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»Ein
Teil von etwas viel Größerem« |
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Chiles 2022 verstorbener Linksaußen Leonel Sánchez brach dem Italiener Mario David in einem äußerst brutalen WM-Spiel 1962 das Nasenbein durch einen gezielten Fausthieb, der ohne persönliche Strafe für den Spielmacher von Universidad de Chile blieb. Im Viertelfinale des Turniers traf Sánchez dann gegen die UDSSR. Als Javier Cáceres im Jahr 2005 Sánchez in Chile traf und gemeinsam mit ihm einige Drinks zu sich genommen hatte, erzählte Sanchez ihm von diesem Tor. Doch Cáceres konnte sich kein Bild machen und bat Sánchez, es so zu zeichnen, wie er es in Erinnerung hatte. Die an diesem Abend eher durch Zufall entstandene Zeichnung sieht der Riesenschlange aus dem »Kleinen Prinzen«, die einen Elefanten verschlungen hat, zum Verwechseln ähnlich. Sie bildet den Ausgangspunkt für die vielen anderen Zeichnungen von Fußball-Stars, die Cáceres ihr Lieblingstor zeichnen und dazu einen kurzen Kommentar abgeben lässt. Die Sammlung ist wundervoll und voller Überraschungen. So entspringt zum Beispiel das Bild des Ex-Bremers Ailton der Schule des abstrakten Expressionismus im Stile Cy Twomblys. Argentiniens Nationalspieler Jorge Carrascosas beeindruckt mit Figuren à la A.R. Penck, und Brasiliens Weltmeister José Altafini hat gewiss die Kaltnadelradierungen von WOLS studiert. Der Spanier Luisito Suárez, der im vergangenen Jahr verstarb, findet nicht etwa bei Picasso seine Inspiration, sondern in alten japanischen Tuschezeichnungen. Es gibt aber auch Ballkünstler, die nicht wissen, wie man einen Zeichenstift hält. Unangefochten an der Spitze dieser genialen Dilettanten steht Frankreichs Stürmer Juste Fontaine (†2023), dessen Zeichnung von seinem dreijährigen Ich stammen könnte. Auch Gerd Müller, der bei Wilko Hänsch oder Joan Miro in die Lehre gegangen zu sein scheint – ohne sichtbaren Erfolg –, lässt jegliches künstlerische Talent auf dem Papier vermissen. Und dann ist da noch Alfredo Di Stéfano, argentinischer wie spanischer Nationalspieler, dessen Torzeichnung eher aussieht wie ein Raketenstart oder ein erigierter Penis – je nachdem, in welcher Gefühlslage man sich gerade befindet. Bei Afrikas Jahrhundertfußballer George Weah hingegen bricht alles in sich zusammen, insbesondere die gegnerische Torlatte – als wollte er damit die Wucht und Intensität seines Schusses unterstreichen. Die Zeichnungen sind durchweg signiert. Es gibt Unterschriften, die sich – ästhetisch betrachtet – von den Zeichnungen abheben: Dungas anmutige Signatur ist hierbei hervorzuheben. Sie wirkt auf mich, als hätte Cáceres ihn gebeten, sein EKG ebenfalls aufzuzeichnen. Auch Puyols Unterschrift ist so gelungen, dass man das restliche Gekritzel einfach ignorieren kann. Das Cover des Buches ist im Übrigen das Relikt einer Zeichnung von Pelé, der weitaus mehr Talent beim Zeichnen zeigt als die zuvor Genannten. Er ist eben in jedem Sinne außergewöhnlich, unvergleichlich, einzigartig (portugiesisch: »pelé«). Ein Künstler gleichen Ranges ist Michel Platini, der ein leeres Blatt abgibt, weil sein Lieblingstor vom Schiedsrichter, einem Deutschen, nicht anerkannt wurde. Wer sich hier an Marcel Duchamp, John Cage oder – meinetwegen – auch an Jens Haaning erinnert fühlt, hat verstanden. Franz Beckenbauer, der zunächst gar nichts zeichnen wollte, griff später doch noch zum Stift und präsentiert in diesem Buch Ball und Elfmeterpunkt als eineiige Zwillinge. Günter Netzer hingegen hat ganz bestimmt nie etwas gezeichnet, weshalb das Bild vermutlich nicht von ihm stammt. Er hätte das berühmte Tor nach seiner Selbsteinwechslung im Pokalspiel gegen den 1. FC Köln ja auch nie schießen dürfen. Tore wie dieses kennt jeder. Es finden sich einige bekannte Traumtore im Buch. Die meisten Zeichnungen weisen tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit zum realen Geschehen auf. Vom Tor aller Tore, Götzes Ding aus dem WM-Finale 2014, finden sich im Netz allerdings detailliertere Skizzen.
Da sind zudem die Texte der Spieler zu ihren Toren. Unter ihnen der Philosoph
Felix Magath, der den weisen Satz sagt: »Ein Tor ist in einem Spiel nur ein Teil
von etwas viel Größerem.« Faszinierend ist daneben der Text von Jimmy Hartwig, der über sich in der dritten Person spricht. Man nennt das Illeismus, und es soll helfen, Stress abzubauen. Der Poet Hartwig: »Hier stand einer, hier stand einer, hier stand einer, hier stand einer. Hier stand Jimmy.« Von Osvaldo Soriano, dem argentinischen Schriftsteller, Literatur- und Filmkritiker, gibt es im Buch keine Zeichnung (obwohl er auch Fußballer war), aber ein sehr schönes Zitat: »Der Weg zu einem Tor ist eine Form der Erkenntnis; eine Art, uns selbst und die anderen anzuschauen.« Großartig! Zu erwähnen ist da noch Juan Pablo Sorín und sein leidenschaftliches Plädoyer für eine Besserstellung des Frauenfußballs. Die einzige Frau im Buch ist die deutsche Weltmeisterin und Ex-Spielerin vom FFC Frankfurt, Nia Künzer. Immerhin.
Leider findet sich weder eine Zeichnung von Lukas Podolski noch eine jenes
Tores, das Bruno Labbadia gelang, als er 1991 gegen Bayer Leverkusen nach einer
Doppelschwalbe im Dress des 1. FC Kaiserslautern traf.
Worauf ich gar nicht warten kann, ist das Jahrhunderttor von Klaus Fischer, 16.
November 1977, Deutschland gegen die Schweiz in Stuttgart, Flanke Rüdiger »Abi«
Abramczik, Fallrückzieher Fischer. Ein Tor wie gemalt. Also nehme ich kurzerhand
den Stift selbst in die Hand und male das Tor auf eine leere Seite im Buch … |
Javier Cáceres
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