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Der Gigant

Wie ein Koloß auf drei Säulen ragt Peter Weiss' Roman-Essay
»Ästhetik des Widerstands« aus der deutschen Literatur.
Eine monumentale Arbeit an den Zügen des Menschlichen,
die es für die Generationen der Nachgeborenen neu zu entdecken gilt.

Von Herbert Debes


 

Lichtjahre entfernt sind wir im gesellschaftspolitischen Diskurs heute von jener Ernsthaftigkeit, mit der Peter Weiss seinen jungen, namenlosen Arbeiter zu Füßen des Pergamonaltares nach Möglichkeiten eines richtigen Handelns im Widerstand gegen die nationalsozialistische Schreckensherrschaft suchen läßt.

»Die Ästhetik des Widerstands« ist ein Panoramabild der europäischen Arbeiterklasse zwischen 1917 und 1945, eine Konfrontation der Linken mit ihren Parteien, Flügeln und Fraktionen. Sozialdemokraten und Kommunisten, Stalinisten und Trotzkisten, die sich in ihren Auseinandersetzungen um eine gültige Haltung und erfolgversprechende Strategien im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus, gegen alle Vernunft, scheinbar unversöhnlich selbst zerfleischten, während die Tyranei in Europa unaufhaltsam marschierte.

Es wäre aber keine Ästhetik des Widerstands geworden, hätte sich Weiss allein auf die Geschichte der Arbeiterklasse und ihre inneren Kämpfen beschränkt. Gleichgewichtet stellt er dem Leser eine Geschichte der Kunst daneben. Mittels beispielloser Werkbeschreibungen eben des Pergamonaltars, Gericaults »Floß der Medusa«, Picassos »Guernica« u.a. diskutiert Weiss die Möglichkeiten und Kräfte, die durch eine Auseinandersetzung mit Kunst im revolutionären Prozess freigesetzt werden können. Das erweitert seinen »Roman« zu einem brillanten Essay über den Anteil der Kunst an der Bewußtwerdung des Revolutionärs, als ein sinnliches Mittel, »die Starre der politischen Institutionen aufzulösen und uns an die Vielfalt unserer Wahrnehmungen zu erinnern«.

Das Universum um den revolutionären Denker herum, die Welt der vielen Gestalten, die ständigen Widersprüche, die Feindseligkeiten, das ist die Welt, die in der »Ästhetik des Widerstands« zur Sprache kommt.

Peter Weiss wollte herausfinden, wie es für einen Menschen ist, der tatsächlich in diesem Kampf steht und nicht nur als Reflektierender. Die eigenen Erfahrungen zu verrücken in die Position des direkt Teilnehmenden. Das ständige Gewühl der Kräfte, die um eine Befreiung ringen. Die Erfahrungen des Erzählers von heute umgesetzt in die Erfahrungen des damals Suchenden. Dabei spiegeln sich in der Editionsgeschichte dieses Monumentalwerks auf geradezu tragische Weise eben jene ideologischen Kämpfe um eine gültige Fassung.

Denn die beiden Ausgaben des Suhrkamp Verlags (BRD) ab 1975 und die des Henschel Verlags (DDR) 1983 weichen im Text vor allem im dritten Teil, der sich eingehend mit den Widerstand der »Roten Kapelle« befaßt, beträchtlich voneinander ab. Darüber ist Peter Weiss schier verzweifelt und resignierte am Ende vor den Grabenkämpfen der Verlage. Der Philologe Jürgen Schutte hat nun endlich eine »definitive« Fassung erarbeitet, die den Text nach den Vorgaben von Peter Weiss präsentieren soll.

»Die Ästhetik des Widerstands« ist keine Lektüre, die es ihren LeserInnen leicht macht. Das Buch zu lesen ist Arbeit, eine Arbeit an den Zügen des Menschlichen, die sich lohnt. Über den Bildungszuwachs, den das Lesen garantiert, vergegenwärtigt es uns auch, auf welch fragilem Fundament unsere in vielerlei Hinsicht narzistische Vergnügungsgesellschaft heute ruht ...

Artikel online seit 31.10.16
 

Peter Weiss
Ästhetik des Widerstands
Gebunden
1200 Seiten
38,00 €
978-3-518-42551-0

Leseprobe

 

 


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