Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




Die menschliche Komödie
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mit 176 Seiten, die es in sich haben.

 

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Literatur

Ein poetischer Endzeitgesang

Austariert mit der Feinheit einer Apothekerwaage

Von Peter V. Brinkemper

Uwe Tellkamps »Der Turm« ist ein beeindruckender, fast tausend Seiten starker Roman aus jener einstmals anmutigen Elbmetropole aus der Zeit der späten und schließlich auseinander- oder besser einbrechenden DDR. Und doch wirkt das Buch weniger wie ein episches Großwerk, sondern wie ein Geflecht aus verhalten notierten, ineinander verwobenen Novellen. Ist das gleich ein Verfall, ein Untergang, eine Titanic-Geschichte, wie sie sich im Text motivisch andeutet, um wieder darüber hinweg zu gleiten? In der Tat wirkt nicht nur die Semper-Oper wie ein monumentaler Dampfer, eine Art Rolls Royce bei Hochwasser. Oder geht es eher um eine textuelle Transformation, eine genuine Mutation oder eine an der kunstvoll kräuselnden Oberfläche verbleibende Drift? Die Zeit und die Epoche als Fließprozess in einem mehr oder minder einbetonierten Elbkanal? Wenn die harten Komponenten des auseinander brechenden Tankers nach unten sinken und dort eingerostet überdauern, oder, weil weich, schwimmfähig oben bleiben und weitertreiben, auf einer chemieverschmutzten Elbe, die nun ein einig Vaterland durchfließt, von Tschechien bis Hamburg, werden sie heimgesucht und aufgesogen von den alten Speicherstadtkanälen im nordischen Geiste der Buddenbrooks oder von der soeben zerplatzten Spekulations-Kapitalismus-Blase? Der Westen, hat er sich nun knapp 20 Jahre später zu Ende gesiegt, nachdem der Osten zu Ende isoliert hatte? Es könnte ja sein, dass der Roman real-sozialistische Elemente, die ewige Mobilisierung der Subbotniks, und gutbürgerliche Kontemplations-Komponenten enthält, die auch im soeben zerfallenden, total deregulierten Globalkapitalismus oben auf treiben und mit bestimmten westdeutschen Havariestücken, wie der einer demokratischen Öffentlichkeit und einem markwirtschaftlich gezügelten Leistungsimperativ, oder den Tendenzen zu einem neuen elektronischen Überwachungsstaat mit ihrer Agenda-2010-Zweiklassen-Gesellschaft durchaus kompatibel wären, zumal das neue 5-Parteien-System sich immer noch nicht auf allen Ebenen politikfähig geschliffen hat.

Systemzeit und Privatzeit
Tellkamps Werk ist ein Roman der alten politischen Systemzeit und der darin eingebetteten privaten Zeit von Familien und Individuen, die im Kampf zwischen Klein- und Bildungsbürger (siehe die wunderbaren Tabelle S. 681) im Arbeiter- und Bauern-, Soldaten- und Stasi-Staat ihren eigenen, widerwilligen und nicht genehmigten Einschätzungshorizont schützen und pflegen, ein Werk des zerdehnten, immer wieder von der Trägheit der Ereignisse und der verlangsamten Wahrnehmung aufgehaltenen Übergangs. Man muss zumindest auch als Besucher, Freund oder Verwandter einmal in der noch existierenden DDR gewesen sein und mit den einfachen und studierten Menschen ein Stück Lebenszeit verbracht, um die Unglaublichkeit des Projektes einer bejahten Trennung und eines besseren linken deutschen Staates, des mauerbewehrten und schussgesicherten Bollwerks gegen den teuflischen Sog des Kapitalismus erlebt oder die späteren Treuhand-forcierten Abbrüche der Chemieanlagen in Bitterfeld, bestiegen zu haben, während sich Agfa Photo Leverkusen gegen ORWO noch im unsterblichen Vorteil glaubte. Eine Welt allgegenwärtig vor sich hinwuchernder Bürokratie, tagtäglicher Entbehrung und utopistisch gedrillten Klassenkampfbewusstseins, des ständig plakatierten, markierten und überwachten Hoheitsgebietes in volkseigener und brüderlicher Sache, der hochoffiziellen Räume, Sperrzonen, nach Außen und im Inneren, ein Kafkaeskes System der Kontrollen, Visa, Bewilligungen und Entziehungen, ein Labyrinth der Deadends und der verschwiegenen Schlupflöcher, der Fluchten und der Bespitzelungen, das Bewusstsein einer allgemeinen Schmuggelmentalität gegenüber allem und jedem: Materialien, Werten, Menschen, Posten und Positionen, sowohl der etablierten Funktionäre und Eliten wie der unterworfenen sozialen Schichten, die sich allesamt möglichst bedeckt halten, um ihr eigenes episches Theater auf möglichst vielen Treppen und Treppchen zu genießen, um neben ihrem offiziellen Ausweis und Auftritt ihr schattenhaftes Dasein kleinster, unerlaubter oder halbwegs hingenommener Freiheiten zu verfolgen, innerhalb des Systems so etwas wie einen individuellen Lebensstil oder ein Stück familialer und personaler Identität, und dies unter der Decke des verordneten Zwangs einer nivellierten Kollektiv-Gesellschaft, in der jeder einzelne dazu verdammt ist, an der Nivellierung aller mit voller planwirtschaftlicher Vehemenz zu arbeiten. Ein vornherein festgefahrenes, verkrustetes und erstarrtes System wie dieses verlangt die permanente implizite De-Reglementierung der Vorgaben und Zuweisungen, schnüffelt Hohlräume der Zuwiderhandlung aus, gerät auf Abwege, auf denen die Dynamik des Leichtsinns sich mit dem halboffenen Eingeständnisses der Absurdität paart. Uwe Tellkamp hat diesem Zustand ein plastisches, widerborstiges, recht eigentlich stacheliges poetisches Relief verliehen. Und er schwelgt mit allen Sinnen, um uns dieses Relief genüsslich auf dem Tablett einer merkwürdig kurz anmutenden Beschreibung und eines zugleich bei aller ausgemalten Stagnation schwungvoll epischen Doppel-Bogens zu bieten.

Die Logik des Chakamankabudibaba
Im minutiöser, öfters ärztlich-anatomischer Detailverliebtheit gelingt es Tellkamp den Alltag aus der Perspektive seiner Protagonisten als Einrichtung in Vierteln, Straßen, Gebäuden, Treppenhäusern und Wohnungen zu schildern, in den darin stattfindenden sozialen Ritualen, in den verhaltenen Demonstrationen der gesellschaftlichen Karriere von Ärztefamilien und in den politischen Gesprächen über die Ost-West-Beziehungen zwischen immer noch angespannter Verteidigungsbereitschaft und massivem Friedenswillen, zwei Monate nach dem Tod des großen Genossen Leonid Iljitsch, während
»das große Schiff Sozialismus ... führerlos dahin« treibt, trotz Andropow und Tschernenkow, und bereits deutlich finanziert von Milliardenkrediten aus dem Westen, wie etwa der Bayerischen Staatsbank. Eine recht tönerne Welt voller massiver Eterna- und Melodia-Schallplatten, alter klassischer und volkseigen-gedruckter Bücher, Fußballerbildchen, auch aus dem Westen, wasserfleckiger Wände, Wintergärten und Haustiere, die nach Chakamankabudibaba, dem Arzt aus Hauffs orientalischer Märchenwelt benannt werden, bevor es zum profanen Streit zwischen Alt- und Neumietern am Morgen nach dem Familienfest kommt. Eine ein Stück etablierte Sphäre der eingefrorenen Wartburgs und Skodas, die darauf warten, mit dem Föhn enteist zu werden, während neu zu druckende Literatur durch den Hermes-Lektor Meno Rohde routinemäßig beim Zensor Eschschloraque am symbolischen Flurende anzumelden ist, die als genussvoll getarnte literaturkritische Teestunde unter der Goethe-Büste und dem Stalin-Photo im Gedenken an »ein Klischee jenseits des Klischees«. Anberaumt wird die Selbstzensur und Neubearbeitung irgendeines Werkes, die vom gerügten und gedemütigten Autor höchstselbst zu vollstrecken sein wird. So viel vom Arbeitsbesuch im Funktionsnärsviertel Ostrom, einem in sich gestaffelten Sperrbezirk-Areal, das selbst bereits als eine Zone des Schweigens und der Verweigerung von authentischen Aussage- und Kommunikationsmöglichkeiten, als ein Steckspiel von verschachtelten Verpuppungen charakterisiert ist. Sogar noch der Vertreter der jüngsten Generation, Christian Hoffmann, ist im Bauplan des »Turms« zunächst eine Art epischer Funktionär, hat zwar eine seine unkonformistische Lesewut, aber auch einen nach Erfolgplan sortierten Lernwillen, der aus ihm einen Gefangenen macht, der seine Bewährung beweisen will. Erst in den Kontrasterfahrungen mit dem Wild-West-Twist in einer Tanzkneipe, mit seiner ersten Liebe und in der verachtungsvollen Ausbildung bei der NVA scheint in ihm eine Bewegung erzeugt zu werden, die dem ganzen Roman einen Handlungsantrieb verleiht, der den Teil 1, die Statik und Latenz der »Pädagogischen Provinz« in die dynamischere »Schwerkraft« der eskalierenden Auseinandersetzungen, Dialoge, Dispute und Briefwechsel von Teil 2 übergehen lässt: Militär, Medizin und Literatur beginnen im Herzrhythmus des Weltgeistes von letzter Verteidigung der Bastion und nervösem Alarm in der noch nicht erkannten Umbruchsphase zu schlagen, die dann zum abrupten »Mahlstrom«-Szenario des »Finales« des 9. Novembers 1989 führt.

Dekor versus Transformation
Natürlich gibt es Thomas-Mann-Motive und Anspielungen, so das Knasterarom in den Wohnungen der Turmstraße, Christians Tonio-Kröger-Reminiszenz. Aber ist der Erzählduktus als solches der des alten Thomas Mann, wenn auch leicht modernisiert? Ich sage nein, und meine dies hier nur konstativ: In
»Der Zauberberg« gibt es die »Fülle des Wohllauts«, die Expertise von wunderbaren Klangschönheiten auf Grammophonplatten. Daraus wird bei Tellkamp im 28. Kapitel »Schwarzgelb«: »- Kreisende Schallplatte, schrieb Meno, die Hände Niklas Tietzes bleiben noch Augenblicke über dem wippenden Wiegen der Platte stehen (und hörte die Spieluhr: Dresden .... in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern), es ist dunkel im Raum, nur das Punktlicht über dem Plattenteller brennt und wird von der drehenden Dünung zerstreut, versponnen und wieder zerstreut, wie wenn ein Männchen an einem Spinnrad säße und Stroh zu Gold spänne; Niklas führt die Nadel über den Plattenrand, noch verharrt sie, ein winziges, zum Zustoßen bereites Stilett, ein gleißendes Häkchen, das die Musik, wie ich als kleiner Junge mir vorstellte, am Kragen packen, sie, wie ich jetzt manchmal denke, aus der Rille schälen wird wie die Radiernadel eines Kupferstechers Haar-Linien aus der Metallplatte graviert; wandernde Schatten über den Fotografien an der Wand des Musikzimmer im Haus 'Abendstern', wo ich zu Besuch bin«. Dies allesamt sind im visuellen erstarrte Reminiszenzen aus einer musikseligen Vorkriegsepoche, die sich allmählich erst in der träumerisch imaginierten Brandung eines des »ersten, von fernher aufklingenden Ton des Orchesters aus dem Nachschatten des Musikzimmers« wie in einer dunklen Loge wiederbelebt. Die Musik verdichtet den Diskurs des Romans, sie erhebt ihn über die »Anspannung und Erstarrung« hinaus zu einem für kurze Zeit melancholisch-glücklichen Erlebnisschema, in dem die Turmstraßen-Bewohner die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der auditiven Vergangenheit verorten, nach der sie im »Schattenbild« der Gegenwart verlangen. Es ist schon bemerkenswert, wie Tellkamp das Vibrato, das Espressivo und die Artikulation der Musik im klangmateriellen Bereich belässt, eher »mit der Feinheit einer Apothekerwaage« im Geiste Fontanes austariert, ein wenig so wie bei den chladnischen Klangfiguren eines melancholisch spekulierenden Jonathan Leverkühn, ein etwas hilfloses Präludium, das mit der kommenden Musik in Thomas Manns »Doktor Faustus« und ihrer strengen Geistigkeit, sowie ihrem revolutionären Sprachimpetus nur von ferne kommuniziert, sie aber auf naive, unstudierte Weise vorwegnimmt. Tellkamps Ohr verschließt sich gegenüber dieser Dimension, er steckt den musikalischen Kopf, zwar voller Musik doch in den Sand der augenblicklich verstreichenden Zeit und verweigert in der pädagogischen Provinz die poetische Replik und Apotheose durch Symphonie und Gesang. Es bleibt beim demütigen Beuysianischen Fluxus der 80er Jahre, einer Einbettung der Musik in die antivibratorische Dämpfung von Filz und Fett jenes eingepökelten Daseins, das auf ganz andere Erschütterungen als die einer Kulturrevolution im Kleinbürgerlichen Arzt- und Musiksalon Niklas Tietzes wartet. Nicht nur »dieser Flügel«, wie Meno notiert, bei Tellkamp haben auch die bürgerliche Musik und die modernen, auch revolutionär-programmatische Kompositionen »Zahnschmerzen«, eine bis zur äußersten Entleerung ausgewalzte Tonlosigkeit in einer letzten verebbenden Geräuschspur, die das Dementi ihrer einstigen Sozial- und Klangutopie ist. »Die Schallplatte dreht sich wie eine Schiffschraube, der Dampfer Tannhäuser legt ab ...« Die schiefe Ebene von Menos Aufzeichnungen verkeilt Kultur und Alltag, Materialismus und Idealismus, Akustisches, Optisches, Olfaktorisches und Haptisches wie eine lose Ladung zu jenem »Emirat des Bohnerwachses und der Gummibäume«, in dem Metaphern und Symbole zu einem poetischen Endzeitgesang komprimiert und hochpoliert werden, welche die historische Entwertung des einstmals Dionysischen besiegelt. Es ist so, als ob die Bilder selbst lauter Subbotniks, ungedeckte Sonderschichten einlegten, um das abgewrackte Elbflorenz in seiner maroden Schönheit einer Riesenbrache mit Schlossruine ohne Meißner Porzellan und bar seiner riesigen Lichtkorallenriff-Lüster einzukreisen. Erst am Ende sagt die Schauspielerin Gudrun Tietze: »Wir treten aus unseren Rollen heraus.« Und ihr Mann Niklas fomuliert mit Beethoven: »In der Oper spielen sie Fidelio, und beim Gefangenenchor erheben sich die Menschen und singen mit.« Die Musik bleibt Dekor, wenn auch ein wichtiges, wo sie bei Thomas Mann eine geistige Essenz, ein zentraler Nervenstrang des Epischen seit Hanno  Buddenbrook, »Tonio Kröger« und »Tristan« ist, nämlich die verbale und transverbale Melodie, die nicht nur als Ornament und Emblem über dem hingenommenen Fluss der Vergänglichkeit schwebt, wie bei Tellkamp, sondern als labyrinthisches Verweisungssystem für eine souveräne Form der Erinnerung und Transformation von Geschichte und ihrem Potential jenseits des kruden Faktischen steht, auch dort wo sie im Ausgang von der Wagnerschen Dekadenz schließlich in der seriell auskomponierten Faustischen »Weheklag« eines allgegenwärtigen Echos endet. Peter V. Brinkemper
 







Uwe Tellkamp
Der Turm

Geschichte aus einem versunkenen Land
Roman
Suhrkamp Verlag
976 Seiten, Gebunden
Euro 24,80
ISBN 978-3-518-42020-1

Gespräch mit Uwe Tellkamp

Lesung von Uwe Tellkamp aus »Der Turm«

 


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