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Eine befreiende Lektüre

Christoph Menkes Entwurf einer »Theorie der Befreiung« bürstet
althergebrachte Denktraditionen gegen den Strich und bricht
mit sämtlichen Traditionen des Freiheitsbegriffes.


Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

I
Die Geschichte der Moderne – eine Serie gescheiteter Befreiungen, hat sie doch nur neue Zwänge und Abhängigkeiten hervorgebracht. So lautet die Ausgangsthese von Christoph Menkes umfassendem philosophischen Essay Theorie der Befreiung, der doch nicht weniger als eine Philosophie der Freiheit ist. Alle Befreiungsversuche, so ergänzt Menke seine These, hätten sich am Ende in Paradoxien und Widersprüche verfangen und neue Herrschaftsformen hervorgebracht.

Das Buch will nun einerseits verstehen, auf welche Art und Weise versucht wurde, sich zu befreien und warum die Befreiung stets gescheitert ist. Diesen Widerspruch aller Befreiungen aufgreifend, fragt Menke andererseits danach, ob es Alternativen zu diesem Scheitern gibt und wie diese aussehen könnten.

Grundlegende Voraussetzung, Freiheit/Befreiung anders zu denken, ist die Einsicht, dass Befreiung stets ein dialektischer Prozess ist: »Die Befreiung kämpft immer einen doppelten Kampf: Sie kämpft gegen die Herrschaft und zugleich kämpft sie mit und gegen sich selbst. In der Theorie der Befreiung geht es um den Kampf, den die Befreiung gegen sich selbst führen muss, wenn sie die Herrschaft bekämpfen will.«

II
Theorie der Befreiung bedeutet jedoch nicht, den Kampf aus der Perspektive des teilnahmslosen Beobachters zu deuten; Menkes Theorie treibt den Kampf stattdessen radikal voran und formuliert in diesem Kontext eine Ästhetik der Befreiung, die ihr Sujet in der Erfahrung verortet. Denn der Mensch befreie sich keineswegs selbst, er werde vielmehr dann befreit, wenn er Erfahrungen mache. Neben den Erfahrungen der Unfreiheit und der Knechtschaft ist dies insbesondere die Erfahrung der Faszination. Faszination sei der Beginn einer jeden Befreiung: Ein Zusammenstoß mit dem, was wir nicht bestimmen können, das uns aber in seiner Präsenz in den Bann zieht, eine Erschütterung unseres Daseins.

Der deutsche Philosoph Wilhelm Kamlah (1905-1976) würde wohl vom Widerfahrnis sprechen, eine Art Unverfügbarkeit, die wir erfahren und die die menschlichen Fähigkeiten strapaziert. Da sich von Erfahrungen nur erzählen ließe, müsse die Theorie der radikalen Befreiung von Erzählungen ausgehen, so Menke weiter, der diesen Gedanken in den für ihn entscheidenden und historisch wirksamen Faktoren der Befreiungsgeschichte des Menschen nachverfolgt: Der Ökonomie und der monotheistischen Religion. Die gegenwärtigen Formen der Knechtschaft seien paradoxerweise »die Effekte von Versuchen radikaler Befreiung« dieser beiden Modelle.

III
Vom Unerzählbaren zu erzählen – das ist das Herzstück einer Ästhetik der Befreiung.
Vom ökonomischen Modell der Befreiung erzählt im Buch die erfolgreiche Kult-Serie Breaking Bad um den todkranken Chemielehrer Walter White (»Heisenberg«), vom religiösen Modell der Befreiung erzählt sodann die biblische Geschichte in Exodus, die unter Bezugnahme auf die beiden jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1905-1995) und Franz Rosenzweig (18886-1929) gelesen wird.

Diese beiden Erzählungen will das Buch zusammendenken und für eine Theorie radikaler Befreiung fruchtbar machen. Zu diesem Zweck deutet Menke die Ökonomie als radikalen Naturalismus, die Religion als den Exzess des Normativen – weil Gottes Gebot als ein Urgebot in seiner Struktur ungesetzlich und erst somit sowohl unbedingt verpflichtend als auch befreiend sei, denn hier komme das Gebot der Befreiung von außen und überfordere das Selbst gewissermaßen: »Aber diese Überforderung des Gebots ist nicht, wie die Religionskritik der Aufklärung meinte, repressiv, sondern produktiv, weil transformativ: Das verinnerlichte Hören des Gebots schafft neue Existenz; eine Existenz, die die unendliche Differenz des Selbst vom Selbst im Selbst bejaht; also eine Existenz, die diese Differenz ist.«

IV
Es wird schnell klar, dass Menke die antike Idee der Freiheit, die im Begriff der
λευθερία zum Ausdruck kommt, sich nämlich der eigenen Freiheit bewusst zu werden und sich sodann in diesem Bewusstsein der Unfreiheit entgegenzustellen, nur für die halbe Wahrheit hält. Denn ein solcher Freiheitsbegriff, wirkmächtig von Platon bis Hegel, vergesse schlichtweg die Erfahrung, etwa jene, die die Israeliten in der Wüste machen: Sie sind »Knechte aus Gewohnheit«. Die antike Idee der Freiheit/Befreiung habe jener Erfahrung einer Knechtschaft aus Gewohnheit nichts entgegenzusetzen, ja »die griechisch-praktische Definition der Freiheit schließt es aus, die Gewohnheit überhaupt als Knechtschaft zu erfahren.«

Wahre Befreiung ereigne sich hingegen nur »in der Erfahrung des Unerwarteten«, die »die Gewohnheit durchbricht.« Freiheit/Befreiung gleicht insofern einem Wunder, das nicht vorhersehbar ist, weil es spontan geschieht. Sie ist kein Vermögen, sondern eine »Wirkung, die wir in der Erfahrung erleiden«, ein Widerfahrnis, das einen Neuanfang beschreibt. Die Befreiung muss jedoch über diesen Anfang hinausgehen und die Unfreiheit negieren und zugleich muss sie »die Erfahrung der Befreiung bejahen, und die Befreiung zu bejahen heißt, sie zu denken. Die Befreiung zu denken verlangt jedoch, sich an die Faszination der Erfahrung zu erinnern: Das Denken erinnert sich daran, dass und wie es aus der Erfahrung geworden ist.«

Das ist das eigentlich radikale Moment des Denkens, in dem die Befreiung die Art und Weise verändert, »wie wir Bestimmungen vornehmen: wie wir wahrnehmen, empfinden, wünschen, wollen, dass etwas, eingeschlossen wir selbst, ist (oder sein soll).«

Es gilt, die Subjekte daran zu erinnern, was sie bereits erfahren haben und »wann, wie und worin« sie sich schon befreit haben. Freiheit bedeutet letztlich: Identität mit sich. Nur in diesem Sinne sei auch Erziehung befreiend. Mit Nietzsche gesprochen: »Deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier.«

V
Menke legt mit seiner Theorie der Befreiung ein hochanspruchsvolles, im besten Sinne philosophisches Buch vor, das althergebrachte Denktraditionen gegen den Strich bürstet und mit sämtlichen Traditionen des Freiheitsbegriffes bricht. So etwas liest man nicht mehr allzu oft, und die Bedeutung dieses Entwurfs lässt sich vielleicht nur erahnen. Ob die Theorie der Befreiung am Ende nun tatsächlich zeigen kann, dass Befreiung nicht zwangsläufig scheitern muss, wird jeder, der das Buch liest, selbst beantworten müssen. Auf mich jedenfalls hat die mitunter schwindelerregende Lektüre sehr befreiend gewirkt.



Artikel online seit 27.01.23
 

Christoph Menke
Theorie der Befreiung
Suhrkamp
720 Seiten
36,00 €
978-3-518-58792-8
Leseprobe & Infos
 

 

 


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