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Gefangene ihres Schicksals
In Abdulrazak Gurnahs Roman
»Das
versteinerte Herz«
Von Lothar Struck |
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Vor zwei Jahren publizierte der Penguin Verlag mit Nachleben den vorläufig letzten Roman des britisch-sansibarischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah. Mit Das versteinerte Herz folgt jetzt der vorletzte Roman von 2017. Beide wurden von Eva Bonné übersetzt. Das versteinerte Herz spannt einen Bogen des Ich-Erzähler Salim, um 1973 herum geboren (das errechnet man sich aus dem Erzählten) bis zum Jahr 2005. Salim wächst in Sansibar mit seinen Eltern auf. Die Mutter Saida arbeitet in einer norwegischen Organisation, der Vater Masud in der Wasserbehörde. Beide wurden Anfang der 1950er Jahre geboren. Zu Beginn erfährt man als Überlieferungserzählung von der durch politische Umtriebe geprägten Kindheit Saidas. Als sie 14 Jahre alt war, kam es zu einer blutigen Revolution auf Sansibar und insbesondere Asiaten und arabisch-sprechende Menschen wurden verfolgt, inhaftiert und ermordet. Saidas Vater, ein gebildeter und weit gereister Mann, der in den 1960ern einer "einem losen Zirkel aus anti-kolonialen Intellektuellen" angehörte, unterstützte die falsche Partei und wurde schließlich "abgeholt". Die Familie wird ihn nie mehr wiedersehen; später liest man, dass Saida die Namen und Gesichter der Mörder kannte, aber es gab nie eine Strafverfolgung. Viele flohen damals ins Ausland, nach Dubai beispielsweise, wie auch Masuds Vater, ein angesehener Lehrer und frommer und zugleich lebensfroher Muslim, den Salim nur von einem zur Ikone gewordenen Foto in der Schule kannte. Masuds Mutter und Geschwister gingen ebenfalls nach Dubai; er war der einzige aus der Familie, der blieb, was nicht zuletzt mit Saida zu tun hatte, in die er sich früh verliebte. Früh wird klar, dass hier nicht nur die Geschichte einer Familie erzählt wird, sondern Gurnah wie so häufig die politischen und historischen Ereignisse des vom Kolonialismus freien Sansibar und Tansania und ihre Auswirkungen auf die Menschen gespiegelt werden. Das Land wurde zum Spielball rivalisierender ethnisch-nationalistischer Protagonisten, die zum Teil von den Briten ausgebildet wurden. Nicht nur einmal bricht blitzt ein verzweifelt-trüber Sarkasmus hervor, der die Intention dieser Herrscher paraphrasiert, etwa wenn es um Demokratie geht: "Den Querulanten mangelte es einfach an Verständnis für die Komplexität der afrikanischen Kulturen: Afrikanische Bürger bevorzugten nun mal den Einparteienstaat mit einem starken Mann an der Spitze." Daraus folgert: "Die grenzenlose Strenge unserer Herrscher hatte uns zu Feiglingen gemacht." Saida und Masud versuchen trotz dieser widrigen Umstände ihren Alltag einzurichten. Die Verhältnisse sind bescheiden, aber nicht arm. Mit ihnen zusammen wohnt Saidas Bruder, Onkel Amir, vier Jahre jünger als die Mutter. Er ist quirlig, immer freundlich, "ein gut aussehender, charmanter, weltgewandter junger Mann, der von sich selbst die allerbeste Meinung hatte". Salim himmelte ihn an, vor allem nach dem Ereignis, dass die Familie für immer prägen wird. Als der Junge sieben Jahre alt war kam der Vater plötzlich nicht mehr nach Hause, war ausgezogen. Die Mutter kochte ihm nur noch das Essen und brachte es zu seiner neuen Unterkunft, einem Laden, in dem er zur Untermiete wohnte. Die Gründe für den Auszug sagte man Salim nicht. Der hatte nun ausschließlich Amir als männliche Bezugsperson, war begeistert von ihm, der in einer Rockband sang und schließlich nach mehreren Jobs in einem Touristenhotel angestellt wurde. Die Erinnerung an den Vater, die schönen Augenblicke, verblassten immer mehr und auch wenn ab dem Alter von elf Jahren Salim dem Vater das Essen brachte, sank dieser im Ansehen des Sohnes immer mehr. Er sah in ihm "nichts als Leere und Resignation", schien als gebrochener Mann. Immerhin tauschte man Bücherkisten aus; Salim versenkte sich in Romane und Detektivgeschichten. Als er einmal die Mutter wegen des Auszugs ansprach, erhielt er eine ausweichende Antwort: "Es ist zu furchtbar. Ich habe ihm großes Leid zugefügt, und nun macht er eine Religion daraus." Amir reiste unterdessen in die westliche Welt, heiratete die Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten und wurde in den diplomatischen Dienst nach London berufen. Währenddessen erfuhr Salim von einem neuen Mann in Saidas Leben, Hakim, ein "hohes Tier" in einem Ministerium, hier und da im Fernsehen zu sehen. Salim vermied jeden Kontakt mit ihm. Hakim besorgte seiner Geliebten eine neue Wohnung, einen Farbfernseher und andere Annehmlichkeiten. Die Mutter lehnte jedoch sein Angebot Zweitfrau zu werden ab, weil sie sich nicht scheiden lassen möchte. Schließlich wurde ihnen eine Tochter geboren, Munira. Amir überredete Saida, dass Salim seine weitere Ausbildung in London erhalten sollte. Die Hochachtung vor dem Onkel war ein bisschen einer Skepsis gewichen, die sich in London, in einer vollkommen fremden Welt, noch verstärkte. Er stand nun fast unter Kuratel von Amir und seiner Frau Asha (sie hatten selber zwei Kinder). Sie bestimmten, dass er Betriebswirtschaft studieren sollte – er favorisierte das Literaturstudium, was er aber aus Respekt und Gehorsam verschwieg. In den Ferien sollte er Geld hinzuverdienen. Das Vorstudium fiel im schwer, Salim interessierte sich nicht für Ökonomie und teilte schließlich dem Onkel mit, dass er die Prüfungen nicht ablegen und das Studium nicht antreten würde. Amir beschimpft ihn als undankbar, warf ihn aus dem Haus und nun schlug sich Salim alleine durch die große Stadt, den stinkenden und kalten Moloch, hielt sich mit Jobs über Wasser und schrieb sich für Literaturwissenschaften ein. Den brieflichen Kontakt zur Mutter ließ er nach der anfänglichen Euphorie schleifen; manchmal konservierte er seine Gedanken in ein Ringbuch, ohne sie abzuschicken. Immerhin erfuhr er, dass der Vater zu seinem Vater nach Kuala Lumpur ausgewandert war. In der Universität fand er sich am Rand des Betriebs wieder, hatte kaum Selbstbewusstsein und wunderte sich über seine (weißen) Kommilitonen, die sich "leidenschaftlich … für mehr Gerechtigkeit" und "die Befreiungstheologie in Südamerika, pädophile Netzwerke in Südasien, die Verfolgung der Roma in Mitteleuropa, Schwulenrechte in der Karibik, der Krieg in Tschetschenien, Tierrechte, Genitalverstümmelung, die NATO in Bosnien, die Ozonschicht, Wiedergutmachung der kolonialen Plünderungen" interessierten. Aber er glaubte ihnen nicht und konstatierte nüchtern: "Sie selbst hatten Glück gehabt, und nun spürten sie den Wunsch, auch noch das Unglück der anderen zu besitzen." Gurnah erzählt nun jeden Wohnungswechsel Salims nebst Umfeld und Mitbewohner (allesamt Migranten wie er). Deutlich wird, dass er von Komplexen und einem latenten Skeptizismus geprägt war. Selbst das Diplom konnte ihn nicht aufheitern. Er zog weg aus London, nach Brighton, kam zurück, fand eine Stellung in der Stadtverwaltung von Lambeth. Mit Literaturwissenschaft hatte das nichts mehr zu tun, aber er blieb ein Leser. Aus diesem eher schwachen, deskriptiven Mittelteil ragt die Geschichte der großen Liebe zu Billie heraus. Er lernte sie während einer Theateraufführung kennen, man freundete sich an, schließlich begann eine Liebschaft; seine erste (vielleicht letzte?). Billie war die Tochter eines indischen Kaufmanns, der aus kleinen Verhältnissen zu bescheidenem Wohlstand gekommen war. Sie lebte bei ihrer verwitweten Mutter, zog nach einiger Zeit zu Salim, aber das Glück hielt nur kurz. Die Familie intervenierte, die Wahl der Tochter war nicht passend, die labile Mutter drohte mit Selbstmord, informierte die Brüder, die die Sache entsprechend regelte. "Ein Nigger ist ein Nigger, egal, wie nett er ist", so das niederschmetternde Urteil der Brüder, das Billie ihm mitteilte. Sie fügte sich, brach den Kontakt ab. Salim war am Boden zerstört. Nie hatte sich Rassismus ihm gegenüber deutlicher gezeigt. Salim vereinsamte, flüchtete sich in kurze Affären mit Frauen. "Inzwischen fühle ich mich hier fremder denn je. Ich hasse es, aber ich bleibe trotzdem", schreibt er seiner Mutter (oder auch nur in den Ringblock). Fast widersinnig, dass er seine Wohnung in Putney (bei London) dann unter hohen Schulden kaufte. Silvester 2004 starb seine Mutter mit 53 Jahren an einer Embolie. Salim erfuhr es Tage später durch einen Anruf des Onkels, der nach Rom nun Botschafter in Delhi war und seinen Neffen wieder einmal mit Vorwürfen konfrontierte. Die Beerdigung hatte bereits stattgefunden. Als er durch Munira erfuhr, dass nun auch sein Vater wieder zurückgekommen war, beschloss er, nach Sansibar zu fliegen. Nach vielen Jahren traf er den immer noch grüblerischen Vater, der mit ihm zwei Nächten durch die wohlbekannte und wohlriechende Stadt streifte und die Geschichte von Saida und ihm erzählte, und endlich erfährt der Leser, was er nur ahnte: Wie das damals war mit dem Onkel, der wegen der Vergewaltigung einer Minderjährigen ins Gefängnis kam und wie er von Saida befreit wurde, weil sie sich Hakim hingegeben hatte. Diese Schande konnte der Vater nicht ertragen. Salim erinnerte an Maß für Maß, eine Shakespeare-Komödie mit ähnlicher Thematik, nur dass es dort keinen Masud gibt, der das Geschehen zur Tragödie werden lässt. Salim bemerkte "Bitterkeit und Erschöpfung" bis hin zu Fatalismus in den Reden des Vaters, ein ständiges Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber anderen. Es wird sich nie ändern, wie er an Yusuf sah, einem Schulfreund, dessen Vater unter der neuen Regierung Karriere gemacht hatte: "Die Kinder der Mächtigen werden darauf vorbereitet, selbst irgendwann die Macht zu übernehmen. So halten es die meisten Familien, und sei es nur, um auch in Zukunft weiter plündern zu können. So ist das eben." Und dennoch erzeugt das Erzählen des Vaters in den zwei Nächten eine reinigende, friedliche und versöhnliche Stimmung. Hier endlich zeigt sich Gurnahs literarische Stärke und so erlöst das Erzählen - die Narben verheilen, verschwinden werden sie nicht. Salim bekennt seine innere Zerrissenheit, weiß nicht, ob er bleiben oder "in ein Leben zurückkehren soll, das mich aufzehrt." Egal, wie er sich entscheidet – es wird falsch sein.
Im Gegensatz zum Meisterwerk Die Abtrünnigen erscheinen die Figuren in
Das versteinerte Herz eher statisch, wirken determiniert, fast wie Gefangene
ihres Schicksals. Saidas Handeln, das nur aus dem Trauma um die Ermordung ihres
Vaters verständlich ist, wird recht einseitig aus der Perspektive des gehörnten
Ehemanns erzählt, der Schande empfindet. Amir, der Protagonist mit dem
versteinerten Herzen und der nicht näher ausgeführten Diplomatenkarriere, bleibt
undurchsichtig statt geheimnisvoll. Salims Zerrissenheit zwischen Sansibar und
Putney wird mehr behauptet als erzählt. Trotzdem oder gerade deswegen hätte man
gerne gelesen, wie es mit Salim weitergeht. |
Abdulrazak Gurnah
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