiben hier Fantasmen des alternden, lorbeerumkränzten C4-Professors und seiner Satelliten. So wecken Professor Lehmkuhls Lobpreisungen den Unmut immer lauter kommentierender Zuhörer. Exzellenzverliebte institutionale Selbstdarstellungen, die vom Inhalt so träumerisch-amerikanisch und vom Ausdruck her so unbedarft-deutsch daherkommen, können in diesem Raum nur mit lautem Protest und Belustigung empfangen werden. Verunsichert von der eigenen Demonstration souveräner Exzellenz, gelingt ihr bald ein großartiger Versprecher. Sie sei erfreut, lässt sie vernehmen, dass eine der bedeutendsten lebenden amerikanischen Philosophinnen, »Judith Buster, nein Butler« der Einladung gefolgt sei. Nicht jeder Geist ist offensichtlich medial so versaut worden, wie der meinige: angespornt durch diese unfreiwillige Assoziation, blitzt in mir das Bild einer schlau zu Geld gekommenen, dicklippigen Pornoqueen auf, ich hör schon nicht mehr zu und frage mich indes, ob Frau Butler dem Paradigma von Herr und Knecht allein aufgrund ihres Nachnamens nicht entfliehen konnte, ob ihr Name sie zum Programm geführt und von vorn herein in die Rolle desjenigen gebracht habe, der mehr als der Herr immer das alte Spiel von Macht und Ohnmacht busten möchte. Professor Lehmkuhls Laudatio auf die Exzellenzbemühungen ihrer Freien Universität veranlassen derweil das Auditorium dazu, ihre Ausführungen mit einem Schwall von Zwischenrufen und aufmüpfigen Brüllereien à la »lächerlich«, »aufhören«, »Buh« und lautem Lachen zu beantworten. Die Masse verspürt Lust, sich ihrem Unbehagen gegenüber den angelaufenen Reformen Luft zu machen. Endlich gibt es eine Dritte, eine unbeteiligte Hörerin, Judith Buster, nein, Butler, die sie alle zu revolutionärem, linken Verhalten immer geistig beflügelt hat. Sie soll hören, wie mutig sich der Unmut über die Reform des Universitätssystems äußern kann, wie unzufrieden alle sind, dass sie nicht mehr jene Freiheit des Studiums haben, die ihren Ausgang doch in Hegels Freiheitsbegriff nahm. Frau Butler soll hören, urteilen darüber, wie zuwider den deutschen Universitätsverbundenen es ist, dass sich da einer aufspielt, Herr über ihre geistigen Entwicklungen und Leistungen zu sein. Sie möchten diesen Herren und Damen mal den machtgeschneiderten Bolognarock herunterreißen und die blanke Gier nach Akkumulation von Geld und Leistung zur Schau stellen. Endlich, Frau Lehmkuhl ist erlöst, demonstratives Klatschen einiger Exzellenzen und angepasster Studenten.
Alles in allem schlechte Startbedingungen für den Einführungsvortrag von Prof. Dr. Joachim Küppers. Der Kredit ist ihm von vorn herein schon entzogen, seine Rede hält er aus roten Zahlen heraus, knietief im Dispo stehend. Der Romanist, Sprecher des Dahlem Humanities Centers, schreitet beschwingt noch die Treppe herauf, aber die ersten fünf Worte schon zeigen verknöcherte Geistesungegenwärtigkeit: auch er kann es sich nicht nehmen lassen, vor die Einführung in das Ereignis Butler, der Freien Universität Humanity Center zu rühmen. Konzentriert preist doch schon die Homepage »Das 2007 gegründete Dahlem Humanities Center bündelt die deutschlandweit einzigartige Breite geisteswissenschaftlicher Forschung an der Freien Universität. Es schafft für diese Fülle der Disziplinen und Aktivitäten einen übergeordneten, interdisziplinären Forschungsrahmen: die Untersuchung der Erscheinungsformen, Prinzipien und Wirkungsweisen kultureller Dynamik.« Die Worte des Redners ernten noch lautere Buhrufe, wieder schreit man »lächerlich«. Sind hier etwa wilde Studenten incognito von der Humboldt-Universität angeheuert worden, die die Feierlauene der schönen reichen Dahlemer stören sollen? Als Küppers dann auch noch geradezu flaubertesk in bildungsbürgerlichen Metaphern badend, Frau Butlers Anreise via Land aufgrund des verschneiten und gesperrten Flughafens Heathrow schildert, und sich anschickt, die räumlichen Umdisponierungen im Vorfeld zu erklären, ist es den Anwesenden unmöglich, das »organisatorische Imbroglio« zu entschuldigen. Lachen wellt durch den Saal und der Redner hält sich am Pult fest, sein Körper versucht durch den Schallfluss hindurchzutauchen. Das revolutionäre Implikat Butlers sei, Freiheit über die Materialität des Körpers hinauszudenken, ausgehend von der Idee des Körpers als Phänomen des Bewusstseins, unsere Auffassungen zu ändern, wenn »wir« nur wollen. Als geistige Wesen, die wir auch sind, könnten wir die Materialität verlassen. »Change« wird mutig zitiert und Obamas Präsidentschaftsrede, das Publikum stöhnt bei jeder Zeile und murrt ungeduldiger, das kontinentale Publikum wird geradezu verbal inkontinent, als der Referent diese Kombination von Idealismus und Aktivismus in Butlers Denken auch noch als das Erbe der USA proklamiert. Doch leise hör ich da den Riss zwischen der bekennenden US-Amerikanerin und ihren deutschen Zuhörern, der später, in ihren Beurteilungen der israelischen Situation möglicherweise noch stärker aufgebrochen wäre, wenn man ihr hätte folgen können, wenn Fragen erlaubt gewesen wären. Linke Politik auf dieser Seite und auf der anderen Seite des großen Atlantik ist und bleibt oft ein Falscher Freund. Viele Amerikaner wissen das besser als die meisten Deutschen. Leise schwelt ein Zweifel: Es geht den Zuhörern offensichtlich gar nicht um die Gedanken, die Butler jetzt beschäftigen, sie möchten sich nicht Eindenken in das bald zu Hörende, von dem der Romanist erzählt. Es interessiert die Wenigsten die Befreiung aus dem Gefängnis des scheinbar naturhaften Kulturverhafteten. Küppers resümiert: Ethik und Moral im Angesicht des Krieges; von der Bibel und Aristoteles wollen sie gar nichts wissen. »Lächerlich! Aufhören!« Alles olle Kamellen, das Publikum hört bloß Geschwafel. Die Zuhörer wollen nur ihrer Führerin die Gefolgschaftstreue zeigen, indem sie die anderen Sprecher nicht hören wollen. Sie möchten das Popereignis, sie möchten Judith Butler sehen. Sie möchten danach sagen können, dass sie dabei gewesen waren. Butlerjudy wollen sie und keine Philosophie. Wer möchte schon hören, dass sich die höchste Verdichtung der Geisteswissenschaften in der Philosophie wiederfände - im Übrigen eine gerade unter klassisch-rhetorischen Aspekten streitwürdige Annahme von Professor Küppers. Aber deshalb buhen die Zuhörer nicht. Dass Frau Butler für Freiheit und Befreiung in Person und Werk steht, ist allen im Raum schon lange vor ihm klar gewesen. Von ihrer Promotion über den Hegelschen Freiheitsbegriff bei Frankreichs Intellektuellen im 20. Jahrhundert bis hin zu ihrer Queer Theory will niemand etwas durch diesen blauen Anzug mit Kulturstrick um den Hals hören. Hängt ihn auf! Hat der überhaupt einen Kopf oder sitzt da auf dem weißen Hemd nur ein lautstarker Sender von Radio Bologna? Während der Rede Prof. Dr. Küppers beginnt sich die Masse ins Selbstgerechte zu steigern und stürzt in die Vermessenheit. Das war ja immer schon das Problem der Massen, und dann wurden sie noch immer unbehaglich: Jetzt zweifeln sie seine Aufgabe an sich an.
Seine Einführung in den Vortrag »Frames of War« von Judith Butler ist aber wichtig gewesen, das Auditorium hätte hören sollen, dass Butler sich abkehren will von all den Genderproblematiken, sie hätten ihr Denken öffnen sollen für politische Fragen, die Krieg und Körperlichkeit betreffen. Bald werden die Zuhörer Butler hören und nichts verstehen und ihr »Aufhören!« reißt Gräben auf. Berechtigter Unmut war zu feiger Ungerechtigkeit geworden. Endlich endet Herr Professor Küppers, nicht ohne mehrfach ungeschickt wie ein kleiner Junge mit dem Oberkörper trotzig eine Wellenbewegung zu vollführen, dabei am Rednerpult krampfend ein letztes Mal sich mit seinem ganzen Körper gegen die Flut der Masse trotzig aufzubäumen - »und ich rede doch bis zum Ende«. Butler erlöst ihn, treppauf die Eine, treppab der Andere, hunderte Hände branden ineinander, während Judith Butler höflich die große Hand des Herrn Professor Küppers in ihrer Kleinen stillend birgt.

Die transatlantische Hörerin enttäuscht all die, die ein Wort von ihr zum lauten Tosen erhofft hatten und stürzt sich gleich in ihren Vortrag. Butler interessiert sich nicht für europäische Probleme, sie will keine Richterin sein, sie ist Philosophin. Die Amerikaner sind auf dem Rückzug aus Kriegsgebieten und die Völker sollen selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen. Cold War is over. Wir müssen über das Ende von ganz anderen Kriegen sprechen und wollen nichts hören von Universitätsgrabenkämpfen a la Bolognese, die doch nichts an der bereitwilligen Hinnahmefähigkeit der Hörer etwas ändern. Denn die Reformen reformieren sie nicht durch ihr Protestverhalten, sie bestärken sie vielmehr in ihrer ganzen Notwendigkeit, sie geben ihnen Raum. Sie sprengen den Bologneser Rahmen nicht und bauen an seiner Verfestigung noch mit. Ähnliches wird Frau Butler später zur Wirkung von Kriegsphotographien sagen. Doch solches entzieht sich dem Verständnis der Mehrheit. Und das liegt erstens an ihrer Ausbildung, die sie zwar Butler hat lesen lassen, aber nie Hegel und zweitens an dem Englisch, zu dem Butler, das Deutsche fließend beherrschend, aus »Höflichkeit« im Vorfeld gedrängt wurde, ein Umstand, den sie irritiert ihrem Vortrag vorausschickt.


II. Framing the Frame of Judys Framing
Folgende Denkbewegungen beleben Judith Butlers Philosophie: Die Erste betrifft den dialektischen Verlauf von These - Antithese - Synthese. Die Zweite bricht jede Dialektik in Manier eines typisch strukturalen Suchens nach Leerstellen, Rissen und Diskontinuitäten einerseits und dem dekonstruierenden genauen Lauschen der Etymologien, Verwandtschaften und Semantiken von Wörtern einer Sprache, dem omnisensuellen Nachspüren ihrer (Un)Möglichkeiten der Variation andererseits. Aus der Reziprozität der Bewegungen eröffnet sich ein mehrdimensionaler Raum für Spiele: Das Spiel mit der différance von Laut- und Schreibweise verweist auf die eminente Bedeutung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit; das Spiel mit der symbolischen und imaginären Dimension von Materialitäten wiederum spricht von der besonderen Bedeutung des digitalen Zeitalters und seinem durch elektronische Medien ausgelösten grundlegenden Zweifel an der jeweiligen Wahrnehmung. Mit Blick auf Differenz und Wiederholung von Ereignissen, zeichnet auch Butler den von Heidegger zuerst beschriebenen und von Derrida beispielsweise meisterhaft imitierten Weg des Denkens nach.

 a. Framing the Thoughts
Die Poesie philosophischen Denkens eröffnet Butler die Chance von den neuen medialen Kriegen auf eigene Weise zu sprechen. Sie schließt von den new wars auf die new ways of precariousness (Bedenklichkeit, Unsicherheit); sie kann von dort aus die Wechselbeziehungen zwischen precariousness und precarity behandeln (Prekarität - ein sowohl räumlicher, wie auch zeitlicher Begriff, der sowohl den Status »Prekariat« als auch den Prozess »Prekarisierung« bezeichnen kann). Judith Butler verwebt kontinentale Traditionen der politischen Ästhetik mit ethischer Philosophie anglosaxonischer Prägung. Immer fordert ihr Denken Handeln ein. Butlers Denken haust an der Schnittstelle zwischen Politik und Philosophie. Gewollt oder ungewollt basiert ihr Vorhaben auf der thomasischen Formel agere sequitur esse - das Handeln folgt dem Sein. Damit steht sie in der Nachfolge zweier großer Philosophinnen, Hannah Arendt und Simone de Beauvoir.
Judith Butlers Bekanntheit entspringt ihrer politischen Weise Materialitäten als Körper zu denken. Die Form fällt hier mit Materie (Hyle) zusammen. Die Hülle dieser Körper, bindet das Subjekt in die Gesellschaft ein, es ist aktiv, medial und passiv einem desire unterworfen (Herr/Knecht, Klappe die Erste)- desire, désir dem so vieldeutigen Wort, das im Deutschen Begierde, Verlangen, Wunsch und Begehren umfasst. So zersprengt Butlers subversives Programm das normierte Denken geschlechtlicher Zuschreibungen. So nähert sie sich auch dem Thema Krieg. Von seinen frames her sei der Krieg zu begreifen - frame, ein Wort, das von jeglicher Art des Rahmens über Gerüst bis zu Telegramm und Einzelbild alles umfasst, das medial oder materiell dem Transport von Informationen, Inhalten und Bedeutungen eignet. Butler grenzt den Begriff für ihr Vorhaben ein, frame bezeichnet für sie - a, sichtbare Wahrnehmungen und b, Normen und normative Bedingungen. Frame sei grundlegender als alle anderen Begrifflichkeiten, denn Subjekte und Leben könnten nicht ohne Normen, als solche, wahrgenommen werden. Die Kategorien bilden ein soziokulturelles Apriori. Daher sei - c, Die normierende Konstruktion von Leben eine konstruktive Aufgabe, die niemals beendet wäre. Ständig wiederhole sie sich, immer sei sie heterogen. Normierung ist nicht zu vermeiden. An dieser Stelle begegnen wir Hörenden Hegel persönlich. Denn wo sonst geschehe das erste framing, als im reflexiven Unterscheiden von mir als Ich im Jetzt, im Davor, im Danach, einem Trennen, das die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft vorzeichnet; denn Ich benötigt ein Drittes, ein Außen, eine Form der Reflexion.
Durch Selbstreflexion verdoppelte man sich. Dieses »aus sich heraus kommen« bezeuge ein Ich, das »Hier« und »Da« sein kann. Erst durch Reflexion werde man etwas Anderes, zu einem Selbst. Von der Bedingtheit im Raum entbunden, erlebe jeder eine Verdoppelung des räumlichen Systems »Selbst«. Noch taucht der »Andere« in der Erkenntnis des Herr/Knecht-Paradigmas gar nicht auf, Ich und Nicht-Ich konstituieren sich weit vorher in jedem Einzelnen, als eine andere Gestalt oder shape (Als Judith Butler »Gestalt« erwähnt, wird deutlich, wie gerne wir an dieser Stelle weiter auf Deutsch gehört hätten; ihre Gedanken wären disputabel geworden). Dieses Ich sei eben die universale Form des Lebens. Ich künde von der Dauer des Lebens und des Körpers Endlichkeit. Dieses Ich akzeptiere, dass andere sind, die dieses Leben, dieses Ich überleben. Das Leben verweise auf das Davor und Danach, auf das, was vor und nach der Gestalt eines Wesens das Ich anzeigt. Als Gestalt sei Ich an Andere gebunden und ungebunden zugleich, resümiert Butler und wiederholt Leibniz zentrale Aussage: »Ein Ding ist, ist nicht«, eine Gedankengrundlage für diskrete Algorithmen aller Art. Butler argumentiert, die Substituierbarkeit des Menschen sei ihm immer schon ein störendes Anliegen gewesen. Doch nur indem die Gestalt selbst ausgelöscht wird, verlischt die Substituierbarkeit des Ich. Das ist der Tod im Tod. Wir stoßen an die Grenze der Immanenz, Butler betritt das Reich der Ontologie: Sie mutmaßt, Tote haben wohl keine Gefühle, die Existenz eines reflektierten Selbst nach dem Ableben sei nicht gesichert. So wendet sich die Frage nach dem Sein dem Leben zu. Eine Frage, die sich auf dem Beginn einer Dialektik ohne Synthese gründet. Das Problem, ob es eine Dialektik ohne Synthese geben kann, bleibt bestehen. Und wie erfolgreich dieser Weg einer von Existentialphilosophie geprägten Denkweise im politischen Alltag ist, muss ebenfalls offen bleiben. Butler indes besteht darauf, dass es aus ethischen Gründen das Leben als ein fortlaufendes Paradoxon zu akzeptieren gelte.
Darauf bauen die nächsten Schritte der Argumentation Butlers auf. 1. Das Ich registriere seine Ersetzbarkeit, obwohl 2. Singularität die Vorbedingung jeden Verstehens ist. 3. Diese Nichtersetzbarkeit ist die Vorbedingung der Ersetzbarkeit, ergo 4. Das Ich sei bedürftig nach dem Anderen, deshalb 5. Die Sozialbilität des Ich: Das Ich möchte überleben, deshalb sei es offen für die Bewegungsbahnen des desire, deshalb unterhalte es soziale Beziehungen. Summa summarum 6. Man nehme sein Leben durch die Norm als etwas Besonderes wahr, daraus ergäben sich mannigfaltige Spiele mit der Norm. 7. Semantischer Break: Bewusst spreche sie an dieser Stelle von Wahrnehmen, nicht von Erkennen. Wahrnehmen sei von Normen des Erkennens abhängig. Nur das Wahrnehmen vermag zu erkennen, dass das Erkennen des Lebens als solches selbst nicht die einzige Wahrnehmungsmöglichkeit der normierten Erkenntnis sei. Sie spreche von Wahrnehmung, denn ihr gehe es um eine egalitärere Wahrnehmung von Leben, eine, die weniger den normativen Bedingungen unterliegt und danach fragt, wer zum »Ich« oder »Wir« gehöre, und wer zum »Anderen«. Außerhalb eines jeweiligen diskursiven Rahmens gebe es keine Diskussion über Leben und Tod. Deshalb eben müssten die ontologischen Felder, die an die Normen des Lebens rühren, mitdiskutiert werden. 8. Jedes normative Ereignis sei durch einen Bruch, einen Misserfolg, eine Unterlassung erschüttert. Normativität nämlich sei darauf aus, Lebende und nicht Leben zu produzieren. Normativität sei ein Rahmen, gleich dem eines Bildes, der etwas in sich trage und dabei immer schon ausschließe. 9. Der Rahmen lenkt die Interpretation (
ðbodies that matter). Diese Erkenntnis bringt die postkoloniale Differenz-Theoretikern Trinh T. Minh-ha zur Frage, ob man den Rahmen des Rahmens rahmen kann, bemerkt Butler. Ein Problem über das sich im Übrigen aber Aristoteles und Platon schon entzweiten. Immer bleibt etwas außerhalb des Rahmens, etwas, das nie vorher Innen war, etwas, das nie hätte Innen sein sollen, hören wir sie warm deduzieren. Ihre Hände dirigieren den Rhythmus ihrer Rede dezent. Diese Produktion von Drinnen und Draußen aber, so erfahren wir, gleiche der technischen Reproduktion, die Walter Benjamin für das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit formuliert habe. So situiert sie das antike Problem im technischen Zeitalter mit seinen medialen Paradigmen neu und greift im Folgenden auf die für Roland Barthes viel subversiveren Medien als Kino und Fernsehen zurück: auf die Fotografie und das Gedicht.

 b. Framing the War
Butler erörtert die Auswirkungen der Kriegsbilder und der Gefängnispoesie in Zeiten der Global Coverage. Dem Topos gemäß, stellen Fotografie und Gedicht zwei unterschiedliche, bis zur Unendlichkeit produzier- und reproduzierbare Phänomene menschlicher Schaffenskraft dar. Beiden ist gemein, dass sie mit ihrem Kontext selbst grundsätzlich brechen müssten. Sie müssen den Rahmen, in dem sie entstehen, verlassen, damit sie wirken (Wir erinnern an die posthum gefundenen Berichte und Bilder der Sonderkommandos in Auschwitz). Ein zirkulierender Rahmen, Bedingung des Kriegsbildes oder der Gefängnispoesie, bricht mit dem Kontext des Krieges. Ihr Zirkulieren ist einzig durch Zensur zerstörbar. Doch die Kontexte der fotografischen und poetischen Artefakte sind wiederum gerahmt durch den Text des Krieges. Krieg indes sei inzwischen (inzwischen? Schon seit der Dolchstoßlegende...) auch ein Medienphänomen geworden. So kann nur ein neuer Kontext sich vom Krieg selbst abgrenzen. Jedes Mal, wenn die Fotografie versucht, etwas zu zeigen, bricht das Bild durch die Zirkularität des Artefakts selbst aus seinem ursprünglichen Rahmen aus. Das ist der selbst-brechende Teil der Definition, dieser perpetuierende Bruch eignet dem Artefakt und gleicht darin der zuvor beschriebenen Dopplung des Ich durch die Reflexion bei Hegel. Die Veröffentlichung der Fotografie, ihre Verbreitung, Dissemination über die Welt selbst, verschiebt sie von ihrer Ursprungszeit und Ursprungsort weg, sie ist »hier« und »da« zugleich. Im Gegensatz zur Gefängnis-Poesie Guantanamos, haben die Bilder von Abu Ghraib das Gefängnis verlassen. Doch befreien konnte die Fotografie niemanden, indes die allgemeine Empörung gegen den Krieg vergrößern. Der Rahmen selbst erlaubt den Krieg. Jede veröffentlichte Kriegsfotografie zeigt ihren Rahmen global. Das Artefakt selbst ist flüchtige Vergegenwärtigung, eine kurzlebige Zurschaustellung des Rahmens. Kein Wandel setzt ein, allerhöchsten produziert ein solches Foto neue Rahmen, Gegenrahmen, wie alternative Medien es sind. Mediale Repräsentationen des Krieges, wie die der Kriegfotografie, förderten gegenwärtig einzig die Arten und Weisen militärischen Verhaltens (Wir denken an die toten Kinder auf Digitalfotos, die im Medienkrieg gleich Bomben auf Israel niederhagelten). Wahrnehmung und Methode werden hier zu zwei Modalitäten der gleichen Ordnung. Sie produzieren wer Leben erhält und wer Leben gefährdet.


An dieser Stelle kippt Butlers Habitus von der Philosophin zur politischen Aktivistin. Sie proklamiert, dass es die Spalten, Risse (fissures) die aus den Rahmungen entstehen aufzufinden und zu brechen gilt. Wir erinnern uns, dieser Bewegung schon einmal in ihrem Denken begegnet zu sein, als es um die Performativität von Geschlecht und Körper ging. Die Begriffe sind nahezu austauschbar, Butler hat sich schon immer mit Krieg auseinandergesetzt. Erst der Krieg der Sexualitäten und Körper, jetzt der Krieg der Bilder und Wörter. Butler fordert, dass es herauszufinden gelte, welche Leben innerhalb des Rahmens lägen und welche ausgeschlossen würden, weil sie bedrohlich wirken; welche außerhalb der normativen Definition des Lebens und welche innerhalb des Rahmens geborgen seien. Denn heutzutage gliche verlorenes Leben nicht verlorenem Leben. Im Gaza seien ca. 1400 Palästinenser (Zivilisten und Krieger: Partisanen oder Soldaten?) und 15 israelische Soldaten jüngst verstorben. Und doch wiege die Wahrnehmung der einzelnen Toten nicht gleich schwer. Sich diesen Umstand zu gegenwärtigen heißt einen Riss in den Rahmen der medialen Kriegsführung zu ziehen. Der Prekarität des Lebens gelte es bewusst zu werden. Die Wahrnehmung der Bedrohtheit menschlichen Lebens dränge zum universalen Wiedererkennen bedrohten Lebens an sich. Das eigene Leben hängt immer vom Anderen ab. Immer benötigt es einen anderen, von dem wir annehmen, er weiß, wer »wir« seien - wer »wir« auch immer sein mögen. »Wir« ist eben ohne die anderen nicht möglich. Schon der Dichter Rimbaud schrieb an seinen Freund Izambart »Ich ist ein Anderer«; Jacques Lacan gründete auf dieser Erkenntnis seine Theorie des Spiegelstadiums.
Ein zweites Mal kehrt Butler zu Hegel zurück: Die Nicht-Kommunalität, Nicht-Gemeinsamkeit des »wir« muss die Basis der Verpflichtungen werden. Überleben hänge von dem sozialen Netzwerk der Hände, die einen hielten, ab. Die Betrauerbarkeit eines Lebens, das matters, das zählt, das in die Zählung der 1400 oder der 15 aufgenommen ist, setze voraus, dass man das Leben als ein Verlorenes wahrnehmen kann, als ein Leben, das gelebt wurde und betrauert wird. Erst wenn das Leben als ein verlorenes Leben betrachtet wird, ist es ein Leben, das betrauert werden kann. Die Frage nach dem Trauern indes bleibt eine Frage der Macht (Schon die solonische Gesetzgebung Athens bezeugt diesen Umstand: Den Frauen war das Klagen um die Toten verboten worden, die Mütter wurden Herrscherinnen des Oikos und aus der Öffentlichkeit der Polis verbannt, wie Nicole Loraux treffend analysiert). Die Wahrnehmung eines bedrohten Lebens, das exponiert ist, setzt voraus, dass es zu Beginn ein Nicht-Leben war, außerhalb des Rahmens existierte, bevor es als »wertvolles«, betrauerbares, eingerahmtes Leben wahrgenommen wurde. Die Bedrohtheit des lebbaren Lebens bleibt von einem sozialen Netzwerk abhängig. Es bietet die Bedingung für den Rahmen, der ein Leben betrauerbar oder nicht betrauerbar werden lässt.
Im Gegensatz zur aktuellen US-amerkanischen und israelischen Politik der Unterscheidung von betrauer- und nichtbetrauerbaren Leben fordert die Philosophin die Anerkennung von Leben allgemein, von einem an sich aufrechtzuerhaltenden Leben, das aber kein monadisches, anthropozentrisches Individuum sei. Alle Leben sollten als bedroht angesehen werden und die Verpflichtungen, die daraus erwüchsen, sollten nicht verneint bleiben (eine fiktionale Utopie
ðparadiesischer Zustand ðMonotheismus). Die Bedrohtheit des Anderen bindet das Ich an den Anderen, den Fremden. Der, den wir nie kannten, den wir nie gewählt haben, müssten wir als Nächsten akzeptieren, denn er bezeugt unser Ich. Ein weiteres Mal schleift Butler ihr Band des Denkens durch die Öse des Hegelschen Bewusstseinsbegriffs geschickt zurück.
Palästina und Israel seien aneinander gebunden. Sie definierten sich wechselseitig. Was für Verpflichtungen erwachsen nun daraus? Überleben hängt vom Leben und Aufrechterhalten von Bedingungen ab. Die Prekarität und die Bedrohtheit zu denken, eröffnet nach Butler eine neue Form linker Politik; eine andere Sexual-, Immigrations- und Bevölkerungspolitik; einer Politik, in der der andere »congrievable« werde, in der man mittrauerte; in der die Prekarität zu einer geteilten Bedingung würde. Erst die Rahmen machten die Form des Krieges möglich.
Mit der Metapher des Krankheiten unterworfenen Körpers, seinem subject-to, endet Butler ihre Ausführungen. Am Körper lässt sich begreifen, dass Leben nur in seiner Grundsätzlichen sozialen, wechselseitigen Abhängigkeit und Eingebundenheit möglich ist. - Hobbes und Hegel schon haben dieses Verhältnis analysiert und begriffen, dass aus diesem Umstand die Formen der Dominierung resultieren. Eben das zeigen die modernen Kriegsfotografien: Tote Kinder werden zu Untoten. Einverleibt in das Arsenal des Krieges dienen sie einer verdrehten, perversen Logik und verstärken die Überzeugung, dass der Andere getötet werden müsse. Aber als atmende und denkende Tiere, die wir nun seien (wir erinnern uns wieder an Aristoteles und sein Diktum, der Mensch sei das Tier, das Logos habe), müssten wir lernen mit denjenigen zu Leben, die wir nie kannten und nie gewählt haben.

III. Framing the Words of Judy
Wenn Butler uns erklärt, dass es Frames, Rahmen, seien, die die Form des Krieges ermöglichten, erleben wir eine Wiederholung der alten Diskussion von Form und Inhalt, differenziert hinsichtlich Strukturalität und Medialität in die jedes Erkennen und Wissen um ein Ereignis eingebunden ist. Die »frames of war« sind genauso mächtig, jene Körperlichkeiten ihres früheren Diktums von »bodies that matter«. Darauf baut das Butlersche System, eine stetig gleiche Bewegung, der sie sich nicht entziehen kann auf. So sehr sie es sich auch wünschen wollte, aus diesem Grundproblem in ein anderes überzuwechseln (falls sie das überhaupt) tut, ihr Denken fällt konsequent in die gleichen Muster der erhellenden Erkenntnis zurück. Vielleicht ist dies die einzige Bewegung, die Butler in dieser Gesellschaft möglich ist, ihr Berliner Schlüssel zum Verständnis der Dinge, der doch, in seiner ständigen Institutionalisierung zwar einerseits ein Gegenlesen der Ereignisse und Erscheinungen ermöglicht, andererseits aber zu einem oppositionellen Festschreiben einlädt, der den Ausweg aus den allgemein anerkannten Problemen genauso schwer macht, wie jeder andere theoretische Weg. Man möchte ihr glauben, doch jeder philosophische Sonderweg ist eine Verzweigung, die wieder zurückführt zu ihrer Wurzel aus der sie entsprungen ist: Hegel produziert Dialektik, konstruktive wie destruktive. So konstatieren wir eine Kontinuität Butlerschen Denkens - dann wenn wir ganz »hier« und »da« im Jetzt sind und unsere Augen schließen, können wir heute Abend, im Audixmax der Freien Universität, bei stickiger Luft und großer Hitze, nach laut geäußertem Massenunmut und dem Popanz um das Ereignis einer großen Philosophin heraushören, was uns allen wichtig erscheint: den Willen, die Welt ein Stückerl besser zu machen.
Butlers Zirkel des Denkens, ein ehrwüridger Versuch, gleicht ausgefeilter Gedankenakrobatik. Und geschickt wirbelt durch die Luft, was den Gesetzen der Schwerkraft zufolge doch wieder auf dem Boden landen muss. Judith Butler endet ihren Vortrag, ihr Manuskript verborgen in einer Mappe, zwischen fragilen Händen vor den Körper gehalten, verbeugt sie sich vor dem Publikum wie ein siebenjähriges Wunderkind vor den Mandarinen eines staatlichen Konservatoriums. Gerührt klatschen wir alle.
Dass wir in unseren Körperlichkeiten atmende, denkende Tiere sind, schließt den Kreis zur Antike. Ernst blickt sie ins Publikum, Ernsthaftigkeit schwingt in ihrer Stimme, wir Menschen hätten zu lernen, mit denen zu leben, die wir niemals vorher gekannt und niemals gewählt haben. Das sei die precariousness (und dem deutschen Leser soll die Vielfalt dieses Wortes nicht noch einmal vorenthalten bleiben: Unsicherheit; Unstabilität; Gefährlichkeit; Zweifelhaftigkeit; Unbewiesenheit; Unbegründetheit) des Anderen, der uns Selbst erst Sein lässt. Eine Ahnung solchen Umgangs müssten wir alle schon längst haben, denn wir üben diese Bewegung mit uns selbst unbewusst und seltener bewusst tagtäglich aus. Ein Zustand, der sich in den industriellen und informationellen Zeiten der totalen Selbstentfremdung noch verstärkt. An den anderen, wie an das Ich zugleich gebunden, jenen anderen Unbekannten, Ungewählten, der uns daran erinnert, dass wir uns selbst nie aussuchen konnten, dass wir nie wissen werden, wer wir sind, weil dies Wissen ein Werden ist und kein abgeschlossenes Sein, kein Zustand, sondern Dauer.
Folgen wir den ehrlichen Fußnoten, die Butler während ihres Vortrags macht, so steht sie in ihrer Lektüre auf den Schultern der Filiation Levinas< Heidegger< Husserl< Kierkegaard< Schlegel< Hegel. Mit ihrem Verweis auf den talmudische Denkbewegungen in Philosophie übersetzenden Emmanuel Levinas offenbart sich Judith Butlers auf Ethik ausgerichtete Philosophie. Wir hören sie aus der Akzeptanz unaufhebbarer Andersheit des Anderen heraus, die jede geschichtliche Totalität zersprengt und, noch deutlicher, sehen wir sie in Butlers Skizze des Antlitz einer Gegenwart, die Totalität der Medienrepräsentation und Totalität des Krieges kennt, aber keine Totalität von Göttlichkeit erfahrbar werden lässt. Butlers Anlehnung an Kierkegaard erneuert die Position radikalen Individualismus', die eine Abwehr des Spekulativen mit sich bringe (das Spekulative liegt jeder Logik des Krieges zugrunde, aberwitzige Hoffnungen: »Wenn der Feind besiegt ist, dann...«). Diese Haltung hebt existentielle Gegensätze im konkreten Individuum in einer »höheren Einheit« auf. Mit Kierkegaard zweifelt Butler zurecht aber auch an der Ausschließlichkeit der Selbstreflexion und erklärt das aktive Handeln auf der Stufe des Ethischen zum konkreten Ziel: die Wahl seiner Selbst ermöglicht die Freiheit. Wie Kierkegaard lehnt sie den Zwiespalt zwischen Endlichem und Unendlichem durch eine teleologische Lösung desselben in der Transzendenz zum Unendlichen hin ab. Die »Synthese« des Zwiespalts bleibt für sie ein Paradox, eine bleibende Aufgabe, des menschlichen Sich-Verhaltens zum Unendlichen, zu dem was außerhalb des Rahmens ist und sich dem Rahmen notwendig entzieht. Es ist ein Paradox, das sie der Bestimmung des Menschen zugrundelegt.
Judith Butler ist zu danken, dass sie, gleich der verstorbenen Susan Sontag, die Brücke des Denkens aus Amerika nach Europa schlägt. Eine erstaunliche Brücke, die um einiges stabiler und fester gebaut ist, als die vielen hochaktuellen, exklusiven und exzellenten Brücken jener Cooperations, die in den vielen kleinen Clusters der Universitäten Mitteleuropas verzweifelt gebaut werden. Es mag sein, dass es von Moral und Ethik her kommend leichter ist, Haus und Fundament westlichen Denkens zu betrachten, als von der kontinentalen Position aus wild nach Ethik zu suchen. Im Gegensatz zu Butler scheut man sich in der Mitte Europas oft angsterfüllt, das eigene Haus des Denkens und sein Fundament neu zu lesen.
Judith Butler hat in ihrem Vortrag bewiesen, eine strenge und treue Schülerin Hegels zu sein. Zweierlei aber stimmt nachdenklich: das Mantra des Vortrags beschwört die totale Abhängigkeit des Ich vom Anderen und die Hoffnung auf Erlösung aller im Jetzt, beides beruhend auf dem von Sterben und Krankheit bedingten Körper des Menschen. Wenn Butler erörtert, dass die Nicht-Allgemeinheit (noncommonalty) (oder meinte sie Nicht-Gemeinsamkeitsgrad (noncommunality)?, (à Fehler des Hörens, semantische Vielfalt, différance) des »Wir« als Gegensatz zu den »Anderen« die Basis von Verpflichtungen sein muss, wenn sie davon spricht, dass das Überleben durch ein soziales Netzwerk von Händen getragen ist, spüren wir die Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes. Betrauerbarkeit ist die Vorsaussetzung für Leben von Bedeutung (life that matters) - und es ist zentral, dass die englische Wendung »that matters« den Begriff »Materie« in sich trägt. Hier klafft der Riss zwischen kontinentaler und anglosaxonischer Hegel-Philosophie wohl am weitesten, da fügt sich die Grenze von Materialität und Bedeutung, von Signifikant und Signifikat in der unifizierenden Tendenz der englischen Sprache synthetisch zusammen, wo sie im Deutschen oder Französischen getrennt bleiben muss.
Ein Verdacht drängt sich leise voll Mitgefühl auf: Wessen Einsamkeit fragt man hier, gilt es noch zu betrauern? Vielleicht auch die der Autorin? Zählt es nicht, wenn ein Mensch die Fünfzig überschritten hat? Kann es sein, dass, auf dem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Karriere die arrivierte Philosophin jenen Augenblick gewahrt, den Roland Barthes als die »Mitte des Lebens« bezeichnete: das Gewahrwerden der eigenen Sterblichkeit; und Trauer verspürt? Roland Barthes schreibt: »Sterblich zu sein ist keine ‚natürliche' Empfindung (weshalb so viele Leute gegen einen Baum fahren, weil sie von ihrer Unsterblichkeit überzeugt sind)... Die Mitte meines Lebens ist nichts anderes als der Moment, in dem man entdeckt, dass der Tod wirklich ist.« Proust suchte daraufhin manisch die verlorene Zeit im Schreiben zu finden.
In der Massenunruhe vor Butlers Vortrag trat neben freudiger Lust an Aufruhr und Protest, an einem deutschen Saalverhalten mit Tradition, das die Nazis schon leider auszunutzen wussten, auch Positives zu Tage. Denn diese jungen Menschen sehnen sich danach, Butler zu verstehen. Und auch wenn sie im Rausgehen in Trauben leis' tuscheln, dass sie das »Guantanamo- und Abu-Ghraib-Gelaber« Butlers nicht »gerafft« hätten, waren sie alle da gewesen. Sie zeigten Anteilnahme, sie wollten verstehen. Dass sie Butler nicht mehr folgen konnten, liegt an der Bildung, die sie genossen haben und genießen, eine Bildung, die geisteswissenschaftliche Bewegungen der Hermeneutik in einem blindwütigen Reflex zugunsten empirizistischer Rationalität zerstört; einer törichten Technokratie, die den Quell kontinentaleuropäischer Kreativität tumb erstickt. Und Teil dieses Zerstörungs- und Gleichschaltungsprogramms war auch die Zurückweisung des Vorschlags der Philosophin, ihren Vortrag auf Deutsch zu halten. Hätte Butler unhöflich sein können, dann wären den Zuhörern vielleicht schneller Konsequenzen eines von Materialität und Konstruktion geprägten philosophischen Denkens in aktueller Politik klar geworden, ein Übersetzungsprozess wäre in Gang gekommen, und nicht zuletzt, sondern zuerst hätte eine konstruktive Diskussion die über- und überfüllte U1 für die nächste Stunde von Dahlem Dorf bis nach Friedrichshain, vom reichen Westen bis zum prekären Osten der Stadt Berlin bevölkert. Anne Dippel
 

Die amerikanische Philosophin Judith Butler hielt die diesjährige Hegel-Lecture am Dahlem Humanities Center (DHC) der Freien Universität Berlin.
Der Titel ihres Vortrags vom 3. Februar 2009 lautete: »Frames of War«.
Judith Butler ist Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California, Berkeley.

Der Essay als pdf-Datei

Aktuell:

Judith Butler
Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen
Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann und Martin Stempfhuber
Suhrkamp
Erschienen: 09.03.2009
414 Seiten, Gebunden
Euro 24,80 [D]/Euro 25,50 [A]/sFr 42.50
ISBN 978-3-518-58505-4

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